"Ich glaube nicht recht an die Idee, es ließe sich aus der Geschichte viel lernen, jedenfalls in dem Sinn, dass das Wissen um frühere Verblendungen ähnliche Torheiten in der Zukunft verhindern könnte."
Dennoch hat Ian Buruma, der 1951 in Den Haag geboren wurde und heute als Professor am Bard College im Staat New York lehrt, ein 432 Seiten starkes Buch über das Jahr 1945 als weltgeschichtlichen "Wendepunkt" verfasst. Irgendeine Hoffnung muss er mit dieser aufwändigen Arbeit verbinden, trotz seiner Vorbehalte.
"Dennoch müssen wir wissen, was war, und versuchen, die Zusammenhänge zu verstehen. Denn wenn wir von der Vergangenheit nichts wissen, verstehen wir auch unsere eigene Zeit nicht."
1945 stand die Welt an einem Punkt, der gern als Stunde Null bezeichnet wird - obwohl das eine umstrittene Bewertung ist. Das Nazireich war im Mai zusammengebrochen, Japan kapitulierte im September. Europa und Asien waren durch jahrelange Kampfhandlungen verwüstet. Millionen Verschleppte, Zwangsarbeiter, Flüchtlinge, Überlebende aus Konzentrationslagern warteten darauf, in ihre Heimat zurückkehren zu können.
Ian Buruma, Sohn eines niederländischen Vaters, der als Zwangsarbeiter in Deutschland unter barbarischen Umständen hatte leben, eher: vegetieren müssen, beschreibt, wie sein Vater die Rückkehr in die Normalität erlebte. Der Heimkehrer wurde von seinen Mitstudenten als erstes den schmerzhaften Erniedrigungen der archaischen Initiationsrituale unterworfen, die in studentischen Vereinigungen Usus waren. Was er in den Jahren zuvor durchgemacht hatte, interessierte niemanden - fast zwanghaft und brutal wurde Normalität hergestellt.
Erschütternde Episoden aus dem KZ
Erschütternd, fast erschreckend ist eine Szene aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen. Buruma erzählt, wie durch die rätselhaften Fügungen des Nachschubs nur wenige Tage nach der Befreiung eine Sendung Lippenstifte eintraf. Und zitiert einen britischen Augenzeugen:
"Ich glaube, dass dieser Lippenstift für die KZ-Häftlinge ein echter Segen war. Frauen lagen im Bett, (...) man sah sie durchs Lager wandern, mit nichts als einer Decke um die Schultern, aber mit scharlachroten Lippen. Endlich hatte jemand etwas unternommen, um sie wieder zu Individuen zu machen, sie waren Individuen, nicht mehr nur die tätowierte Nummer auf ihrem Arm."
Burumas Buch ist eine Querschnittsuntersuchung der Lage anno 1945. Es sammelt Berichte sowohl vom europäischen wie asiatischen Kriegsschauplatz, mit deutlicher Gewichtung auf Deutschland und Japan, dessen Geschichte der Autor schon in früheren Arbeiten beschrieben hat. Wie vollzog sich die Umwälzung nach der Übernahme durch die siegreichen Truppen? Im kollektiven Gedächtnis der Deutschen erscheinen zu diesem Stichwort naturgemäß zunächst die Berichte über die Vergewaltigungsorgien der Roten Armee oder auch, in geringerem Umfang, der französischen Truppen in ihrer Besatzungszone.
Buruma erwähnt dies natürlich, aber er erzählt auch breit von der Faszination, die in den westlichen Besatzungszonen die gutgekleideten, gut genährten, selbstbewussten Sieger bei den Frauen auslösten - ganz sicher in den befreiten Ländern Frankreich und Holland, aber durchaus auch im besiegten Deutschland selbst. Entsprechend groß war die Verbitterung und Wut der ausgemergelten und schuldbehafteten Männer gerade in Deutschland, die sich als Verlierer im doppelten Sinn abgehängt und bestraft sahen.
Buruma, der selbst nicht nur als Sachbuchautor, sondern auch als Romancier publiziert, bezieht sich in seiner Darstellung vielfach auf die Aufzeichnungen von Journalisten oder Tagebuchschreibern, auf Augenzeugen, aber auch auf Darstellungen in Romanen - diese zitiert er weitaus häufiger als etwa offizielle Dokumente. Somit entsteht eine Sicht gleichsam von unten, die sich mehr an den Erwartungen der normalen Menschen orientiert, wie denn nun die Zukunft neu geordnet werden sollte, als an den Vorstellungen der Macher. Unterschiedliche Themenkreise dieser Zeit hat Buruma durchgearbeitet - die spontanen Racheaktionen gegen Kollaborateure, den Schwarzmarkt und die sich neu organisierenden Verbrecherbanden, das Misstrauen der Davongekommenen, das sich gegen jene richtete, die unter den Besatzern gelitten hatten und nun in ihrem Opferstatus als Konkurrenz empfunden wurden.
Was lehrt uns die Geschichte?
Will man aus der Geschichte lernen, kann man Burumas Gesamtschau als Masterplan für das Verhalten in Diktaturen interpretieren: Sieh zu, dass du möglichst Karriere machst, knüpfe rechtzeitig ein Netzwerk aus Gleichgesinnten oder gleich Belasteten und halte dich bei ideologischen Äußerungen zurück. Die Geschichte lehrt, dass von den alten Eliten nur ein paar Symbolfiguren zur Rechenschaft gezogen werden, die Verwalter und Techniker finden immer Arbeit:
"Auch wenn so etwas wie Kollektivschuld nicht existiert, gibt es doch weitaus mehr Schuldige, als je vor Gericht gestellt werden. Dennoch ist die Aufarbeitung durch die Justiz zwingend. Das heißt nicht, dass Individuen als Sündenböcke herhalten müssen, (...) aber es gibt Prozesse, die sozusagen symbolisch sind, stellvertretend für andere, die nicht geführt werden können, weil die Betroffenen zu viele sind, weil man ihrer nicht habhaft wird, weil sie aus politischen Gründen unter Schutz stehen."
Ian Buruma ist Historiker genug, um anzuerkennen, dass die Dinge nun mal so laufen, aber er ist auch Romancier genug, um dann die Fallbeispiele so zu schildern, dass man seine Wut und Empörung aus dem Text herausliest. Er hat seine Geschichte des Jahres Null, wie es im englischen Original heißt, breit und farbig aufgefächert, mit nur selten sarkastischen Untertönen. Ein langes Kapitel schildert die Hoffnung der Westalliierten, man könne durch eine neue Weltordnung Kriege für die Zukunft ausschließen. Von einer Weltregierung und einer Weltpolizei wurde geträumt. Diese Träume sind nie Wirklichkeit geworden, aber man sieht, am besten hat sich noch der europäische Traum entwickelt, vielleicht, weil er auf einer jahrhundertealten Vision beruhte.
"Das Ideal eines vereinten Europas ist natürlich viel älter; es reicht mindestens bis zum Heiligen Römischen Reich im neunten Jahrhundert zurück. Seither hat es zahlreiche Wendungen durchlaufen, aber zwei Themen blieben immer gleich: zum einen das Ideal eines vereinten Christentums mit Europa als spirituellem und politischem Zentrum. (...) Das zweite, eng damit verwandte Ideal war ewiger Frieden."
Die Frage, ob der Islam zu Deutschland oder Europa gehöre, spielte damals noch keine Rolle. Am Ende steht Buruma in der Neujahrsnacht 1990 zusammen mit seinem Vater in Berlin, wo letzterer Zwangsarbeit hatte leisten müssen, und feiert das neue Jahr im wieder zusammenwachsenden Deutschland - auch das ein Wendepunkt. Mit einem grotesken Detail: Die Kämpfe in Berlin hatte der Vater 1945 ohne Verletzung überstanden, 1990 trifft ihn bei der Neujahrsfeier ein Böller zwischen die Augen. Was also lehrt uns Geschichte?
Ian Buruma: "45 – die Welt am Wendepunkt". Aus dem Englischen von Barbara Schaden. 432 Seiten, Hanser Verlag, 26 Euro.