Mehr als eine Million Menschen verhungerte, starb an Entkräftung oder Krankheit, als die Deutschen im Zweiten Weltkrieg Leningrad belagerten. Nahezu vollständig von der Versorgung mit Lebensmitteln abgeschnitten, nahm das Leben in der Stadt alptraumhafte Züge an. Leichen konnten nicht mehr bestattet werden und lagen in den Straßen.
Und dennoch – vielmehr: Gerade deshalb – versuchten die Behörden den Eindruck zu vermitteln, es gäbe noch einen Alltag in Leningrad. Aus diesem Grund wurde im August 1942 ein neues Werk von Dmitri Schostakowitsch aufgeführt – für ein hungerndes Publikum gespielt von Musikern, die eigens zu diesem Zweck von der Front abgezogen worden waren.
Musiker lenken vom Kriegsalltag ab
Angeblich ließ für die Dauer der Aufführung die Rote Armee ihre Abwehrgeschütze schweigen. Der Komponist war selbst unter den Eingeschlossenen gewesen, bis er aus der Stadt evakuiert wurde. Noch im September 1941 hatte Dmitri Schostakowitsch in einer Radioansprache erklärt:
"Vor einer Stunde stellte ich die Partituren zweier Sätze einer großen symphonischen Komposition fertig. Wenn ich es schaffe, den dritten und vierten Satz zu schreiben, dann werde ich sie meine Siebte Symphonie nennen können. Warum ich das erzähle? Damit die Radiohörer, die mir jetzt zuhören, wissen, dass das Leben in unserer Stadt normal weitergeht."
Diese heroische Entstehungsgeschichte der Leningrader Symphonie erzählt Patrick Bade in seinem Buch "Music Wars". Der englische Kulturhistoriker legt nichts weniger vor als eine umfassende Darstellung der Musik im Zweiten Weltkrieg, von der Klassik bis zum Swing, von New York über Berlin bis nach Moskau, mit einem Umweg über Kairo.
Dabei bieten allein die Entstehung und Wirkung der Siebten Symphonie genug Stoff für ein ganzes Buch. Sie verweist auf ein Muster, das bei allen kriegsführenden Nationen des Zweiten Weltkriegs zu finden ist. Als die Luftwaffe die englischen Großstädte bombardierte, fanden Kammerkonzerte in Bunkern und Kellern statt.
Leningrader Symphonie
Als die Rote Armee gegen Wien vorrückte, setzte der Gauleiter der Stadt, Baldur von Schirach, trotzig eine Aufführung von Wagners Götterdämmerung an. Das sollte die kulturelle Überlegenheit der Arier über die, wie von Schirach behauptete, amusische Nation Russland belegen.
Klassische Konzerte inmitten von Trümmern, Tod und Zerstörung standen symbolisch für ungebrochenen Kampfeswillen – und für die eigene Identität als Kulturnation, die man dem Gegner absprach. Alle Kriegsparteien reklamierten schließlich für sich, die Zivilisation gegen die Barbarei zu verteidigen. Die folgende Aufnahme des Rundfunkorchesters Berlin - Beethovens Klavierkonzert Nummer Fünf – entstand im Winter 1945. Während des Klaviersolos ist im Hintergrund deutlich das Feuern der Luftabwehr zu hören.
Patrick Bade beschreibt in seinem Buch überzeugend, wie wichtig Musik im Zweiten Weltkrieg wurde. Sie tröstete, lenkte ab und munterte auf. Gleichzeitig wurde sie zu einem Mittel der Propaganda. In den Schützengräben und an der sogenannten Heimatfront sollte sie die Moral stärken.
Dabei lernten die Kulturpolitiker schnell, dass klassische Konzerte – der Inbegriff der sogenannten Hochkultur – für die Kampfmoral weit weniger wichtig waren als Unterhaltungsmusik.
Explizit politische Propaganda spielte eine untergeordnete Rolle, auch in Deutschland. Ideologische Inhalte kamen dann an, wenn sie in Unterhaltung eingebettet waren. Die erfolgreichsten Lieder handelten von Sehnsucht, Treue und Eifersucht, von der erzwungenen Trennung, nicht vom Heldentum und der Nation. Sentimentale Schlager überbrückten die Entfernung zwischen den Soldaten an der Front und den Frauen in der Heimat.
Sentimentale Lieder über Sehnsucht und Treue
Der Kulturpolitik war das Sentimentale allerdings verdächtig. Ihre Funktionäre wussten, dass Heimweh und Sehnsucht nach der Liebsten in Defätismus umschlagen und aus Soldaten Deserteure machen kann.
Gerade Reichspropagandaminister Joseph Goebbels bekämpfte wütend jede „Rührseligkeit". Ein Lied hasste er ganz besonders.
Der romantische Schlager erzählt von Grundtatsachen des Lebens: von Liebe und Trennung, Begehren und Verlust. Davon können sich alle angesprochen fühlen, unabhängig von der Nationalität – erklärt der Historiker Patrick Bade.
"In Nordafrika, bei den Männern von Rommels Afrikakorps, und in ganz Europa hatte die eingängige Melodie eingeschlagen. Irgendwann wurde allabendlich um 22 Uhr damit der Sendeschluss angekündigt. Da hatte Lily Marleen schon längst die Grenzen zum Feindesland überwunden. Jeden Abend um 21 Uhr 55 kam es zwischen den verfeindeten deutschen und britischen Armeen, die in Hörentfernung voneinander ihre Lager hatten, deshalb zu einem kurzen Waffenstillstand. Lale Andersen meinte später, sie habe auf diese Weise täglich Hunderte Leben gerettet."
Der Kulturhistoriker Patrick Bade konzentriert sich ganz auf die Lebenswege der Komponisten und Interpreten. Es ist deutlich zu spüren, dass er selbst ein begeisterter Sammler und manchmal auch einfach ein Fan ist: Sein Buch ist randvoll mit Geschichten, teilweise auch Gerüchten, in Details gelegentlich ungenau. Und leider verdichtet der Autor die Fülle seines Materials kaum zu Thesen, was die Lektüre des 500 Seiten starken Werks etwas mühsam macht.
Immerhin werden durch dessen umfassende, internationale Perspektive die großen Entwicklungslinien sichtbar: Im Zweiten Weltkrieg erleben Unterhaltungsindustrie und Massenkultur ihren endgültigen Durchbruch, während sich die bürgerliche Musikpraxis in Nischen zurückzieht.
Seitdem ist die populäre Musik politisch entscheidend – und Liebeslieder für die Loyalität der Bevölkerung mindestens so wichtig wie Nationalhymnen.
Patrick Bade: "Music Wars 1937–1945. Propaganda, Götterfunken, Swing: Musik im Zweiten Weltkrieg". Hamburg: Laika-Verlag. Übersetzt von Heike Warth. 512 Seiten für € 34. ISBN: 978-3-944233-41-3.