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Kunst der Kopie
"Eine Frau voller Energie und voller Kraft"

Zum Tod der amerikanischen Künstlerin Elaine Sturtevant sagte Mario Kramer, Sammlungsleiter vom Museum für Moderne Kunst in Frankfurt, im Deutschlandfunk, sie sei die ernsthafteste Künstlerin gewesen, die er sich vorstellen könne. Die amerikanische Künstlerin, die im Alter von 84 Jahren in Paris gestorben ist, imitierte, kopierte bestehende Werke, etwa von Andy Warhol oder Roy Lichtenstein.

Mario Kramer im Gespräch mit Michael Köhler |
    Die Künstlerin Elaine Sturtevant posiert am 04.06.2011 in Venedig bei der Eröffnung der 54.Kunstbiennale Venedig vor der Preisverleihung für die Fotografen.
    Elaine Sturtevant am 04.06.2011 bei der Eröffnung der 54.Kunstbiennale Venedig (Felix Hörhager, dpa picture-alliance)
    Michael Köhler: Jetzt kommen wir zur bildenden Kunst, um genau zu sein, zu Elaine Sturtevant.
    O-Ton Elaine Sturtevant:
    Köhler: Das war die Stimme von Elaine Sturtevant. "Meine Kunst ist langsam gewachsen, so wie das eben bei Konzeptkunst ist. Ich wollte nie Ruhm, aber Leute gab's, die haben das befördert, das MMK etwa." Und das sind die Leute vom Museum für Moderne Kunst. Einer von Ihnen ist Mario Kramer, Sammlungsleiter. Mit ihm habe ich gesprochen über die amerikanische Künstlerin Elaine Sturtevant, die im Alter von 84 Jahren in Paris gestorben ist, und ihn gefragt: Elaine Sturtevant, ja was tat sie? Sie imitierte, kopierte bestehende Werke, etwa von Andy Warhol oder Roy Lichtenstein, verrückte sie so ein bisschen. Was ist das für eine Kunst? Worum dreht es sich dabei?
    Mario Kramer: Das ist vielleicht nicht ganz richtig. Man muss das vielleicht klarstellen, dass es wirklich eins zu eins Wiederholungen waren, und zwar zeitgleich. Das ist das Interessante. Genau in dem Jahr, wenn Jasper Johns seine berühmte Flagge macht, macht Elaine Sturtevant ebenfalls Johns Flagg. Und in dem Jahr, wo Warhol seine berühmten Flowers macht, macht Elaine Sturtevant Warhol Flowers. Sie ist zu dem Zeitpunkt mit all diesen Künstlern sehr, sehr eng befreundet. Sie wiederholt. Sie selber spricht vom "the beauty of repetition". Sie wiederholt tatsächlich eins zu eins die Werke der männlichen Künstlerfreunde.
    Köhler: Bereits etablierte Werke nachstellen, vormachen, nachmachen, aufmachen?
    Kramer: Nein, das ist eher das Gegenteil. Das halte ich eigentlich für das radikalste künstlerische Konzept des 20. Jahrhunderts, dass sie so klar erkannt hat, das es natürlich gerade in der amerikanischen Pop Art um das Reproduzieren von Massenmedien gegangen ist, und sie nimmt, wenn man so will, Marcel Duchamp, der damals alle beeinflusst hat, wirklich wörtlich und sie sagt sich, ja, ich nehme nicht mehr den vorgefundenen Alltagsgegenstand als Vorlage, sondern ich nehme den vorgefundenen Kunstgegenstand als Vorlage und den wiederhole ich eins zu eins.
    Köhler: Weil die Kunst auch schon Alltag ist?
    Kramer: Ganz genau. Und wenn Sie so wollen, schlägt sie die Männerkollegen mit den eigenen Waffen.
    Köhler: Ich meine, mich – helfen Sie mir – an ein Bild zu erinnern, wo Sie so im Profil durchs Bild huscht, und sie war groß und schlank, ganz dynamisch, und hat einen Joseph Beuys Mantel an, bodenlang mit Fell.
    Kramer: Ja.
    Köhler: Hat sie sich auch lustig gemacht über die Heroen der Avantgarde?
    Kramer: Nein, das glaube ich nicht. Ich glaube, sie hat das extrem ernst genommen, und es ist erstaunlich, dass sie schon in den späten 60er-Jahren so jemand wie Joseph Beuys überhaupt wahrgenommen hat. Da schlüpft sie tatsächlich in Hut und Stock und Mantel, wenn Sie so wollen, von Joseph Beuys und wiederholt eine Performance von Joseph Beuys.
    Köhler: Was hat Sie bei Ihnen vor zehn Jahren gezeigt? Sie haben mit ihr gearbeitet.
    Kramer: Wir haben ihr das ganze Museum. Nachdem wir uns entschieden haben, ihr eine große Werkschau zu geben, haben wir uns entschieden, ihr das ganze Museum zu widmen.
    Köhler: Verstehe ich Sie recht, wenn man sagt, ihr Werk kreist um den etwas überpassionierten Begriff von Originalität und Kopie?
    Kramer: Ich glaube, sie hat regelrecht auf das Original insistiert. Das Entscheidende ist, dass alle ihre Werke auf der Rückseite natürlich mit Sturtevant signiert sind.
    Köhler: Was ist sie für ein Frauentyp? Ich hatte das Glück, Jo Baer, Mary Heilmann und andere betagte Kalifornierinnen kennenzulernen, die von einem unglaublichen Witz und einer sprühenden Lebensfreude waren und nicht diesen tiefen Bierernst mit Blick auf den Boden hatten. War sie auch so jemand?
    Kramer: Ja, das würde ich unterstreichen. Eine Frau voller Energie und voller Kraft und voller Lebensfreude, die, ich sage mal, dieses radikale Konzept über 40, 50 Jahre überhaupt nur mit sehr viel Humor und mit sehr viel Energie hat durchziehen können. Denn lange, lange, lange Zeit ist Elaine Sturtevant vom Kunstmarkt zum Beispiel völlig ignoriert worden.
    Köhler: Aber keine verkopfte Theoretikerin?
    Kramer: Nein, wirklich nicht. Eine ganz sinnliche, sehr charmante und sehr freche Frau, keine Frage. Da gehört auch ein bisschen Frechheit dazu und man muss so eine gewisse, was soll ich sagen, Behauptung auch aufstellen, gerade diesem Kunstbetrieb gegenüber und diesen Sammlern und dem Kunstmarkt und den Galeristen und alles, was darum herum natürlich heute eine wichtige Rolle spielt. Da muss man auch Position beziehen, und das hat sie immer unglaublich getan. Sie war eine ziemliche Kämpferin. Wir hatten sehr viel Spaß miteinander und für mich wirklich unvergesslich sind dann so Dinge: Wie gesagt, sie war ja zu dem Zeitpunkt auch wahrscheinlich schon Anfang 80. Man weiß ja nicht so genau, wie alt sie wirklich war. Der Katalog sagt, Geburtsjahr 1930, aber viele Künstler haben da ein bisschen geflunkert und das steht ihr auch zu. Aber wie sie da mit wahrscheinlich gerade Anfang 80 bei uns auf dem Boden gekniet hat und eine Fettecke von Joseph Beuys noch mal gestaltet hat einen Tag lang, das gehört für mich zu den eindrücklichsten Erlebnissen mit dieser Künstlerin. Mit welcher Intensität, mit welcher Leidenschaft, mit welcher Hingabe zum künstlerischen Werk sie diese Dinge getan hat, das wurde mir in dem Moment klar, und da wurde mir auch klar, dass das kein Witz ist oder kein Scherz oder dass da jemand sich lustig macht über Kunst oder über die Männer oder über was auch immer. Das Gegenteil ist der Fall. Es war die ernsthafteste Künstlerin, die ich mir vorstellen kann.
    Köhler: Auf den Knien für die Kunst – Mario Kramer vom Frankfurter Museum für Moderne Kunst über Elaine Sturtevant, die im Alter von 84 Jahren gestorben ist und die 2011 den Goldenen Löwen von Venedig für ihr Lebenswerk bekam.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.