Jörg Münchenberg: SPD und Union streiten nicht nur; nein, sie liefern auch in den Koalitionsgesprächen. Beispiel Pflege. Da haben sich jetzt beide Seiten gestern auf ein sogenanntes Sofortprogramm verständigt. 8000 zusätzliche Pflegekräfte soll es geben. Außerdem wollen Union und SPD zusammen mit den Tarifpartnern dafür sorgen, dass Tarife in der Pflege jetzt flächendeckend zur Anwendung kommen.
Bei den zuständigen Verbänden löste die Einigung trotzdem viel Kritik aus. Völlig unzureichend - das war dann noch die freundlichste Umschreibung.
Am Telefon ist nun die Wohlfahrtsforscherin und Politologin Cornelia Heintze. Frau Heintze, einen schönen guten Morgen.
Cornelia Heintze: Guten Morgen.
Münchenberg: Wie fällt denn Ihr Urteil aus über das, was SPD und Union im Bereich Pflege vorhaben? Ähnlich düster wie das Urteil der meisten Pflegeverbände?
"Haben eine der schlechtesten Situationen im internationalen Vergleich"
Heintze: Ja, eindeutig. Bezogen auf den Notstand, mit dem wir es zu tun haben, ist das fast nichts. Und das kann ich den Hörern und Hörerinnen auch erläutern. Wir haben es in Deutschland, was die Personalausstattung angeht, wenn wir nun diese 8.000 Stellen nehmen, die zusätzlich geschaffen werden sollen in der medizinischen Behandlungspflege, wir haben es, was die Personalausstattung angeht, mit einer der schlechtesten Situationen zu tun im internationalen Vergleich. Das gilt für den Klinikbereich und es gilt noch mehr für den Altenheimbereich.
8.000 Stellen - wenn wir sehen, wir haben 13.600 Heime. Dazu kommen dann noch mal über 13.000 ambulante Pflegedienste. Und das bedeutet dann in der Praxis, dass pro Einrichtung im Durchschnitt noch nicht einmal 0,6 Stellen geschaffen werden. Das geht vollkommen am Bedarf vorbei.
Münchenberg: Würden Sie denn sagen, Frau Heintze, das verpufft vollkommen, was Union und SPD da vorhaben?
Heintze: Ja! - Ja! - Ja, das ist weiße Salbe. Das ist noch nicht einmal der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Und die Politik geht vollkommen daran vorbei, dass die Personalausstattung in Deutschland so schlecht ist, dass das, was in den Gesetzen niedergelegt ist, nämlich dass die Pflege den fachwissenschaftlichen Standards entsprechen soll, dass das in der Praxis in den allermeisten Heimen, es gibt immer Ausnahmen, aber in den allermeisten Heimen kann das gar nicht umgesetzt werden. Das heißt, die Politik formuliert Ziele, setzt aber die Rahmenbedingungen und die Finanzausstattung so, dass diese Ziele systematisch verfehlt werden müssen.
Münchenberg: Würden Sie sagen, dieser Ansatz ist auch symptomatisch für das deutsche Pflegesystem, das ja letztlich, muss man sagen, darauf ausgelegt ist, dass hier mit minimalem Aufwand und Kosten die Aufgabe Pflege bewältigt werden soll?
"Haben haben so etwas wie einen Pflexit, ein Abwandern aus der Pflege"
Heintze: Ja, das ist symptomatisch dafür. Die Politik schaut weg. Wir haben ja so etwas wie einen Pflexit, ein Abwandern aus der Pflege derjenigen, die hier ausgebildet wurden, ins Ausland, wo besser bezahlt wird, wo die Personalausstattung besser ist, primär nach Österreich, in die Schweiz, dann aber auch in die skandinavischen Länder, Ausstieg aus dem Beruf nach 8,3 Jahren.
Wir haben diesen Pflexit und dieser Pflexit wird nun zum Anlass genommen, um weniger darüber zu debattieren, dass sich die Bedingungen, was die Personalausstattung und die Bezahlung angeht, tatsächlich verbessern, sondern wird eher gern zum Anlass genommen, um die Standards weiter abzusenken.
Münchenberg: Frau Heintze, Sie haben sich ja auch in anderen Ländern in Europa umgeschaut. Manchmal hilft ja der Blick über den eigenen Tellerrand. Wie gehen denn zum Beispiel die Niederlande oder auch die skandinavischen Länder mit der Herausforderung Pflege um?
"Man hat die Pflege an den Markt delegiert"
Heintze: Pflege ist dort eine öffentliche Aufgabe, und das ist der zentrale Unterschied. In Deutschland ist es eine private Aufgabe, eine Aufgabe der Familie. Das muss die Familie organisieren. Das heißt dann, es sind überwiegend primär zu gut zwei Dritteln die Töchter, die Schwiegertöchter, die das organisieren. Es wurde mit dem Pflegeversicherungsgesetz ein Markt geschaffen. Damit gilt die Marktrationalität. Man hat das delegiert an den Markt.
Und man hat die Finanzausstattung so gestaltet, dass die öffentlichen Leistungen - die kommen über die Pflegeversicherung - nicht dynamisiert sind, sondern dass wir eingebaut in das System so etwas haben wie eine Kostenprivatisierung und eine Leistungsprivatisierung, und für die Ergebnisse interessiert sich die Politik nicht. Hier macht sie die Augen zu.
In den skandinavischen Ländern, auch in den Niederlanden ist die Pflege eine öffentliche Aufgabe. Das heißt, sie wird öffentlich finanziert, nicht zu 50 Prozent im Rahmen eines Teilleistungssystems wie in Deutschland, sondern zu 100 Prozent oder annähernd zu 100 Prozent. Und sie wird öffentlich gesteuert und die Erbringung ist auch in den skandinavischen Ländern ganz überwiegend öffentlich.
Die Kommunen sind hier in der Pflicht, das anzubieten, das auch zu steuern. In den Niederlanden sind es nicht gewinnorientierte Träger. Die Kommunen steuern das und die Ergebnisse sind entsprechend besser. Aber natürlich ist das, was öffentlich eingesetzt wird an Geld, viel höher, im Schnitt etwa dreimal so hoch wie in Deutschland.
Münchenberg: Das heißt, was würden Sie jetzt vorschlagen für Deutschland? Würde das dann nicht konsequenter darauf hinauslaufen, dass auch Pflege steuerfinanziert werden müsste?
"Der Beitragssatz zur Pflegeversicherung müsste angehoben werden"
Heintze: Man kann es in einer Mischfinanzierung organisieren. Das würde dann bedeuten, dass der Beitragssatz zur Pflegeversicherung, der ja bis zum Jahr 2022 gar nicht ansteigen soll. Das heißt, alle Gehaltssteigerungen, alle Personalverbesserungen müssen ja dann von den Pflegebedürftigen und ihren Familien selbst finanziert werden, wenn sich daran nichts ändert. Der Beitragssatz zur Pflegeversicherung müsste angehoben werden, um sicherzustellen, dass das, was an Steigerung von Gehältern realisiert wird, auch öffentlich refinanziert wird, und man bräuchte einen Steuerzuschuss.
Man müsste ganz klar die Finanzierungsseite verändern über möglicherweise eine solche Mischfinanzierung. Und man muss auch an die zerklüfteten Strukturen heran, weil hier gibt es kein funktionierendes Tarifvertragssystem. Wenn die Politik schaut in Richtung der Tarifvertragsparteien, diese gibt es gar nicht in diesem Bereich.
Münchenberg: Aber da will ja jetzt die Große Koalition tatsächlich ran und sagt, wir wollen auch schauen, dass die Tarifverträge mehr Bestand haben im Pflegebereich.
Heintze: Diese Tarifverträge gibt es bei den gewerblichen Anbietern, die im Moment den Markt umpflügen - hier kommen Finanzinvestoren aus Übersee -, diese Tarifverträge gibt es dort nicht. Dieser Bereich ist ein weitestgehend tariffreier Bereich und dieser Verband sagt auch, dass er auf allen Ebenen gegen einen flächendeckenden Tarifvertrag kämpfen wird. Gewerkschaften gibt es dort nicht.
Der öffentliche Bereich wurde entpflichtet, hat sich auch selbst entpflichtet. Dort gibt es Tarifverträge. Das führt auch dazu, dass dort wesentlich besser bezahlt wird. Der Unterschied liegt etwa bei 25 Prozent, was dort mehr bezahlt wird als im gewerblichen Bereich. Aber dort arbeiten ja noch nicht einmal fünf Prozent der in der Altenpflege, der Langfristpflege Beschäftigten.
Dann gibt es den kirchlichen Bereich. Da gibt es ein Sonderarbeitsrecht. Und dann gibt es die anderen, freien gemeinnützigen Träger wie Arbeiterwohlfahrt und andere, die Tarifverträge anwenden. Aber die bringen es ja gar nicht auf Schwellenwerte, die man dann allgemeinverbindlich machen könnte.
Münchenberg: Frau Heintze, uns läuft die Zeit davon. Das waren trotzdem Ihre Einschätzungen zu der geplanten Pflegereform. Frau Heintze ist Wohlfahrtsforscherin und Politologin. Besten Dank für das Gespräch heute Morgen.
Heintze: Ich danke sehr. Auf Wiederhören.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.