Kathrin Hondl: Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel reist heute in den Iran. Eine heikle Mission: Denn einerseits will er die deutsch-iranischen Wirtschaftsbeziehungen verbessern – andererseits soll es auch um die Lage in Syrien gehen. Und die ist so dramatisch, verheerend und schrecklich, das selbst hart gesottenen Beobachtern die Worte fehlen – angesichts der massiven Angriffe der syrischen und russischen Luftwaffe auf die Stadt Aleppo in den vergangenen Tagen. Hunderttausende Menschen sind den Bombardements ausgeliefert, die Hälfte davon Kinder.
"Wir können in unserem Verhältnis zu Staaten, die an diesem mörderischen Krieg beteiligt sind, nicht einfach zur Tagesordnung übergehen", sagte Gabriel vor seiner Iran-Reise. Und der Iran ist, wie Russland, ein wichtiger Verbündeter des Assad-Regimes.
Über die Situation in und um Syrien habe ich vor der Sendung mit dem Islam-Wissenschaftler Wilfried Buchta gesprochen. Er hat 14 Jahre lang für nationale und internationale Organisationen im Nahen Osten gearbeitet, unter anderem im Iran, in Jordanien und im Irak. "Die Strenggläubigen – Fundamentalismus und die Zukunft der islamischen Welt" heißt sein neues Buch, das gerade im Hanser Verlag erschienen ist.
Herr Buchta, Vizekanzler Gabriel will jetzt also an den Iran appellieren, sich konstruktiv im Syrienkonflikt zu verhalten. Bringt das denn etwas? Welche Interessen verfolgt Iran in Syrien?
"Das Überleben des Assad-Regimes ist für den Iran sehr wichtig"
Wilfried Buchta: So lobenswert auch dieser Appell von Herrn Gabriel an die iranische Staatsführung ist, so glaube ich, dass diese Aufrufe vergeblich sein werden. Iran unterstützt das syrisch-schiitische Alawiten-Regime von Assad, der Familie Assad schon seit den 1980er-Jahren. Das ist eine geopolitische Konstante, die Iran und auch dem syrischen Regime beiderseits viele Vorteile einbringt. Iran kann seine machtpolitische Einfluss-Sphäre in der Levante, das heißt im Raum des Mittelmeers und über Syrien hinaus zu seinem Verbündeten, der schiitischen Hisbollah im Libanon erweitern und festigen und das Überleben des Assad-Regimes ist für das iranische Regime sehr, sehr wichtig.
Hondl: Dieser Krieg in Syrien wird ja oft auch als ein Stellvertreterkrieg beschrieben, als eine Schlacht zwischen den regionalen Mächten, nämlich dem Iran, über den wir gerade gesprochen haben, und Saudi-Arabien. Was motiviert Saudi-Arabien, in Syrien mitzumischen als Unterstützer radikal-islamischer Rebellen ja?
Buchta: Ja, beide Regime, das saudische Wahhabiten-Regime in Riad wie auch das schiitische Regime in Teheran, sind geostrategische Konkurrenten um die Rolle der Hegemonialmacht in Nahost. Dieser Konflikt ist richtig brisant und heißt geworden vor allem nach der iranischen Revolution von 1979, seitdem sich die bis dahin eher traditionalistisch gemäßigte schiitische Ausprägung im Iran umgewandelt hat durch das Revolutionsregime in eine expansive Großmacht, die versucht, ihre Ideologie und ihre Politik in der ganzen Region zu verbreiten. Diese Auseinandersetzung läuft über Stellvertreter, Saudi-Arabien hat Dutzende von sunnitischen Gruppierungen salafistischer oder dschihadistischer Orientierung unter ihrem Einfluss. Das gleiche gilt für den Iran, der in den Regionen des Nahen und Mittleren Ostens von Afghanistan über Pakistan, die arabischen Golfstaaten bis nach Irak Syrien und Libanon eine Vielzahl von schiitischen Milizen und politischen Gruppierungen unterstützt. Und alle diese Gruppierungen kämpfen gegeneinander, und im Hintergrund läuft ein Kalter Krieg zwischen Iran und Saudi-Arabien um die Rolle der Hegemonialmacht in Nahost.
Hondl: Es geht um Macht und es geht um Religion, eine Rivalität zwischen Schiiten und Sunniten? Oder welche Rolle spielt die Religion in diesem Konflikt tatsächlich?
Diese Auseinandersetzung währt schon seit knapp 1.300 Jahren
Buchta: Ja, die Religion ist ein wichtiger Konfliktfaktor. In den Kommentaren der meisten Nahost-Experten kommt leider dieser Aspekt viel zu kurz. Diese Auseinandersetzung zwischen Schiiten und Sunniten währt schon seit knapp 1.300 Jahren. Sie war in vielen zeitlichen Perioden eher latent. Aber jetzt gerade seit 1979, seitdem sich diese Konkurrenz zwischen Saudi-Arabien und Iran zugespitzt hat, ist sie zu einem wichtigen und bestimmenden Konfliktfaktor in Nahost geworden. Das kann man sehen an den kriegerischen Auseinandersetzungen im Irak wie auch in Syrien wie auch im Jemen.
Hondl: Viele meinen ja, der Zerfall der Staaten in der Region und dieses blutige Kriegschaos habe mit dem Scheitern des Arabischen Frühlings angefangen, oder sei vielleicht eine direkte Folge der US-Invasion im Irak. Sie datieren die Anfänge aber sehr viel früher, wenn ich Sie richtig verstehe. Hat der Westen, haben wir da viel übersehen in den vergangenen Jahren?
Buchta: Es gibt keinen singulären Konfliktfaktor, der all diese Kriege und Konflikte antreibt, sondern es ist ein Bündel von verschiedenen Faktoren. Ein Faktor ist das Absterben oder Verschwinden des arabischen Nationalismus. Der arabische Nationalismus war nach dem Entstehen der modernen Nationalstaaten, nachdem diese Staaten aus der Mandatsherrschaft der europäischen Kolonialmächte in den 40er-, 50er-Jahren entlassen wurde, war der arabische Nationalismus die beherrschende große Heilsideologie in der arabisch-islamischen Welt. Nach den Niederlagen gegen Israel und nach dem internen Scheitern vieler dieser nationalistischen Militärregimes, die intern bei der Erreichung von wirtschaftlichem Wohlstand, gesellschaftlicher Gleichheit und Freiheit gescheitert sind, nach diesem Scheitern ist ein Vakuum entstanden, ein ideologisches Vakuum. In dieses Vakuum sind islamistische Gruppierungen gestoßen, die teils von Saudi-Arabien unterstützt, teils unabhängig von Saudi-Arabien, seitdem immer mehr Boden gewinnen in allen diesen Staaten. Wir haben im Grunde genommen keine länderübergreifende regionale Ideologie, die den meisten Menschen noch Hoffnung macht auf ein besseres Morgen.
Hondl: Nun gab es aber doch den Arabischen Frühling. Warum haben denn demokratische liberale Muslime offenbar keine Chance, sich gegen die radikal-religiösen Extremisten durchzusetzen in der Region?
"Die Gefahr, die aus Saudi-Arabien kommt, ist viel bedrohlicher"
Buchta: Wir überschätzen die Kraft dieser sozialen Bewegungen. Es gibt in all diesen Ländern kleinere demokratische Gruppierungen, demokratische Parteien. Es gibt dort zivilgesellschaftliche Bewegungen. Sie sind aber sehr schwach. Sie sind meistens nicht im Volk verankert, weil ihnen der religiöse Stallgeruch fehlt. Das heißt, sie wollen eine Emanzipation vom Staat, von der Religion, manchmal offen, meistens eher verbrämt, weil das gefährlich ist, wenn man gegen die Religion antritt, und diese Gruppierungen sind politisch und gesellschaftlich sehr schwach. Deswegen war das ein vergebliches Hoffen, als der Arabische Frühling dann 2011 ausbrach, dann aber ein bis zwei Jahre später überall, sei es jetzt in Ägypten, sei es in Libyen, in einen Arabischen Winter überging, geprägt von Militärdiktaturen, vom Zerfall von Staaten - ein Zustand, der bis heute andauert.
Hondl: Am Ende Ihres Buches entwerfen Sie ein ziemliches Schreckensszenario. Das Jahr 2026, also in zehn Jahren, mit einem erstarkten IS, Assad weiter an der Macht, atomares Wettrüsten zwischen Iran und Saudi-Arabien, Millionen Flüchtlinge, dschihadistischer Terror, Rechtsextremismus in Europa, also ein Schreckensszenario, das aber seinen Anfang nimmt mit der amerikanischen Präsidentschaftswahl und einem Gewinner, den Sie zwar nicht beim Namen nennen, aber der unschwer als Donald Trump zu identifizieren ist. Ein Kandidat, schreiben Sie da, der wenig Interesse an Außenpolitik hat und dem es an einer Fortsetzung der von Obama begonnenen Entspannungspolitik gegenüber dem Iran nicht gelegen ist. - Ist der Iran, um jetzt auch wieder zu Gabriels Reise zurückzukommen, das Verhältnis des Westens zum Iran der Dreh- und Angelpunkt der künftigen Entwicklung?
Buchta: Das würde ich nicht ganz so unterschreiben. Ich sehe die Gefahr, die zum Beispiel aus Saudi-Arabien kommt, als eine viel bedrohlichere an. Wir unterschätzen die Möglichkeiten, die Saudi-Arabien hat, durch den massiven Export ihrer wahhabistischen Spielart des Islam. Dieser Einfluss reicht bis nach Indonesien, bis auf die Bahamas, zu allen möglichen muslimischen Auslandsgemeinschaften überall in der Welt, in Europa, in Afrika, in Asien.
Hondl: Saudi-Arabien ist ausgerechnet der Hauptverbündete des Westens im Kampf gegen den Islamischen Staat.
Saudi-Arabiens Ideologie ist zu 98 Prozent identisch mit der des IS
Buchta: Ja! Und da sehe ich eine Einseitigkeit der Blickrichtung. Natürlich ist das iranische Revolutionsregime ein schwieriger Partner des Westens zur Eindämmung des IS, aber ein Partner, der ein Überlebensinteresse an der Niederringung des IS hat. Denn der IS hat eine strikt anti-schiitische Ausrichtung und er möchte, falls es ihm gelingt, möglichst alle Schiiten der Welt konvertieren mit Zwang, oder töten. Saudi-Arabien hingegen ist eben auch ein Schiiten-Feind, aber Saudi-Arabiens Ideologie ist zu 98 Prozent identisch mit der Ideologie des IS. Was den IS von der saudischen wahhabitischen Ideologie unterscheidet, ist die Befürwortung der Monarchie. Die Wahhabiten in Saudi-Arabien halten an diesem alten Pakt zwischen wahhabitischem Staatsklerus auf der einen Seite und dem saudischen Königshaus fest und legitimieren die Monarchie in Saudi-Arabien. Und der IS hat sein eigenes ideologisches Konzept, nämlich das des Kalifats. Beide Konzepte sind unvereinbar, aber ansonsten ist die Ideologie, das heißt eine Ideologie, die auf Ausgrenzung nichtmuslimischer Minderheiten zielt und auf Abgrenzung gegenüber dem Westen, die gleiche.
"Ein dschihadistisches Emirat in Syrien kann keine Alternative zum Assad-Regime sein"
Hondl: Welche Handlungsoptionen sehen Sie in dieser verfahrenen Situation jetzt überhaupt noch für die deutsche, die europäische Außenpolitik? Was wäre jetzt eine kluge richtige Politik?
Buchta: Ja, das ist eine schwierige Frage. Ich bin kein Militärexperte. Aber ich würde zum Beispiel von militärischen Interventionen absehen, denn militärische Interventionen haben - das haben wir bei den Amerikanern im Irak gesehen - nur kontraproduktive Wirkungen. Das hätte zur Folge, dass das syrische Regime möglicherweise bald zusammenbricht, aber die Konsequenzen daraus sind unabsehbar. Denn die Gegner des IS sind ja salafistische und dschihadistische Gruppierungen, die größtenteils von Saudi-Arabien finanziert und bewaffnet werden, die wiederum sich auf die Fahnen geschrieben haben, die Alawiten, Christen und anderen Minderheiten auf syrischem Boden vor die Wahl zu stellen zwischen Konversion und Flucht beziehungsweise Tod. Und ein neuerstandenes dschihadistisches Emirat in Syrien kann keine Alternative zum Assad-Regime sein.
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