Jürgen Zurheide: Die Lage in Brasilien ist einigermaßen verworren: Da gibt es auf der einen Seite Korruptionsvorwürfe gegen den früheren Präsidenten Lula, da gibt es Zweifel an der Unabhängigkeit der Justiz und natürlich erhebliche wirtschaftliche Probleme. Demonstrationen gibt es für und gegen die Regierung, und über all das wollen wir jetzt reden und etwas Licht in dieses Dunkel bringen mithilfe von Daniel Flemes, dem Politikwissenschaftler des GIGA-Instituts, den ich im Moment in Südamerika erreiche und zunächst einmal Guten Morgen sage!
Daniel Flemes: Guten Morgen, Herr Zurheide!
Zurheide: Beginnen wir doch zunächst mal mit einer ganz praktischen Frage: Wenn wir hier in Deutschland hören "Amtsenthebungsverfahren", dann laufen da bestimmte Dinge im Kopf ab, die aber nicht unbedingt mit dem zusammenpassen müssen, was da gerade in Brasilien passiert. Wenn ich da richtig informiert bin, ist da ein Amtsenthebungsverfahren, aber es geht eigentlich gar nicht um die aktuellen Dinge, die öffentlich diskutiert werden. Können Sie uns das ein bisschen erhellen?
Flemes: Ja, das ist richtig. In erster Linie geht es im Moment in der politischen Diskussion zum einen um die Wirtschaftskrise, zum anderen um Korruptionsfragen. Der Hintergrund des Amtsenthebungsverfahrens ist aber eine nicht ganz legitime Finanzpolitik der Präsidentin Dilma Rousseff, die letzten Endes vor den letzten Wahlen zurückliegt und eigentlich auch von allen Präsidenten vor ihr gepflegt wurde. Es geht darum, dass sie per Dekret Ausgaben genehmigt hat, ohne den Kongress einzubinden, mit dem Ziel, einen relativ ausgeglichenen Haushalt vorzulegen. Das ist das Hauptargument für das Impeachment-Verfahren in Brasilien.
Zurheide: Wie läuft das formal ab, und bringt sowas Erfolg, braucht man Mehrheiten dafür? Erklären Sie uns das auch bitte.
"Politische Mehrheiten sind ganz schwierig abzusehen"
Flemes: Es ist im Wesentlichen nicht so viel anders als das Impeachment-Verfahren in den USA. Es geht darum, dass ein Parlamentarier letzten Endes nur einen Antrag stellen muss auf ein Amtsenthebungsverfahren. Dafür genügt der Hinweis auf ein Delikt der Präsidentin, zum Beispiel Veruntreuung, Unredlichkeit, Amtsmissbrauch et cetera, und der Präsident des Unterhauses entscheidet dann formal, ob der Antrag im Parlament behandelt wird. Der Antrag geht dann in beide Kammern, wo jeweils eine Zwei-Drittel-Mehrheit benötigt wird, um die Präsidentin abzusetzen. Im Ergebnis würde dann der Vizepräsident das Amt übernehmen.
Zurheide: Ist denn diese Zwei-Drittel-Mehrheit im Moment in Sicht?
Flemes: Das ist nun wiederum ganz schwierig abzusehen. Um diese politischen Mehrheiten wird gerungen. Gestern wurde eine Untersuchungskommission im Kongress, also in einer der beiden Kammern des Parlaments gegründet. Diese Untersuchungskommission legt zum 15. April Ergebnisse vor, und auf Grundlage dieser Ergebnisse wird dann die erste Kammer abstimmen. Wenn da die Zwei-Drittel-Mehrheit zustande kommt, geht das Verfahren in den Senat, aber es ist ganz schwer abzusehen, wie dort abgestimmt wird, weil diese Abgeordneten nicht notwendigerweise aufgrund von Sachfragen abstimmen werden.
"Die Ermittlungen scheinen politisch motiviert zu sein"
Zurheide: Jetzt haben Sie sich geschickt dem Thema Korruption angenähert. Was liegt denn wirklich im Moment auf dem Tisch? Auch die Vorwürfe gegen den früheren Präsidenten Lula kann man so, kann man aber auch anders bewerten, zumindest die Sicht, die wir hier aus Europa haben. Da wir Sie im Moment in Brasilien erleben, würde ich gerne Ihre Einschätzung hören.
Flemes: Auch die Validität der Korruptionsvorwürfe gegen Lula da Silva ist derzeit noch schwer zu beurteilen aus der Ferne, wenn man nicht gerade Mitglied der Staatsanwaltschaft in Brasilien ist. Es geht im Kern darum, dass Lula da Silva durch korrupte Firmen begünstigt worden sein soll. Es gibt den Petrobras-Skandal, also der halbstaatliche brasilianische Energiekonzern, aber auch die großen Baufirmen wie Odebrecht waren darin verwickelt, und es geht angeblich um Zuwendungen von rund sieben Millionen Euro umgerechnet, die Lula von diesen Firmen erhalten haben soll. Wie das im Detail vonstattengegangen ist und wofür diese Gelder verwandt wurden oder wo die jetzt sind, das ist aber von der Staatsanwaltschaft noch nicht konkretisiert worden. Im Detail deswegen ist es schwer, sich da eine Meinung zu bilden, wie valide diese Ergebnisse sind, zum Teil auch, weil die Ermittlungen zumindest politisch motiviert scheinen. Ein konkreter Punkt, der an die Medien durchgestochen wurde, da geht es um eine Eigentumswohnung im Bundesstaat Sao Paulo, deren Besitz Lula den Behörden verschwiegen haben soll oder verschwiegen hat. Er behauptet aber, gar nicht Eigentümer dieser Wohnung zu sein. Sie sehen, das ist relativ verworren und von daher schwer zu beurteilen, was an diesen Korruptionsvorwürfen dran ist. Was valide scheint, sind illegale Spenden, unter anderem aus dem Petrobras-Konzern unter anderem an die Arbeiterpartei zur Wahlkampffinanzierung seit 2004, also während der Amtszeit von Lula da Silva auch. Das ist aber nicht Gegenstand bei derzeitigen Ermittlungen.
Zurheide: Was ist denn das insgesamt? Ist das im Moment ein Frontalangriff gewisser Kreise auf die Regierung, denen der ganze Kurs nicht passt und auch die Wahlergebnisse nicht passen, oder steht das im Zusammenhang mit der schwierigen wirtschaftlichen Lage, denn deshalb gehen die Menschen im Moment auf die Straße? Schichten Sie das noch mal ab.
"Staatsanwaltschaft agiert nicht notwendigerweise neutral"
Flemes: Sowohl als auch, Herr Zurheide. Das sind beides die zentralen Faktoren, die sowohl das Amtsenthebungsverfahren, was stark politisch motiviert scheint, voranbringen und motivieren, aber auch das Vorgehen der Staatsanwaltschaft gegen Lula da Silva jetzt konkret ist teils unangemessen. Also die Beantragung der Untersuchungshaft gegen den ehemaligen Präsidenten ist meines Erachtens unverhältnismäßig, weil keine Fluchtgefahr oder ähnliches besteht. Dann Telefonmitschnitte seitens der Bundespolizei der regierenden Präsidentin mit dem ehemaligen Präsidenten, die am nächsten Tag dann live im Fernsehen übertragen werden. Das sind alles Hinweise, dass sozusagen die Hauptmotivation doch politisch ist und dass man es mit einer Staatsanwaltschaft zu tun hat, die jetzt auch nicht notwendigerweise neutral agiert. Natürlich steht dahinter die Auseinandersetzung um das Wirtschafts- und Sozialmodell, um die Regierungspolitik sowohl von Lula da Silva als auch Dilma Rousseff, also der Gegensatz zwischen Umverteilungspolitiken gegenüber eines stärker wirtschaftsliberal geprägten Modells, was von der Opposition gewünscht und gefordert wird.
Zurheide: Wenn es denn jetzt Wahlen gibt – ich weiß, das ist eine schwierige Frage –, hätte denn dann diese Linie, die eher von früheren Großgrundbesitzern offensichtlich dominiert ist oder von denen, die eher besitzend sind, hätten die eine Mehrheit? Wie schätzen Sie das ein?
Flemes: Bei den letzten Wahlen, die relativ knapp ausgegangen sind, schien es in den Umfragen so, hat sich dann aber als falsch herausgestellt. Derzeit, wenn man die Massenkundgebungen in den brasilianischen Metropolen ansieht, spricht einiges dafür, dass Dilma Rousseff abgewählt würde. Die Frage ist aber, was wäre der Alternativkandidat sowohl der Opposition als auch – Dilma Rousseff kann kein weiteres Mal kandidieren –, welches wäre also der PT-Kandidat. Lula da Silva verfügt trotz all dieser Vorwürfe nach wie vor über relativ hohe Zustimmungswerte in der Bevölkerung. Ich habe es zuletzt nicht mehr recherchiert, aber ich denke, die liegen nach wie vor zwischen 50 und 60 Prozent, was angesichts der schweren Vorwürfe immer noch sehr viel ist.
Zurheide: Schadet ihm denn dieses Manöver, was man jetzt versucht hat, in die Regierung reinzuholen, um ihm Immunität zu geben? Das ist ja zumindest die Wertung, die in Europa ankommt. Wenn sie denn richtig ist.
"Lula da Silva wird der starke Mann in der PT-Regierung"
Flemes: Diese Volte ist ja gestern erst vonstattengegangen, dass er zum Minister der Casa Civil, also sowas wie einem Kabinettschef oder Kabinettsminister – Kanzleramtsminister würde man in Deutschland sagen – ernannt wurde. Insofern lässt sich das noch nicht sagen, inwiefern ihm das schadet, was Zahlen, Statistiken oder Umfragen belegen, aber ich denke, wir können stark davon ausgehen, weil ja das politische Kapital, insbesondere Lula da Silvas, sehr stark aus den Idealen und aus den Werten, also Umverteilung, Gerechtigkeit, Armutsbekämpfung, letztlich auch Aufrichtigkeit und damit die Abgrenzung von den Amtsvorgängern und traditionellen politischen Eliten Brasiliens, das sind ja die Werte, mit denen er identifiziert wird und mit denen er sein politisches Kapital gewonnen hat, und jetzt diesen juristischen Trick, um der Strafverfolgung zu entgehen, kann letztlich seiner Zustimmung nur abträglich sein. Die Frage ist aber natürlich, wie sehr wird er an Zustimmung verlieren mit Blick auf mögliche kommende Präsidentschaftswahlen, wo er sich immer stärker in Position bringt, noch mal anzutreten bei den nächsten Präsidentschaftswahlen. Letzten Endes, das ist jetzt die moralisch-juristische Bewertung. Wenn man das Ganze aber stärker politisch betrachtet, ist natürlich davon auszugehen, dass Lula da Silva der starke Mann jetzt in der PT-Regierung, auf den alles ankommt. Vielleicht kann man sich die Konstellation mit der russischen Konstellation mit Medwedew-Putin gut erklären: Putin, der eine Zeit lang als Premierminister agiert hat, aber dennoch Medwedew als Präsidenten letztlich in den Schatten gestellt hat. Politisch wird man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen können, dass sich eine ähnliche Lage jetzt für den Rest der Amtszeit von Dilma Rousseff abzeichnen wird.
Zurheide: Letzte Frage mit Bitte um eine kürzere Antwort: Die Militärs, welche Rollen werden sie spielen? Die haben ja in Brasilien traditionell immer eine starke Rolle. Ich habe gehört, dass die Offiziere in den Kasernen bleiben müssen. Was heißt das?
Flemes: Das heißt nicht notwendigerweise, dass das Militär mobilisiert wird in näherer Zukunft, sagen wir, aber es ist natürlich eine gefährliche Mischung. Die brasilianische Demokratie befindet sich zweifelsohne in einer schweren Krise. Das gesamt politische System und das Ganze verbunden mit einer veritablen Wirtschaftskrise ist ein fruchtbarer Boden für autoritäre politische Konzepte.
Zurheide: Das war ein Interview mit dem Kollegen Daniel Flemes, Politikwissenschaftler. Wir haben es kurz vor der Sendung aufgezeichnet.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.