Christiane Florin: Wir haben im ersten Beitrag von religiös musikalischen Menschen gehört, die vom Gottesdienst bedient sind. Matthias Sellmann ist Professor für Pastoraltheologie an der Universität Bochum und leitet das Zentrum für angewandte Pastoralforschung ZAP, eine katholische Einrichtung. Ist es die Aufgabe eines anwendenden Pastoralforschers, die Kirchen wieder voller zu machen?
Matthias Sellmann: Ja. Unter anderem ist das ein Ziel. Andererseits geht es aber auch um die Verbesserung der kirchlichen Organisation, Verbesserung der kirchlichen Ehrenamtsarbeit, Verbesserung der Ausbildung und all der Organisationsstellschrauben, mit denen man einfach eine bessere Dienstleistung als Kirche erbringt.
Florin: Langweilig seien die Gottesdienste, sagen ehemalige Besucher. Langeweile ist ein sehr subjektives Kriterium, oder?
Sellmann: Subjektiv ja, gleichwohl ist es natürlich absolut zu respektieren, wenn Menschen es im Gottesdienst langweilig finden. Das empfinden ja viele Menschen so. Man muss wahrscheinlich über Religion sprechen und über religiöse Kultur, um zu verstehen, dass Religion ganz viel mit Schönheit, ganz viel mit Brillanz, ganz viel mit Abwechslung zu tun hat, aber tatsächlich auch einiges mit Routine, mit Pflicht, und vielleicht auch ein bisschen mit Langeweile. Wir haben alte Statements von Heiligen, echten Profis wie Therese von Lisieux und Augustinus, die klagen auch schon darüber, dass sie schlicht einpennen in der Kirche.
Florin: Was haben die als Gegenmittel angewandt?
Sellmann: Die haben an ihrer Gottesbeziehung gearbeitet. Ich glaube, dass ist die Idee. Wir müssen auch darüber sprechen, was ein Gottesdienst soll und was ein Qualitätskriterium ist. Und da würde ich sagen: Das ist nicht Unterhaltung oder Spannung, ich glaube, es ist Inspiration. Die Idee von Christsein heißt ja, dass ich bei mir ankomme, wenn ich von mir wegkomme. Deswegen muss ein Gottesdienst es schaffen, dass ich von mir wegkomme. Ich muss mich auf Gott richten und die Welt und den Anderen, meinen nächsten. Wenn das ein Gottesdienst schafft, dann inspiriert er mich, dann ist er etwas für mich. Und gleichzeitig auch etwas für andere.
Individueller und intimer Vorgang
Florin: Der Schriftsteller Martin Mosebach hat vor Jahren schon die "Häresie der Formlosigkeit" im katholischen Gottesdienst beklagt, eine junge Bloggerin kritisierte kürzlich die Infantilisierung. Sie schrieb zwar über Kindergottesdienste, das war für sie das Indiz dafür, dass auch der Rest der Kirche ziemlich infantil daherkommt und schon Kleinkinder unterfordert. Hat "die" Kirche zu viel Ästhetik preisgegeben, sieht die Liturgie zu alltäglich aus?
Sellmann: Ich glaube nicht. Vielleicht bin ich auch privilegiert oder ein Glückspilz, aber ich habe so großartige Gottesdienste erlebt und so großartige liturgische Räume, dass ich das nicht sagen würde. Ich würde sogar so weit gehen und sagen, eine Liturgie ist dann gut, wenn sie alltäglich ist. Ich kann wenig damit anfangen, wenn das Formprinzip - auch bei Mosebach oder bei dieser Bloggerin habe ich mir das auch angeguckt -, wenn das quasi übersteigert wird und damit so ein Jenseitskriterium aufgerichtet wird, mit dem man dann irgendwie alles verzaubern und narkotisieren will, das würde ich gerne mal als Gegenteil unterstellen. Meiner Meinung nach ist eine Messe oder eine Liturgie, ein Gottesdienst dann gut, wenn mein Alltag Platz hat und wenn er da verwandelt wird. Das würde ich dann schon verlangen. Also dass mein Alltag nicht einfach nur dupliziert wird, sondern dass er verwandelt wird. Deswegen ist für mich persönlich immer der entscheidende Moment in so einer Eucharistiefeier die Gabenbereitung, weil da versuche ich so, was ich in der Woche gemacht habe, verwandeln zu lassen. Das bringe ich dann alles dahin und freue mich, dass dieses Ritual es mir erlaubt, dass die Dinge verwandelt werden. Und deswegen wär ich immer für eine alltägliche, alltagsnahe Liturgie.
Florin: Aber die Gabenbereitung ist gerade ein Teil der Messe, der nicht verändert wird, anders zum Beispiel als die Fürbitten, die ja der Situation immer angepasst werden, wo ja manchmal auch die Gottesdienstteilnehmer eigenen Fürbitten formulieren. Aber die Gabenbereitung zum Beispiel, die gehört ja zu dem Teil, der, wenn ich mal das Zitat aus dem Beitrag vorhin aufnehme, der doch eher langweilig und unindividuell ist. Wie lassen Sie sich da verwandeln?
Sellmann: Ja ich bin es, es ist meine Woche, die da vorne auf den Altar gebracht wird. Es ist mein Leben, es sind meine Erfolge, aber auch meine Ängste, meine Sachen, wo ich es geschafft habe, als Christ zu leben und vor allem meine Situation, die ich nicht geschafft habe, als Christ zu leben. Die sind alle da vorne, deswegen ist es für mich ein sehr individueller, auch intimer Vorgang. Und ich bin froh, dass der nicht durch Interpretationen oder Kommentare oder sowas irgendwie in irgendeine Richtung gedreht wird. Weil ich finde dieses Ritual, das ist menschheitlich und weisheitlich total verstehbar. Es wird etwas nach vorne gebracht und das wird in die Höhe gehoben und das wird mit guten Sätzen - um das jetzt mal allgemein zu sagen - wird das jetzt gesprochen. Und das finde ich, da kann jeder was reinlesen und da kann jeder auch, glaube ich, was mit solchen Gesten anfangen.
"Die Frage nach Qualität musste früher nie gestellt werden"
Florin: Das heißt aber, Sie arbeiten mehr an sich als der Priester da vorne an seinem Gottesdienst gearbeitet hat?
Sellmann: Das will ich nicht unterstellen.
Florin: Klang gerade so.
Sellmann: Also optimalerweise machen da alle ihren guten Job. Nicht nur ich und der Priester, sondern auch meine Nebenleute und der Organist und der Botaniker und der Mensch, der eine gute Kirche gebaut hat, alle müssen natürlich zusammen wirken.
Florin: Gibt es ein Qualitätsproblem in Gottesdiensten?
Sellmann: Ich hatte eingangs gesagt, wir sind als Kirche in einem wirklich großen Übergang. Und den kann man glaube ich sehr schlaglichtartig durchaus kurz schließen den Übergang, mit einer Überschrift, dass wir so von der Pflicht zur Freiheit kommen. Die Frage nach Qualität musste früher nie gestellt werden in einem Setting, in dem es um Pflicht ging und Routine und Anstand und so weiter. Das ist heute aber eine ganz wichtige Frage und deswegen glaube ich, ja, es gibt ein Qualitätsproblem, es gibt auch ein Qualitätsbewusstseinsproblem. Das liegt aber nicht daran, dass Leute was falsch machen. Das liegt daran, sie es bisher gar nicht gewohnt sind, diese Frage innerhalb von Kirche an uns ran zu lassen.
"Keine Kusspflicht"
Florin: Es geht um Freiheit, aber die Sonntagspflicht, die gibt es ja nun noch. Laut Kirchenrecht ist ja der Gläubige verpflichtet, sonntags in die heilige Messe zu gehen, der Katholik. Warum fühlen sich so wenige daran gebunden?
Sellmann: Das ist sicherlich auch Teil dieses Übergangs, in dem wir sind. Also dass wir so diese ganze Idee von religiöser Schönheit, von religiöser Virtuosität sehr schnell mit solchen Dingen wie Pflicht, Gültigkeit doch sehr unattraktiv machen. Ich sage mal so: Meine Frau hat sicher auch das Recht darauf, dass ich sie umarme und küsse, aber niemand würde ja noch von der Kusspflicht noch heute sprechen.
Florin: Aber die Kirche ist weniger zurückhaltend, was die Pflichten anbetrifft. Die sind formuliert.
Sellmann: Ja. Die Frage ist jetzt, für wen das jetzt eigentlich gilt. Also ich würde es gerne so interpretieren wollen. Dass es eher um eine Selbstverpflichtung von jemandem geht, der mal zu Gott gesagt hat, ich möchte zu dir gehören und du sollst mich bestimmen dürfen. Also ich gebe Ihnen schon Recht, dass das so nicht mehr zu vermitteln ist und dass das meiner Meinung nach auch gut ist, dass wir rauskommen aus dieser Idee, Religion muss was mit Pflicht und mit Muss und mit diesen ganzen Böden zu tun haben, weil dadurch die ganze Schönheit - gerade einer liturgischen Feier - völlig flöten geht.
"Dienst klingt blöd, beinhaltet aber etwas Tolles"
Florin: Das Wort 'Dienst' in 'Gottesdienst' klingt auch nicht so nach Brillanz und nach Schönheit. Wer dient da wem?
Sellmann: Was die Kirche da Sonntag für Sonntag macht, aber natürlich auch Werktag für Werktag, - und auch auf den Friedhöfen, mit den Kindern, in den Kindertagesstätten, in den Altenheimen und in den Krankenhäusern -, ist eine riesige Dienstleistung an der religiösen Kultur, aber auch, glaube ich, an der humanen Kultur der Deutschen. Da wird ein starkes, rituelles Wissen angeboten, eine starke Idee, geschützte Räume für Rituale, für die Interpretation des eigenen Lebens werden angeboten, es werden irrsinnig schöne und starke Texte vorgelesen. Deswegen würde ich erstmal sagen, da ist eine ganz große Dienstleistung - der evangelischen Kirche, der katholischen Kirche - an der deutschen Kultur. Dann würden wir theologisch natürlich sagen, dass Gott dort einen Dienst leisten möchte an uns, das heißt, er möchte sich zur Verfügung stellen, um unsere Leben zu beleben. Und untereinander sind wir sicher auch in so einer Dienstleistung, also in einer Dienstbeziehung zueinander, weil ein christlicher Gottesdienst immer beinhaltet, dass man sich für den anderen mitverantwortlich fühlt. Also dieser Begriff 'Dienst' klingt blöd, beinhaltet aber was tolles.
Florin: Der ehemalige Münsteraner Pfarrer Thomas Frings beklagt, dass die Gemeindemitglieder eine Konsumhaltung an den Tag legen. Eltern wollen zum Beispiel eine schöne Erstkommunionfeier, werden danach aber nie mehr gesehen und die Kinder auch nicht. Wo stimmt da etwas nicht: Bei den Gemeindemitgliedern oder beim Pfarrer?
Sellmann: Das Buch von Pfarrer Frings ist deswegen so bedrückend, weil da sieht man einfach einen Priester, der ist quasi unter anderen Vorgaben gestartet und merkt jetzt, dass sich quasi, dass was er sich von seinem Beruf und von seiner Berufung versprochen hat, dass das einfach nicht mehr aufgeht, und das führt zu so einem Grundgefühl von Vergeblichkeit. Und das tut einem weh, zu sehen.
"Hochzeit, Kommunion - das sind riesige Schlager"
Florin: Er ist ja nicht der Einzige, er spricht, glaube ich, vielen aus der Seele.
Sellmann: Nein, nein. Es ist, glaube ich, für die Priester, speziell für die Priester ein ganz schwieriger Prozess gerade, einfach zu sehen, dass Menschen - wenn ich das nochmal wiederholen darf - sich von der Pflicht in die Freiheit wegführen. Also das können wir durchaus ganz salopp so sagen. Die Leute machen heute, was sie wollen. Und das ist ja ein total begrüßenswerter Zustand, das möchte ich auch sehr deutlich dazu sagen. Bloß, wir sind es überhaupt nicht gewohnt. Wer heute seit 20, 30 Jahren im kirchlichen Dienst arbeitet, ist das nicht gewohnt, dass seine Berufsrolle zum Beispiel darin besteht, überhaupt erstmal Aufmerksamkeit zu verdienen, die konnte man voraussetzen. Und in Pfarrer Frings' Buch kristallisiert sich sehr deutlich und biografisch, irgendwie auch tragisch, welche Schmerzen das verursacht in einer Berufsbiografie.
Jetzt muss man allerdings auch sagen, auch andere Berufe machen Veränderungen durch und auch in anderen Berufen gibt es solche Änderungen des Berufsbildes. Von daher will ich das jetzt auch nicht idealisieren oder romantisieren. Diese Kasualien, also Hochzeit, Beerdigungen, Erstkommunion, sind der riesige Schlager in der Gunst der Deutschen, wenn es um die katholische Kirche geht. Da findet eine vollständige Begegnung zwischen den Bürgerinnen und Bürgern mit ihrer Kirche statt. Deshalb gibt es eine große Anstrengung, diese Lebenswendefeiern oder Kasualien sehr viel stärker zu gewichten und viel ernster zu nehmen und gerade nicht in diese Haltung zu kommen "Die kommen ja nur einmal und dann sind sie wieder weg."
Florin: Heißt das, möglichst viele Wünsche der Kunden zu erfüllen. Also jedes Lied zum Beispiel bei der Hochzeit zu spielen, das sich das Brautpaar wünscht, alle Kleider zu erlauben, die sich die Eltern von Kommunionkindern wünschen?
Sellmann: Es geht da sicher auch immer um Klugheit und um ein intelligentes Verbinden mit einer liturgischen Vorgabe. Man darf die Kirche jetzt auch nicht aktiv hindern von Gott zu sprechen, aber es gibt einen großen Formenreichtum und eine große Plastizität dieser Kasualienfeiern. Es ist eine Form von pastoralem Fingerspitzengefühl. Wenn da Eheleute sind, die ihre Liebe mit einem bestimmten Song verbinden, und immer wenn sie sich streiten, über diesen Song wieder versöhnt werden. Ich würde da eher für Gelassenheit plädieren. Immer bei Bewahrung weder des Verrates an den Eheleuten noch des Verrates am Sakrament.
"Spektakulär, wie fehlerfreundlich die Deutschen mit ihrer Kirche sind"
Florin: Werden Seelsorger dazu ausgebildet beim Publikum anzukommen?
Sellmann: Ja, wenn wir das Ankommen des Gottessohnes auf der Erde feiern, dann muss Kirche auch mal ankommen. Es gibt in der Priesterausbildung sehr viel Unterricht, zum Tiel auch mit Schauspielern, mit Rhetoriktrainern. Es gibt eine neue Unterrichtsform namens Presiding, da lernt man, wie man mit Gesten eine liturgische Atmophäre schafft, wie man gespräche führt. Das muss auch so sein. Ein Arzt muss hervorragend mit seinen Röntgenapparaten umgehen können, ein Priester muss es schaffen, religiöse Atmosphären zu erzeugen.
Florin: Aber man merkt nicht unbedingt, dass Publikumserfolg in der Kirche eine wichtige Kategorie ist.
Sellmann: Ich würde davor warnen, nur den Gottesdienstbesuch als Indikator dafür zu nehmen, was die Deutschen über ihre Kirche denken. Die Prestigewerte für Priester sind sehr hoch. Die Zustimmungswerte in der Kirche zu verbleiben, sind sehr hoch. Die Bereitschaft Kirchensteuer zu zahlen finde ich spektakulär. Ich finde es auch spektakulär, wie fehlerfreundlich die Deutschen mit ihrer Kirche sind.
Dom mit Duft
Florin: Weil sie trotz der Skandale dabei bleiben?
Sellmann: Ja. Ich lese aus diesen Dingen eine starke Erwartung. "Kirche arbeite vernünftig. In der Dosis möchte wir dich nutzen, wie wir das bestimmen." Das ist wieder das Thema von Pflicht zur Freiheit. Aber die Deutschen sind grundsätzlich - anders kann ich die Zahlen nicht interpretieren – froh, dass es die evangelische und die katholische Kirche gibt. Die Zufriedenheit mit den Kasualien ist riesig.
Florin: Während der Spielemesse Gamescom 2016 gab es im Kölner Dom eine Licht- und Klanginstallation, die zehntausende Besucher angezogen hat, darunter viele junge Leute. Sie waren der Ideengeber dazu. Was war daran so anziehend?
Sellmann: Wir waren vom ZAP sogar die Durchführer, die Macher des Ganzen. Wir haben die erste moderne Beduftung einer Kathedrale gemacht, wir haben mit Technik gearbeitet, ganz stark mit Maschinen und industriellen Dingen. Da haben 50.000 Leute zweieinhalb Stunden angestanden, um in den Kölner Dom zu kommen, der nachts geöffnet war. Das war ein sehr beeindruckendes Erlebnis. Wir haben eine Lehre daraus gezogen: Kirche, wenn du 10 Zentimeter auf die Leute zugehst, in deren Welt hinein, dann kommen die dir 100 Meter entgegegen.
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