In den vergangenen anderthalb Jahren kamen so viele Menschen nach Deutschland wie zuvor lange nicht. Die Bundesregierung verhalf vom 4. September 2015 an Tausenden Flüchtlingen zur Einreise aus Ungarn, Hunderttausende sollten in den Monaten darauf folgen. Öffentlich verteidigte Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre Entscheidung lange gegen immer lauter werdende Kritik. Gleichzeitig versuchte sie, die Einwanderungszahlen wieder zu verringern - bis heute: Auch ihre Reisen nach Tunesien und Ägypten in der Woche standen unter dem Motto "Fluchtursachenbekämpfung".
Für Jochen Oltmer ist das jedoch nicht mehr als eine Hohlformel - der Kanzlerin gehe es um "Immobilisierung", sagte der Osnabrücker Migrationsforscher im Deutschlandfunk, darum, "eine in Afrika eine Art Schutzzone für Europa zu schaffen". Merkel wolle einen Beitrag dazu leisten, "dass Migrationsbewegungen behindert oder vielleicht sogar verhindert werden und Europa mehr oder minder frei bleibt von Bewegungen aus dem Nahen Osten und Afrika". Dieser Ansatz sei zudem nicht neu, erinnert Oltmer: Bereits seit Anfang der 1990er-Jahre schließe Berlin entsprechende Abkommen ab. Doch mit dem Arabischen Frühling sei dieses System zusammengebrochen. Vor dem Hintergrund der "großen Zuwanderung von 2015 und 2016" gehe es nun darum, das System wieder aufzubauen und zu erweitern.
"Wir betrachten Integration aus Polizeiakten heraus"
Für den Migrationsforscher ist dieser Ansatz kennzeichnend für eine Perspektive auf das Thema, die gleichermaßen "weltvergessen" und "geschichtsblind" sei: In aktuellen Diskussionen spiele es keine Rolle, "dass die Bundesrepublik seit vielen Jahrhunderten in ein globales Migrationsgeschehen eingebunden ist". Zudem ignoriere die Politik "über viele Jahrzehnte gesammelte Informationen über Migrationsbewegungen; dabei wäre es wichtig, fordert Oltmer, stärker diese Erfahrungen "einzubinden in politische Maßnahmen". So sei die sogenannte Fluchtursachenbekämpfung zwar ein "hehres Ziel", aber am Ende "nicht mehr als ein Schlagwort".
Tatsächliche Fluchtursachen seien "Kriege und politische Führer, die Gewalt ausüben und die Menschen vertreiben". Doch stünde hinter den Maßnahmen einer "Fluchtursachenbekämpfung" die "Vorstellung, man könne durch Entwicklungshilfe und -zusammenarbeit einen Beitrag dazu leisten, dass Menschen in Asien oder Afrika immobilisiert werden". Dabei sei es "klar", betonte auch mit Blick auf Syrien der Professor für Neueste Geschichte der Migration am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück, "dass die Möglichkeiten, solche Gewalt zu bekämpfen, sehr begrenzt sind". Zudem sei es bekannt, "dass man mit Entwicklungszusammenarbeit Menschen nicht immobilisieren kann". Die "schlichte Vorstellung", dass sobald es Menschen besser gehe, weniger Mobilität stattfinde, sei wissenschaftlich längst wiederlegt. "Das ist Unsinn", kritisiert Oltmer und ergänzt: Je ärmer Menschen seien, desto weniger könnten sie sich auf den Weg machen.
Mit Blick auf die innerdeutsche Migrationsdebatte beklagt Oltmer eine Fokussierung auf Probleme und Konflikte. "Wir betrachten Integration aus Polizeiakten heraus." Einzelne Phänomene des Scheiterns würden auf den Gesamtzusammenhang bezogen, die "vielmillionenfache Integrationen", die in den vergangenen Jahrzehnten gelungen sei, spiele dagegen keine Rolle.