Archiv

Kultur
Online-Archiv für syrische Gegenwartskunst

Trotz Chaos und Bedrohung durch den Krieg hat die Revolution gegen die Assad-Diktatur eine bemerkenswerte künstlerische und kulturelle Kreativität freigesetzt, die jetzt ihren Platz gefunden hat: Im Internet entsteht mit dem Online-Projekt "Das kreative Gedächtnis der syrischen Revolution" ein virtuelles Museum der syrischen Gegenwartskunst.

Von Martina Sabra |
    Menschen in einem zerstörten Gebäude nach einer Explosion in Damaskus
    Das tägliche Sterben, das erzwungene Exil, Streitigkeiten innerhalb der Opposition - viele syrische Kulturschaffende sind verzweifelt. (dpa / picture alliance / Sana Handout)
    Ein Video-Musikclip aus Syrien: Ein adrett wirkendes junges Mädchen mit Zöpfen, Uniform und dem Abzeichen der Pioniere der Baath-Partei tritt zum Talentwettbewerb an. Ihr Liedtext überrascht: Statt "Ich liebe den Führer" trällert sie "Ich liebe den Tod, am liebsten durch die Kugel aus einem russischen Gewehr".
    Das Video hat die syrische Künstlergruppe "Bidayyat" produziert. Zu finden ist es auf der Internetseite "The Creative Memory of the Syrian Revolution". Ein kleines Redaktionsteam füttert das Online-Archiv ständig mit allem, was die syrische Revolution an Kreativität und Humor hervorbringt: Von Kunstvideo- und Musikclips über Lyrik bis zu Grafiken und Fotografien. Sehr nutzerfreundlich angeordnet und dank guter Übersetzungen ins Englische und Französische auch zugänglich für Nichtaraber.
    Politisches Handpuppentheater
    Ein Highlight des syrischen Online-Kunst-Archivs ist das politisch-satirische Handpuppentheater "Top Goon", zu deutsch "Top Verbrecher".
    Wer tötet die Million?, heißt es in einer sarkastischen Abwandlung des bekannten TV-Quizformats, das auch im Nahen Osten populär ist. Wer tötet die Million Syrer - natürlich Beesho, wie Bashar Al Assad makaber verniedlichend genannt wird. In einer weiteren Folge wird Beesho von Albträumen gequält. Die Schauspieler ahmen den Sprechduktus des Diktators perfekt nach, sogar das Lispeln stimmt.
    Top Goon ist eine Produktion des Theaterkollektivs "Masaset Mati", zu deutsch "Matelöffel". Jamil Abyad, Regisseur bei Masaset Mati, studierte Theater und Fernsehregie in Damaskus. Als 2011 die Revolution begann, erlebte er, wie eine Reihe prominenter Theater- und Filmleute sich hinter das Regime stellten. Doch die meisten jungen Künstler träumten von der Freiheit und sie hofften auf das Internet:
    "Tatsache ist ja, dass das Regime schon bei den allerersten Demonstrationen in Damaskus unschuldige, gewaltfrei agierende Bürger tötete, wie den Volkssänger Ibrahim Qashush. Uns allen war klar: Das ist kein Spiel. Deshalb dachten wir: Warum machen wir nicht Puppentheater, drehen Videos und bringen sie per Internet unter die Leute? So können wir Theaterarbeit machen, aber die Schauspieler müssen sich nicht real in Gefahr bringen."
    Viele Menschen in Syrien haben kein Internet mehr
    Mittlerweile haben die meisten Menschen in Syrien keinen Zugang mehr zum Internet. Die Gruppe Masaset Mati hat deshalb zwischenzeitlich Straßentheater in den befreiten Gebieten Syriens gemacht. Ein riskantes Unterfangen: Einige Aufführungen wurden vom Regime bombardiert, im Publikum gab es Tote. Dennoch gingen die Menschen weiter auf die Straße.
    "Die Menschen haben sich von Anfang an mit Lachen, Tanzen und Singen dem Tod entgegengestellt. Ich erinnere mich an Demonstrationen, bei denen wir uns aneinander festhielten, sangen und lachten, während die Schabbiha, die Schergen des Regimes, mit scharfer Munition auf uns schossen. Ich glaube, dass die Kreativen in Syrien zur Zeit so extrem satirisch sind, weil sie ständig mit dem Tod konfrontiert sind."
    Projekt ermöglicht kulturelle Identität Syriens zu bewahren
    Einige Gebiete Syriens, in denen Jamil Abyad und sein Straßentheaterensemble noch Anfang des Jahres 2014 öffentlich auftraten, sind mittlerweile von radikalen Dschihadisten besetzt. Das tägliche Sterben, das erzwungene Exil, Streitigkeiten innerhalb der Opposition - viele syrische Kulturschaffende sind verzweifelt. Doch gerade weil die Menschen in Syrien weitgehend vom Internet abgeschnitten sind und weil viele Flüchtlinge andere Sorgen haben, ist das virtuelle Museum Creative Memory of the Syrian Revolution ein Projekt von herausragender Bedeutung: nicht nur für die syrischen Kulturschaffenden, die sich hier präsentieren und international vernetzen, sondern auch für die künftige Generation und das Überleben der kulturellen Identität Syriens.