Jörg Biesler: Kopfschmerzen, die plagen viele, aber offenbar besonders viele Schülerinnen und Schüler. Gut die Hälfte der mehr als acht Millionen Schüler an allgemeinbildenden Schulen kennen Kopfschmerzen oder Migräne, mehr als 600.000 sagt die Statistik hat einmal pro Woche oder häufiger Kopfschmerzen. Der Neurologe und Schmerztherapeut Hartmut Göbel von der Schmerzklinik Kiel hat ein Präventionsprogramm entwickelt gegen Kopfschmerzen bei Schülern – "Aktion Mütze" heißt es. Guten Tag, Herr Göbel!
Hartmut Göbel: Schönen guten Tag!
Biesler: Die Zahlen sind ja dramatisch, wenn man das hört. Seit 1974, um noch mal eine andere zu sagen, sagen Sie, haben Kopfschmerzen um 300 Prozent zugenommen. Warum eigentlich?
Göbel: Unser Nervensystem ist ja dazu da, dass wir Reize aufnehmen, sie wahrnehmen, sie verarbeiten und dann daraus Handlungen vermitteln und entsprechende Folgen und Konsequenzen ableiten. Wenn aber die Umwelt so ist, dass ganz viele Reize auf das Nervensystem quasi einprasseln, dass man ganz viel aufnehmen muss, ständig Dinge sich verändern, Medien dazukommen, ein strenger, straffer Tagesplan dazukommt, viele Freizeitaktivitäten und auch schulische Verpflichtungen zusammenkommen, muss das Nervensystem, das dafür eigentlich gar nicht vorgesehen ist, ganz viel arbeiten. Es kommt zu einem Energiedefizit, es kommt zu einer Erschöpfung, zu einer Ermüdung der Nervenfunktion, und es kommt dann zu diesen Kopfschmerzanfällen, weil die Steuerung im Nervensystem entgleist und das Gehirn nicht mehr die Arbeit leisten kann, die es eigentlich will.
Leistungsfähige Kinder leiden stärker
Biesler: Das heißt, man weiß auch, wie das physiologisch funktioniert. Also es gibt äußere Bedingungen, Umstände – Sie haben gerade Stress genannt, Reizüberflutung –, und man kann nachweisen, dass diese äußeren Umstände tatsächlich auch zu einer Reaktion führen, die wir als Schmerz wahrnehmen.
Göbel: Genauso ist es. Im Nervensystem sind bestimmte Abfolgen, die ganz schnell ablaufen müssen, um eben alles zu regulieren, und wenn diese Abfolgen überlastet werden, kommt es zu einem Energiedefizit in den Nervenzellen. Nun gibt es auch besondere Risikobereitschaft. Es gibt Kinder, die haben ein sehr schnelles, aktives Nervensystem, mit der Folge, dass die noch intensiver, noch direkter solche Reize aufnehmen und die dann ganz besonders anfällig werden. Wir kennen heute zwölf Risikogene für die Migräne, die das Risiko, Migräne zu bekommen, deutlich erhöhen, und wenn man eine solche Erbanlage hat, ist man auch besonders stark empfänglich für solche Reizveränderungen. Erstaunlicherweise sind es gerade oft die leistungsfähigen Kinder, die das haben und die ganz besonders dann unter solchen Einflüssen leiden.
Biesler: Besonders bei häufigem Kopfschmerz droht ja offensichtlich auch die Gefahr, dass diese Kopfschmerzen dann chronisch werden. Was kann man denn eigentlich tun, wie sieht Ihr Programm aus? Irgendwie müssen sich die Kinder offenbar entspannen.
Kopfschmerzen sind fast eine Volkskrankheit
Göbel: Das ist der entscheidende Punkt, dass wir gefunden haben, dass über 50 Prozent der Schulkinder angeben, schon an Kopfschmerzen zu leiden. Kopfschmerzen sind das Hauptgesundheitsproblem in der Schule, und Sie haben vorhin die Zahlen genannt. Wenn das so praktisch eine Volkskrankheit ist, dann muss man auch etwas dagegen tun. Mich hat sehr beeindruckt, als ich selber noch Schüler war vor über 40 Jahren, dass Zahnärzte am ersten Schultag in unsere Schule gekommen sind und mir erklärt haben, es gibt eine Zahnbürste und es gibt Zahnpasta, und damit kann man sich die Zähne putzen und damit kann man Zahnkaries vermeiden und Folgeschäden insbesondere dann im späteren Leben vermeiden.
Und wenn wir heute wissen, dass Kopfschmerzen die Schulkrankheit überhaupt sind, dann müssen wir das Gleiche tun als Neurologen, als Psychologen. Wir müssen den Kindern lehren, wie geht man mit seinem Nervensystem um, wie kann man das gesund behalten, damit später nicht Konsequenzen schlimmer Art auftreten – psychische Erkrankungen, aber auch körperliche Erkrankungen, Magen-Darm-Erkrankungen, Leber-Nieren-Schädigungen, die auftreten können, wenn man hier nicht eingreift.
Das Konzept sieht vor, dass praktisch eine Comicfigur – das ist die Mütze – durch drei Schulstunden führt und dann in dieser Phase, in diesen Schulstunden, dieser Unterrichtssequenz, den Kindern vermittelt auf spielerische Art, was kann ich tun, damit ich keine Kopfschmerzen bekomme, damit ich gesund bleibe.
"Aktion Mütze" reduziert Kopfschmerzen
Biesler: Das heißt, die Prävention findet in der Schule statt und unter Mitwirkung auch des Lehrpersonals, das das Programm mit den Kindern abarbeitet?
Göbel: Ja. Wir beziehen ein die Kinder natürlich, aber auch die Lehrer und die Lehrerinnen und die Eltern, und es gibt Schulen – wir haben das getestet an verschiedenen Schulen –, da sind ganze Projektwochen daraus entstanden. Da kam dann auch der Apotheker und der Arzt am Ort mit in die Schule, Eltern haben sich engagiert, und es gab ein richtiges Gesundheitsprojekt, ein Programm, das hier aus verschiedensten Blickwinkeln alles das zusammengetragen hat, was notwendig ist, um Kopfschmerzen zu vermeiden. Das Projekt, diese Schulstunden sind professionell ausgearbeitet von der Miterfinderin, das ist Frau Frisch, eine Lehrerin aus Wiesbaden. Wir haben uns zusammengefunden und haben über das Problem nachgedacht und haben jetzt das medizinische Wissen zusammengetragen und gleichzeitig aber auch das didaktische Wissen, sodass eine professionelle Unterrichtssequenz entstanden ist, die man nur noch durchführen muss – entlastet auch die Lehrer um eine entsprechende Unterrichtsvorbereitung. Und man kann das aktuelle Wissen direkt da hinbringen, wo es notwendig ist: zu den Kindern in der Schule.
Biesler: Sie haben eine zweijährige Pilotphase hinter sich gebracht in den siebten Klassen einer Schule in Schleswig-Holstein. Was haben Sie da für Erlebnisse gehabt, was haben Sie für Ergebnisse erzielt? Konnten Sie die Kopfschmerzen reduzieren?
Göbel: Ja, genau das war ja unser Ziel. Wir wollten testen, funktioniert das überhaupt, kann man damit etwas erreichen. Und wir haben gesehen, die Kinder haben 70 bis 80 Prozent weniger Kopfschmerzen, auch in den Familien gibt es weniger Stress. Man muss sich das ja vorstellen, wenn man ein Kopfschmerzkind in der Familie hat, was da passiert. Man muss dieses ganze familiäre Leben verändern, man macht sich Gedanken, woher kommen diese Schmerzen, man macht sich vielleicht Vorwürfe, was macht man falsch. Und jetzt plötzlich weiß man, da gibt es ja Wissen, da gibt es rationales Vorgehen, wie man damit umgeht, und das entlastet auch unglaublich in diesen Familien. Und man kann ganz genau erstens, zweitens, drittens dann durchziehen und kann dann Kopfschmerzen vermeiden zusammen in der Familie und mit den Lehrern, die haben dann auch ein Bewusstsein dafür, und kann hier eben entsprechend als Team etwas dagegen tun.
Biesler: Hartmut Göbel, Neurologe und Schmerztherapeut von der Schmerzklinik Kiel hat ein Präventionsprogramm entwickelt gegen Kopfschmerzen bei Schülern. "Aktion Mütze" heißt es. Danke schön, Herr Göbel!
Göbel: Sehr gerne! Vielen Dank auch!
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