Deshalb wies er schon unmittelbar nach der Wiedervereinigung auf die Notwendigkeit vorbeugender Sozialarbeit, gerade in den neuen Bundesländern. Heitmeyers wissenschaftlich hoch anerkannten Langzeitstudien und ihre Folgerungen wurden politisch aber nicht umgesetzt, seine empirisch belegte Erkenntnis, dass Rechtsextremismus auch in der Mitte der deutschen Gesellschaft fest verwurzelt ist, als linke Propaganda abgetan.
Hätten sich die aktuellen Zustände verhindern lassen, und was kann heute noch dagegen getan werden?
Das Interview in voller Länge:
Die rechtspopulistische und islamfeindliche Organisation Pegida ist weder vom Himmel gefallen noch gab es vor ihrer Gründung vor einem Jahr keine anderen Gruppierungen, die ähnliche Ziele verfolgt hätten. Der Bielefelder Sozialwissenschaftler und Konfliktforscher Professor Wilhelm Heitmeyer untersucht seit mehr als 30 Jahren die Ursachen von Rechtsextremismus, Gewalt und Fremdenfeindlichkeit und sieht deren Ursachen vor allem in der sozialen Ausgrenzung von immer mehr Menschen. Deshalb wies er schon unmittelbar nach der Wiedervereinigung auf die Notwendigkeit vorbeugender Sozialarbeit hin, gerade in den neuen Bundesländern.
Heitmeyers wissenschaftlich hoch anerkannte Langzeitstudien und ihre Folgerungen wurden politisch aber nicht umgesetzt. Seine empirisch belegte Erkenntnis, dass Rechtsextremismus auch in der Mitte der Gesellschaft fest verwurzelt ist, als linke Propaganda abgetan. Hätten sich die aktuellen Zustände verhindern lassen? Und was kann heute noch dagegen getan werden? Mit Wilhelm Heitmeyer sprach Stefan Koldehoff.
Stefan Koldehoff: Herr Professor Heitmeyer, vor mir liegt ein Interview, dass Sie dem Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" gegeben haben, das ist von 1991, also so schnell vergeht die Zeit, fast ein Vierteljahrhundert alt inzwischen. Und in diesem Interview sprechen Sie schon über Themen, die Sie Ihr ganzes Wissenschaftlerleben lang natürlich beschäftigt haben und die uns aber auch als Gesellschaft heute wieder beschäftigen. Da geht es um Rechtsextremismus, um die Frage nach den Ursachen, um die Frage, wie man dem entgegenwirken kann. Und die Überschrift dieses Gesprächs lautet: "Tief in den Alltag eingesickert". Hat sich da eigentlich irgendwas getan in den 25 Jahren seither? Hat man die Analysen, die Sie damals geliefert haben, gehört oder hören wollen?
"Reaktionen der politischen Eliten sind ausgeblieben"
Wilhelm Heitmeyer: Da muss ich natürlich tief durchatmen. Denn wir haben ja seit 1985 die Untersuchung immer wieder durchgeführt, immer wieder Langzeituntersuchungen. Und die Reaktionen aus großen Teilen der Gesellschaft beziehungsweise vor allem auch der politischen Eliten ist ausgeblieben. Und insofern wundern mich bestimmte Dinge natürlich gar nicht. Ich habe beispielsweise im Jahr 2000 ein Interview mit der Wochenzeitung "Die Zeit" gemacht und dort ist es überschrieben "Der Staat will nichts wissen". Und dort habe ich betont, dass wir es in Zukunft stärker mit kultureller Überfremdung in den Wahrnehmungen der Menschen, mit politischer Fremdbestimmung, so wie die Menschen das wahrnehmen, und Repräsentationskritik zu tun bekommen, also so eine Art, ich nenne das Demokratieentleerung. Und auch darauf hat es keine Reaktion gegeben.
"Deutungsmuster, die eine gesellschaftliche Selbstentlastung produzieren"
Und 1993 hat die damalige Jugendministerin, Frau Angela Merkel, unsere Untersuchung, die Jugenduntersuchung aus der Zeit als eine Art kommunistische Propaganda abgetan. Man kann das nachlesen im August 1993 auch in einem Bericht der "Zeit". Da können Sie sehen, welche Deutungsmuster früher schon herrschten und immer noch herrschen. Das heißt, es wird so getan, als könne man die Gesellschaft und die Welt in zwei Teile einteilen. Auf der einen Seite sind es die brutalen Neonazis, die tatsächlich brutal sind, und der Nationalsozialistische Untergrund hat das ja noch mal radikalisiert in unfassbarer Weise. Und auf der anderen Seite aber die humane, humanitäre Gesellschaft. Und das ist natürlich ein Bild, was dort immer wieder geprägt worden ist, was der Realität natürlich überhaupt nicht standhält. Das sind Deutungsmuster, die darauf hinlaufen, eine gesellschaftliche Selbstentlastung zu produzieren und auch einen gesellschaftlichen Selbstbetrug. Und das Resultat können wir heute unter anderem besichtigen.
Koldehoff: Da werden wir gleich noch drauf zu sprechen kommen. Ich will aber zunächst noch ein bisschen in der Vergangenheit Ihrer Tätigkeit bleiben. Herr Heitmeyer, Sie sind ja nicht der berühmte Clown, der in die Manege läuft und schreit, es brennt und brennt, und keiner will es hören. Sie sind einer der angesehensten Sozialwissenschaftler der Gegenwart. Sie haben, wie sich das für einen Wissenschaftler gehört, mal erst definiert, was ist überhaupt rechtsextreme Einstellung, und haben dann in Langzeitstudien herauszufinden versucht, wie verbreitet das ist. Und ein Ergebnis war, rechtsextreme Gesinnung ist keine Frage der Ränder der Gesellschaft, sondern tief in der Mitte der deutschen Gesellschaft verwurzelt. War das der Grund, war das der Schockmoment, weswegen man das nicht hören wollte?
Es gibt eine "gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit"
Heitmeyer: Ja, das betrifft natürlich dann uns alle. Wir haben ja sehr früh uns die Einstellungsmuster bei Jugendlichen angesehen, 1985/87, und als ich das publiziert habe, habe ich viel Kritik einstecken müssen, nach dem Motto, unsere Jugend hat die historische Lektion gelernt, also bitte, schreib nicht solche einen Unsinn. Und das sind so Muster, die ziehen sich immer weiter, und wir haben ja später dann eine Langzeitstudie durchgeführt über zehn Jahre mit dem etwas sperrigen Titel "Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit", und jährlich den Suhrkamp-Bänden "Deutsche Zustände" veröffentlicht. Und dabei geht es darum, wie wir – ich betone, wie wir –, also die Bevölkerung, schwache Gruppen in der Gesellschaft sehen und abwerten und eine Diskriminierungsbereitschaft an den Tag legen.
"Integration ist nicht für Migranten reserviert"
Schwache Gruppen wie Muslime, wie Homosexuelle, wie Obdachlose und so weiter. Und diese gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ist in der Tat in der Mitte der Gesellschaft auch angesiedelt. Und da gibt es natürlich unterschiedliche Gruppen, und diejenigen, die unten sind, also auf der sozialen Statusleiste, haben andere Muster als diejenigen, die in den oberen Etagen sich bewegen. Aber gerade in den oberen Etagen hat sich in den letzten Jahren eine Art von roher Bürgerlichkeit festgesetzt, dass heißt, hinter einer stilvollen Fassade gibt es aber auch einen Jargon der Verachtung. Und das sind so Dinge, die lässt man natürlich nicht gern an sich heran, und das führt dann zu Abwehr. Vor dem Hintergrund muss man natürlich vorsichtig sein mit irgendwelchen Schuldzuschreibungen, sondern es geht ja darum, zu sehen, welche gesellschaftlichen Hintergründe sich dort entwickelt haben über die Zeit. Und das war übrigens auch ein Grund der damaligen Jugendministerin Angela Merkel, über die gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland gerade auch nach dem Umbruch nichts wissen wollte, sondern das so weggedrückt hat mit diesem Hinweis, dass man diese Ergebnisse ja schon kenne aus der früheren DDR. Dort sind sehr viele Abwehrmechanismen, um sich mit den gesellschaftlichen Prozessen auseinanderzusetzen, die diese Einstellungsmuster dann auch produzieren. Und wir arbeiten in Bielefeld seit langer, langer Zeit von Beginn an, als ich die Forschung begonnen habe mit einer Theorie sozialer Desintegration. Das heißt, sind Menschen integriert und anerkannt in der Gesellschaft. Und wenn diese Integrationsfrage – und Integration ist nicht für Migranten reserviert, sondern ein Teil der deutschstämmigen Gesellschaft ist auch nicht integriert, entweder nicht in den Arbeitsmarkt oder als Anerkennungsdefizite, die dann auch kompensiert werden durch Überlegenheitsgefühle gegenüber schwachen Gruppen.
Und diese Mechanismen muss man sich genau ansehen, denn da geht es zunächst mal um individuelle Einstellungen mit Abwertungs- und Diskriminierungsbereitschaften. Die bleiben aber zunächst mal individuell und sind latent als gesellschaftlicher Vorrat gewissermaßen präsent. Und jetzt gibt es Unterschiede etwa zu den 90er-Jahren, als wir ja auch schon eine ...
"Spirale der Radikalisierung erzeugt Medienressonanz"
Koldehoff: ... Welle der Gewalt hatten.
Heitmeyer: Ja, Welle der Gewalt, und auf dem Hintergrund von höheren Zugängen an Asylbewerbern. Und damals gab es ja auch schon die Gewalt mit dem Feuer, die wir ja heute auch wieder erleben. Aber es waren damals erwachsene junge Männer, aber keine organisierte Szene. Die gab es in den 80er-Jahren, als vor allem Vietnamesen unter den Todesopfern waren. Insofern hat sich jetzt etwas geändert, dass es nicht mehr einzelne Täter sind und die Einstellungsmuster nicht mehr individuell bleiben, sondern es gibt emotional ausbeutbare Anlässe, die dazu geführt haben, dass wir es jetzt ja mit sozialen Bewegungen zu tun haben wie Pegida, wo die individuellen Einstellungen auf einmal gebündelt werden, verdichtet werden, und, wie wir ja mitbekommen haben, sich radikalisiert haben, also jetzt manifest werden. Und daraus entsteht ja so eine Spirale der Radikalisierung.
Und diese Spirale ist notwendig, weil sonst keine Medienresonanz mehr erfolgt, denn das gehört zur Konjunktur und Kultur der Medien, mehr vom Gleichen interessiert nicht mehr. Das Problem ist dann, dass die radikalisierten Postulate auch irgendwann eingelöst werden müssen, weil sonst die Verfechter dieser Sprüche vor ihren eigenen Anhängern als sogenannte Weicheier da stehen. Und Teile dieser radikalisierten Gruppen setzen sich so selbst unter Druck und drängen dann auf die Tat. Diese Mechanismen sind, glaube ich, sehr wichtig, um überhaupt zu sehen, an welchen Stellen kann man möglicherweise intervenieren. Da helfen überhaupt nicht diese leerlaufenden Rituale von einigen Teilen der Eliten, die damals bei dem Interview 1991 habe ich das auch schon gesagt, die dann "hartes Vorgehen" postulieren. Oder heute heißt es "klare Kante". Das sind leerlaufende Rituale.
"Gesellschaft ist wenig lernfähig"
Koldehoff: Die sich ja nicht verändert haben. Schon damals in dem Interview wird zitiert, es sei nun Zeit zum Handeln, sagten einige Politiker. Das stand genauso vergangene Woche auf dem Titel des "Stern".
Heitmeyer: Ja, daran können Sie sehen, wie wenig lernfähig diese Gesellschaft ist und wie weit sie solche Dinge wegdrängt und gar nicht wahrzunehmen scheint, dass es sich ja bei dem Rechtsextremismus um einen, ich nenne das Zwiebelmuster handelt. Das bedeutet, in der äußeren Schale sind diese Einstellungen zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit gelagert, also Einstellungen, die wir Bürger mit uns herumschleppen. Die nächste Stufe sind dann Übergänge zum Rechtspopulismus, der sich an vielen Stellen noch der Gewalt enthält sozusagen.
Dann gibt es aber schon Transmissionsriemen in die sogenannten "Freien Kameradschaften" hinein, die schon mit Gewalt hantieren. Und der nächste Schritt ist dann der Rechtsterrorismus. Ich will damit sagen, wir können uns als Bürger nicht einfach, ich sage das mal so lax, vom Acker machen, als ob wir damit nichts zu tun hätten. Wir produzieren mit den Einstellungen eben diesen gesellschaftlichen Abwertungsvorrat und müssen uns dann nicht wundern, wenn radikalisierte Gruppen über diese Prozesse, die ich versucht habe, deutlich zu machen, dann auch zur Tat schreiten.
"Spaltung dieser Gesellschaft schreitet voran"
Koldehoff: Nun sind in dieser Woche neue Zahlen bekannt gegeben worden. Fünf Prozent der Deutschen sind arm oder sozial ausgegrenzt. Das heißt, wenn man an die Wurzeln wollte – ich hoffe, ich habe Sie richtig da richtig verstanden –, dass Sozialarbeit allein da wenig nutzt. Man muss ans gesellschaftliche Selbstverständnis ran. Da gibt es ja im Moment dann kaum eine Perspektive. Im Gegenteil, es geht eher in die andere Richtung, in Richtung Ausgrenzung.
Heitmeyer: Ja, es werden ja nun unter den Wirtschaftswissenschaftlern erhebliche Debatten geführt, wie die soziale Spaltung vorangeht. Und das ist dann ein Ergebnis unterschiedlicher Datenmaterialien, und jetzt hat man sich von den Befragungen etwas entfernt und hat Steuerstatistiken herangezogen. Daran kann man erkennen, wie die Spaltung dieser Gesellschaft, die wachsende Ungleichheit dann voranschreitet.
Insofern komme ich immer wieder auf dieses Thema der sozialen Desintegration zurück, und da ist es ja auch so, dass diejenigen, die da keine Hoffnung haben, ziehen sich auch aus dem politischen Prozess zurück. Das kommt ja noch hinzu. Sie sind möglicherweise bei den sozialen Bewegungen, aber sie gehen nicht mehr zur Wahl. Und das meine ich mit Demokratieentleerung. Das System funktioniert natürlich irgendwie. Aber wie ist die Tragfähigkeit, die innere Substanz. Und daran muss man natürlich entsprechende Zweifel hegen. Und wenn dann die Mobilisierungsexperten wie bei Pegida in den Ring steigen und gewissermaßen brachial, zumindest verbal brachial zulangen, dann muss man sich nicht wundern, wenn dieses sich ausbreitet, wobei man dann natürlich auch noch mal die Ost-West-Differenz, die immer bestritten wird, aber auch noch mal aufrufen.
Koldehoff: Ist sie denn da?
Heitmeyer: Aus unserer Sicht, bei unseren Untersuchungen, ist sie da. Wenn man die Einstellungsmuster, die wir untersucht haben, über die Jahre hinweg, auf die jeweiligen Bundesländer spiegelt und auf der anderen Seite die Tatstatistiken mit rechtsextremem Hintergrund, dann gibt es einen engen Zusammenhang. Das heißt, dort, wo diese Einstellungsmuster besonders deutlich sind, gibt es auch höhere Täterraten. Insofern muss man zwar betonen, ich meine, das kann man ja derzeit auch an der Kartografie der Brände gegen Asylunterkünfte sehen, gibt es sie natürlich auch im Westen. Das ist ja überhaupt keine Frage.
Nur, wenn man die Verdichtung sieht, dann muss man sehr deutlich auch nach Ostdeutschland blicken. Da haben die politischen Eliten damals zu Beginn auch Fehler gemacht, wenn beispielsweise der damalige Ministerpräsident Biedenkopf in Sachsen gesagt hat: "Wir Sachsen sind immun gegen den Rechtsextremismus." Damit werden auch wieder Bilder produziert, die sich dann verhängnisvoll auswirken.
Koldehoff: Dann ist es ja fast schon tragisch, dass Sie recht behalten haben, als Sie kurz nach der Wende gesagt haben, jetzt müsste im Osten die vorbeugende Arbeit geleistet werden, die im Westen versäumt worden ist, sonst bestehe die Gefahr, dass die Radikalisierung auf Jahre hinaus weiter fortschreitet.
"Im Osten wurden ganze Lebensläufe entwertet"
Heitmeyer: Ja, das war damals die These, und sie ist, glaube ich, leider nach wie vor existent.
Koldehoff: Aber das heißt, schon da war klar, dass es den Osten besonders betreffen könnte?
Heitmeyer: Das hängt natürlich auch von den theoretischen Positionen ab. Unsere These war ja, es gibt einen Zusammenhang von sozialer Desintegration und den Positionen, die im Rechtsextremismus, Rechtspopulismus angeboten werden. Der Übergang in den ostdeutschen Ländern war ja nun wirklich auch sehr, sehr schwierig, weil ganze Lebensleistungen, Lebensläufe wurden ja plötzlich entwertet. Da jetzt neue Möglichkeiten der Positionierung zu finden, war ja in der Tat nicht leicht.
"Unterlegenheitsgefühle werden in Überlegenheitsgefühle umgewandelt"
Und hinzu kam ja auch, dass die westdeutsche Gesellschaft gar nicht begriffen hat, wie die ostdeutsche Gesellschaft konstruiert war, sozusagen. Um die Kombinate waren die anderen, integrativen Institutionen dann gruppiert, und als die Kombinate zerstört waren, ist auch vieles an Institutionellem dann zusammengebrochen. Diese Prozesse sind ja auch nicht von den Menschen erfunden, sondern das waren gesellschaftliche Strukturentscheidungen, die dann auch in den Alltag natürlich hineingewirkt haben. Und da tauchen dann diese Unterlegenheitsgefühle, die individuellen Unterlegenheitsgefühle durchaus auf, die dann plötzlich umgewandelt werden in kollektive Überlegenheit, aber gegen schwache Gruppen. Niemand will auf der sozialen Statusleiter ganz unten sein, sondern dann konstruiert man noch andere, die noch weiter unten stehen, um irgendeine Art von Selbstbewusstsein oder Überlegenheit zu konstruieren.
Koldehoff: Aber warum habe ich denn erst seit ein, zwei Jahren, Herr Heitmeyer, das Gefühl, dass da irgendwas gesellschaftsfähig geworden ist, ein breiterer Konsens offenbar. Sie würden wahrscheinlich sagen, er war nie da, aber für mich ist das Gefühl, der ist aufgekündigt worden. Plötzlich kann man mit solchen Parolen auf die Straßen gehen, und plötzlich kann man auch als Bürger in Kauf nehmen, dass das brutale Konsequenzen hat.
Heitmeyer: Ja, solche Dinge fallen natürlich nicht vom Himmel, sondern das sind eben schleichende Prozesse, die sich in bestimmten Zeitfenstern abspielen. Das war ja von vornherein unser Ansatz. Man muss im Vorfeld das machen und nicht im Nachhinein dann mit allen möglichen staatlichen Instrumenten dort versuchen zu intervenieren, was zurzeit ja auch wieder en vogue ist. Denken Sie an das NPD-Verbot. Dort läuft offensichtlich die Politik wieder in eine Falle hinein, denn wenn die NPD verboten würde - und sie würde eben nicht Bestand halten - und ich glaube, ein Verbot hätte auf europäischer Ebene überhaupt keinen Bestand, dann würde das zur zusätzlichen Legitimation beitragen.
Hinzu kommt auch so eine Art von Wirkungsfalle, dass man glaubt, mit Verboten könnte man das Problem lösen. Wenn das der Fall wäre, dann dürften wir heute diese Probleme nicht haben, denn in den 90er-Jahren sind zig solcher Gruppen verboten worden.
"Bewegungsförmiger Rechtsextremismus hat sich entwickelt"
Und das Dritte ist die Repressionsfalle. Meine These ist, jede staatliche Repression führt auch auf der anderen Seite sozusagen zur Innovation. Denn wir haben es ja mit lernenden Systemen zu tun. Der Staat lernt und lernt zu reagieren, und auf der anderen Seite sind es die rechtsextremen Gruppen, die auch davon lernen. Und da hat man offensichtlich noch gar nicht richtig mitbekommen, dass wir uns ja in Deutschland von einem parteiförmigen Rechtsextremismus à la NPD zu einem bewegungsförmigen Rechtsextremismus entwickelt haben. Und die großen Probleme bestehen ja darin, dass man Bewegungen nicht einfach verbieten kann. Man kann Gruppen verbieten, aber dann gründen sich neue. Das heißt, da tritt die Innovation dann ein. Aber gegen diesen bewegungsförmigen Rechtsextremismus hat die offizielle Politik bisher kein Mittel, und ich sehe auch nicht, woher diese Mittel kommen sollten. Deshalb gibt es ja diese Sprüche mit der klaren Kante, gewissermaßen als Verlegenheitslösung. Und Sie können sich ja denken, dass das nicht sonderlich beeindruckt, gerade bei verhärteten Gruppen.
Koldehoff: Auch nicht die Ahndung von Angriffen, sei es nun auf Sachen, sei es auf Menschen? Auch das beeindruckt nicht?
Heitmeyer: Selbstverständlich beeindruckt das, aber nur diejenigen, die darauf Wert legen, dass ihre bürgerliche Normalbiografie nicht zerstört wird. Aber es gibt ja andere Gruppen, die darauf inzwischen auch gar keinen Wert mehr legen. Da kommt dann die Botschaft "mit der ganzen Härte des Gesetzes". Da bin ich ja mal gespannt. Hinzu kommt, dass wir ja bei den Bränden von Asylunterkünften, also der Gewalt mit dem Feuer, an vielen Stellen gar keine Täter haben ausfindig machen können, was gleichzeitig zu neuen Verunsicherungen in der Bevölkerung natürlich beiträgt, zumal dann – das trifft leider wieder Ostdeutschland –, weil die Siedlungsgeografie in Ostdeutschland ist ja von kleinen Dörfern und Kleinstädten geprägt, die – und da gibt es dann noch Dresden, Leipzig, Berlin ist sowieso ein Sonderfall, aber ansonsten sind das ja kleine Städte. Und da gibt es besondere Bedingungen. In Dörfern und kleinen Städten herrscht auch ein spezifischer Konformitätsdruck, sodass man an diesen Stellen zum Teil ja auch gar nicht weiterkommt. Also, es sind ganz schwierige Verhältnisse, die einem schon sehr große Sorgen machen müssen. Aber nochmals: Diese schleichenden Prozesse sind weitgehend übersehen oder als Erfindung von wild gewordenen Sozialwissenschaftlern abgetan worden und so weiter.
Koldehoff: Das klingt auch ein bisschen resignativ, nachdem Sie sich nun Jahrzehnte mit diesem Thema befassen. Vorbeugung hat nicht stattgefunden, als es vielleicht noch möglich gewesen wäre. Heute stehen keine Instrumente zur Verfügung, vernünftig anzugehen gegen eine Einstellung, die sich offenbar immer breiter macht, verbunden mit einer zunehmenden Gewaltbereitschaft. Das heißt, eigentlich müssten Sie Ihren Kollegen raten, schult um, es hat alles gar keinen Zweck, was wir da machen.
"Ich bin im Laufe der Jahre immer mürber geworden"
Heitmeyer: Nein, das darf man natürlich nicht. Gleichwohl kann ich nicht verhehlen, dass ich im Laufe dieser 30 Jahre immer mürber geworden bin, weil ein Großteil auch der verantwortlichen Eliten in den Bundesregierungen sich für diese Ergebnisse überhaupt nicht interessiert haben. Vielleicht ist das heute anders, aber ich kann das nicht beurteilen. Das galt lange Zeit für CDU/FDP-Regierungen. Da war überhaupt kein Interesse vorhanden. Aber das ist deren Verantwortung, darum muss ich mich ja nicht kümmern. Aber man darf natürlich nicht resignieren, das ist klar, aber mürbe geworden ist man.
Koldehoff: Als 2011 die Langzeitstudie vorgestellt wurde, ein weiterer Teil, von dem Sie vorhin gesprochen haben, haben Sie gesagt: "In Deutschland kann ich ein Potenzial für Unruhen zurzeit nicht erkennen. Ich vermute eher, dass Apathie und Orientierungslosigkeit zunehmen." Würden Sie die Aussage heute auch noch treffen?
Heitmeyer: Da muss man, glaube ich, unterscheiden. Zu dem Zeitpunkt waren Unruhen wie Riots wie in anderen Ländern, dafür fehlen die Bedingungen. Ob sich das jetzt radikalisiert und noch mal und in die nächste Stufe einmündet, etwa über Pegida oder andere, das weiß ich nicht. Unruhen haben noch mal einen anderen Kern mit wirklich harter Gewaltkonfrontation. Wir haben jetzt demokratisch legitimierte Demonstrationen. Das ist aber was anderes als soziale Unruhen, wo ein Teil des staatlichen Gewaltmonopols außer Kraft gesetzt ist. Wenn Sie sich das ansehen, wie es in den Pariser Vororten zugegangen ist, in den Banlieues oder auch in London vor einigen Jahren, das hatte noch eine andere Qualität als das, was wir jetzt erleben. Und, wie gesagt, der Prototyp ist ja zurzeit Pegida mit den verschiedenen kleineren Ablegern. Zu dem Zeitpunkt fehlten gewissermaßen oder fehlen immer noch bestimmte Zutaten sozusagen, damit es zu sozialen Unruhen kommt.
Koldehoff: Und dieses seltsame Selbstbewusstsein – wir sind das Volk, was wir hier machen, ist moralisch legitimiert –, das kann auch nicht dazu führen, dass irgendwann mal das Gewaltmonopol des Staates beispielsweise in Frage gestellt wird?
Heitmeyer: Da bin ich sehr skeptisch. Man muss sich mit Prognosen ja sehr zurückhalten. Es geht ja darum, dass ein Wissenschaftler sich auf seine Daten bezieht und nicht als Hellseher auftritt. Nein, die Legitimation wird von Teilen ja abgesprochen – Merkel muss weg oder was immer da geschrien wird –, es sind ja auch Geschichtsklitterungen unterwegs. Wenn Sie sich vorstellen, wie die Flagge, die deutsche schwarz-rot-goldene Flagge missbraucht wird, denn sie hat historisch einen ganz anderen Hintergrund, denn die Sprüche, die dort abgelassen werden, die sind ja mit einer anderen Fahne verbunden, nämlich schwarz-rot-weiß oder wie auch immer, also deutsch-national, versetzt mit völkischen Hintergründen, um die Homogenität des Volkes zu bewahren. Das wird man abwarten müssen, wie diese Radikalisierung sich entwickelt, die zurzeit sehr bedenklich ist. Das ist ja keine Frage.
Moderatorin: Sie hörten die Kulturfragen. Über seine langjährigen Forschungen zu den Ursachen von Rechtsextremismus, Gewalt und Fremdenfeindlichkeit sprach Stefan Koldehoff mit dem Sozialwissenschaftler und Konfliktforscher Wilhelm Heitmeyer.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.