"Wir ermutigen die Opposition nicht. Die Kirche ist auch keine Zufluchtsstätte für Oppositionelle. Die Kirche verteidigt keine eigene politische Position, sondern ethische Prinzipien. Sie dient der Gesellschaft, indem sie diese ethischen Prinzipien verteidigt, die sich auf den Menschen beziehen. Letztendlich geht es um die menschliche Würde. Zu den Prinzipien gehört natürlich auch die Meinungsfreiheit - und in den Räumen der Kirche wird die Meinungsfreiheit respektiert."
Gustavo Andujar ist Direktor des Centro Cultural, des Kulturzentrums Felix Varela der katholischen Kirche und Herausgeber der Zeitschrift Espacio Laical. Diesen Titel könnte man mit "Raum für Weltliches" übersetzen. Viermal im Jahr verwandelt sich die große Aula des Centro Cultural unweit der Kathedrale und des Hafens von Havanna in ein Debattenforum des Espacio Laical. Die Themen sind – vielleicht auf den ersten Blick – unverfänglich. Etwa wenn ein vierköpfiges Panel vor 40 bis 50 Personen aller Altersgruppen und Gesellschaftsschichten über Glück diskutiert.
Misstrauen im Alltag
"An diesem Tag meldete sich jemand zu Wort, der wegen seiner politischen Überzeugungen viele Probleme im Leben hatte. Er hat sich den Frust von der Seele gesprochen. Das war ein schwieriger Augenblick. Es schmerzt, wenn man hört, welch schwierige Zeiten Menschen durchmachen."
Sagt Gustavo Andujar. Er ist stolz. Den anderen reden lassen, zuhören lernen ist für den Direktor des Kulturzentrums eines der Ziele seines Forums. Es wirkt wie eine kleine Oase. Seit einigen Jahren schon existiert sie. Haben Kirche und Staat auf Kuba einen Modus Vivendi gefunden?
Artikel 8 der Verfassung garantiert Religionsfreiheit. Klare Grenzen zwischen Religion und Politik zu ziehen, fällt schwer. Und obwohl die katholische Kirche maßgeblich die Annäherung zwischen Kuba und den USA unter Präsident Obama vermittelt hatte, spürt Gustavo Andujar im Alltag immer noch Misstrauen.
"Gelegentlich engt man unseren Handlungsspielraum ein. Da werden Genehmigungen für bestimmte Aktivitäten nicht erteilt. Das bedauere ich sehr, weil ich glaube, dass es im Wesen und an den Möglichkeiten der Kirche liegt, zu dienen."
Nicht gelduldet, sondern willkommen?
Immer häufiger weicht der Argwohn jedoch der Not: Da wo humanitäres Engagement gefragt ist, sind sie auch auf Kuba nicht nur geduldet, sondern willkommen. Die Katholiken, aber auch die Evangelikalen oder humanitäre Vereinigungen wie die Freimaurer. Rund eine Viertel Million evangelische Christen gibt es auf der Insel. Seit Obamas Besuch verstärken sie ihre Aktivitäten, kommen Missionare und Gläubige aus den USA. Projekte zur AIDS-Prävention, Ausbildung der Bauern, Projekte für nachhaltige Landwirtschaft sind keine Tabus mehr.
Als Konkurrenz sehen die Katholiken die Evangelikalen nicht unbedingt, obwohl es in der katholischen Kirche Kubas akute Nachwuchssorgen gibt. Auf der gesamten Insel gibt es bei einer Bevölkerung von über 11 Millionen nur 300 katholische Seelsorger, und die kommen meist als Missionare aus dem Ausland. Sechzig Prozent der Kubaner sind katholisch getauft, schon allein, weil dies Voraussetzung für die Santería ist. In der Santería verschmelzen katholischer Glaube, insbesondere die Heiligenverehrung und Elemente der afrikanischen Religionen des Yoruba- oder Bantuvolkes miteinander. Es ist die eigentliche Religion der meisten Kubaner, eingeführt von den Sklaven aus Westafrika, die den Glauben an ihre Gottheiten beibehielten. Lange Zeit ist die Santería von den Kolonialherren und der katholischen Kirche unterdrückt worden, wie Orlando Martinez, Priester der Santería und Direktor der Casa del Caribe - des karibischen Kulturzentrums in Santiago de Cuba - rekapituliert:
"Die Revolution hat meines Erachtens aber auch dazu beigetragen, dass die katholische Kirche ihre Haltung zur Santería gelockert hat."
Nach dem Motto: Besser irgendein Glaube als der Atheismus, der nach sowjetischem Vorbild auf Kuba vor allem in den 60er und 70er Jahren propagiert wurde?
Erst relativ spät wurden Gemeinschaften wie die 'Yoruba-Gesellschaft für Santería' anerkannt, erläutert ihr Vorsitzender José Manuel Perez:
"Nach dem Sieg der Revolution wurden Maßnahmen gegen die Religion ergriffen. Der Kult hatte damals viele Gegner. Die haben sich geirrt. Später haben die Revolutionsführer Länder wie Angola und Äthiopien im Krieg unterstützt und sogar Santería-Priester dahin geschickt. Heute ist die Regierung tolerant gegenüber der Religion und hilft den Priestern."
Freimaurer mit Sonderstatus
Die Einsicht kam mit der akuten Versorgungsnotlage auf Kuba nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in den 1990er Jahren. Seither wurde weniger dogmatisch gegen Religionen, synkretistische Kulte oder Vereinigungen wie die Freimaurer vorgegangen, deren Ziel die Humanität ist. Auch die Freimaurer erlebten freilich Höhen und Tiefen. Rafael Rodriguez ist führendes Logenmitglied im Osten Kubas:
"Eine Zeit lang wurden wir verfolgt. Da wurde Freimaurern und religiös Aktiven etwa der Zugang zu Universitäten und Jobs verwehrt. Später hat sich das total gewandelt und heutzutage gibt es eine gute Verständigung zwischen der Regierung, der Partei, Freimaurern und religiösen Einrichtungen bis zu dem Punkt, dass es alle drei, vier Monate regelmäßige Treffen mit der Partei gibt."
Es gleicht einem Wunder, dass anders als in der Sowjetunion oder der DDR Freimaurer auf Kuba erlaubt waren. Das hat zum einen damit zu tun, dass die kubanischen Freiheitskämpfer um den Nationalhelden und Dichter José Martí Freimaurer waren. Zum anderen aber auch mit einer Legende über Fidel Castro aus der Revolutionszeit.
"Es wird berichtet, dass einer der Offiziere, die ihn in der Sierra Maestra gefangen hatten, Freimaurer war und dafür sorgte, dass ihm nichts zustieß."
Erzählt der scheidende Großmeister Lazaro Cuesta.
"Als der politische, soziale und ökonomische Umbruch kam, haben viele Freimaurer das Land verlassen. Die Zahl der Freimaurer sank auf 14 000.
Davon haben wir uns nach und nach erholt und zählen jetzt 27 500 Mitglieder."
Vor der Revolution waren es einmal 39 000. Entscheidend freilich ist, dass die Logen sich heute entfalten dürfen. 321 gibt es, drei weitere dürfen eingerichtet werden. Angeblich überlegt der Staat sogar, den Freimaurern zu gestatten, ihre Räume für geschäftliche Aktivitäten zu nutzen - im Wissen, dass dies der Finanzierung der humanitären Arbeit zugutekäme. Formell sind Freimaurer erklärtermaßen unpolitisch und im Übrigen hat der Staat sicher auch ein Auge auf sie, wie auf die Aktivitäten der Kirche. Und dennoch zeigt sich Freimaurer Rafael Rodriguez zuversichtlich, was die Entwicklung der Religions- und Kultfreiheit betrifft:
"Obwohl sie uns kontrollieren und ihre Methoden haben, herauszufinden, was wir so treiben, glaube ich, dass wir momentan eine Situation haben, wo jeder glauben kann, woran er will."
Zum Wohlergehen aller: Die Religionsgemeinschaften und Organisationen wie die Freimaurer meiden die Politik, und die profitiert vom humanitären und sozialen Engagement. Karibisch, kubanisch eben!