Im Unterschied zu den Blockbusterschauen der klassischen Moderne haben die Großausstellungen zeitgenössischer Kunst wenig Meisterliches zu bieten. Ja, die Kategorie Meisterwerk ist der Gegenwartskunst fremd geworden. Und die Malerei, einst das Leitmedium der bildenden Kunst, spielt in den Biennalen allenfalls noch eine untergeordnete Rolle. Es ist gerade ihre Tradition, die die ehemalige Königsdisziplin heute als Last mit sich schleppt. Auch deshalb gegenwärtig so viel Installation, Performance, Mixed Media. Vieles von dem, was bei den Biennalen favorisiert wird, hat das kritische Urteil der Fachwelt noch gar nicht bestanden – wird es doch eigens für die großen Ausstellungen produziert.
Anders als Picasso, Matisse und Klee sind auch die zeitgenössischen Künstler dem großen Publikum kaum bekannt. Und manches wäre nicht mal als Kunst erkennbar, würde es nicht unter diesem Namen verhandelt. Und doch ist Gegenwartskunst gefragt wie nie zuvor.
Chiffren für Rätsel und Sinn
Wie die Kritik haben auch die Besucher gelernt, noch in den unscheinbarsten Alltagsdingen Chiffren für Rätsel und Sinn einer heutigen Existenz zu erkennen, indem sie das Bekannte plötzlich noch einmal irgendwie anders oder in seiner ganzen Gewöhnlichkeit neu sehen – wie einen Schrotthaufen hinterm Bahnhof, das Selfie, das bei Instagram gepostet wurde, das Labor eines Physikers.
Oder einen Bumerang, der vom Dach eines Pavillons in die Lüfte geworfen wird. Das Publikum hat erkannt, dass Genie jedenfalls keine notwendige Bedingung mehr darstellt, um die Welt um uns herum zu deuten. Und dass auch besondere technische Fähigkeiten – heute sogenannte Skills – kein Garant mehr für eine überzeugende Aussage sind. Auf die Idee kommt's an.
Das Faszinosum zeitgenössischer Kunst verdankt sich gerade auch dieser Tatsache, wie selbstverständlich hier einem an sich belanglosen Gegenstand ideeller – übrigens auch materieller – Wert zugeschrieben werden kann. Die Konzeptkunst ist offensichtlich angekommen beim Publikum.
Dieses fahndet in der Kunst nach Zeitgenossenschaft seiner selbst. Und das bedeutet, an einer globalen Existenz teilzuhaben. Seit dem Wendejahr 1989 haben sich Biennalen überall auf der Welt neu gegründet. Sie bieten sich als "Ursituation der Globalisierung" dar, hat der Kunsthistoriker Hans Belting festgestellt. Und es versteht sich von selbst, dass man nicht mehr nur Künstlern aus New York, London, Berlin oder Paris begegnet, sie stammen auch aus Beijing, Mumbai und Seoul, aus Istanbul, dem Libanon und dem Gazastreifen.
Utopien der Modernen verloren gegangen
Da kann es nicht verwundern, dass es vor allem die Krisen der Gegenwart sind, die die zeitgenössische Kunst mit den ihr eigenen Mitteln bespiegelt: politische, wirtschaftliche, soziale Krisen. In dieser Beschreibung der eigenen Zeit sind ihr die Utopien der Moderne verloren gegangen. Stattdessen beschäftigt sie sich mit deren ungelösten Problemen: Gegenwartskunst versteht sich so gesehen heute zu weiten Teilen als Moderne-Kritik. Sie schärft eher ein geschichtliches Problembewusstsein, als den Blick in die Zukunft zu richten, und konzentriert sich weitgehend – auch darin im Wortsinne zeitgenössisch – auf das Hier und Jetzt. So fragt sie zum Beispiel, wie sich Ökonomie und Politik, Ästhetik und Ethik heute zueinander verhalten. Darin berührt sie sich mit einer philosophischen Essayistik, wie sie von Autoren wie Judith Butler, Chantal Mouffe oder Jacques Rancière geprägt wird.
Sogar die Standorte der Großausstellungen werden mittlerweile mobil. So eröffnet die Documenta 2017 ihre Pforten nicht nur in Kassel, sondern auch in Athen. Sie schlägt ihr Lager an einem Schauplatz gegenwärtiger Krise auf und demonstriert damit, wie Solidarität konkret aussehen kann: indem sich die Kunst bewegt. Wie sagt der britische Philosoph Peter Osborne? Zeitgenössische Kunst ist "anywhere or not at all" – überall oder überhaupt nicht.