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Kybernetik
Wenn Mensch und Maschine verschmelzen

Cybersex, Cyberkultur, Cyberspace: Cyber wird heute beinahe alles genannt, was irgendwie mit dem Internet zu tun hat. Der Ursprung der Vorsilbe Cyber liegt in der Kybernetik. Thomas Rid hat in seinem Buch "Maschinendämmerung" die Geschichte dieser Wissenschaft des Steuerns nachgezeichnet.

Von Detlef Grumbach |
    Entertainers perform during the opening ceremony of the Beijing 2008 Paralympic Games at the National Stadium of China, also known as the 'Bird's Nest', in Beijing, China, 06 September 2008. EPA/MICHAEL REYNOLDS +++(c) dpa - Report+++ |
    Thomas Rid zeichnet in seinem Buch "Maschinendämmerung" die Begriffsgeschichte von Cybernetics zu Cyber nach. (picture alliance / epa / Michael Reynold)
    "Kybernetik ist heute als wissenschaftliche Disziplin tot. Die Leute, die sich heute mit Kybernetik beschäftigen, sind Wissenschaftshistoriker, Kulturwissenschaftler, Leute, die sich einfach für Technikgeschichte interessieren, für die Ideengeschichte der Technologie."
    Und doch, so Thomas Rid, ist der Begriff "Cyber" so lebendig wie nie. Der gut vierzigjährige IT-Experte hat schon in Think Tanks in Berlin, Paris, Washington und Jerusalem gearbeitet und Militärs und Geheimdienstler beraten. Heute lehrt er als Professor für Sicherheitstechnik am Department for Wars Studies am King’s Kollege in London.
    Der Anspruch des Buchs ist eher, die Begriffsgeschichte von Cybernetics zu Cyber nachzuzeichnen, weil immer wieder habe ich die Frage bekommen von Studenten und Kollegen aus allen möglichen Ländern und Institutionen und Organisationen: Woher kommt Cyber eigentlich?
    Geschichte von der allgemeinen Theorie der Maschine
    Die Kybernetik entstand in den 1940er-Jahren und ist zunächst die allgemeine Theorie einer Maschine, die lernen und sich selbst steuern kann wie ein Mensch – nach dem Prinzip von Kommunikation und Kontrolle. Die Maschine kennt den Zustand, den sie erreichen soll, sendet Signale in ihre Umgebung, empfängt Rückkopplungen oder Feedbacks über den Istzustand. Wie bei einem Thermostat. 20 Grad Raumtemperatur soll er erreichen.
    Die Rückkopplung meldet 15, er dreht auf, später meldet sie 22, er drosselt, es werden 18, er dreht wieder auf – bis sich Soll- und Istzustand in dem angestrebten Gleichgewicht befinden. Forciert wurde die Idee einer kybernetischen Maschine im Zweiten Weltkrieg: Als deutsche Bombergeschwader London angriffen, wurden Maschinen entwickelt, die in großer Geschwindigkeit die Flugbahnen berechnen konnten und Abwehrraketen, die den Augenblick ihrer Zündung selbst berechneten. Als Interkontinentalraketen nicht mehr einen Ort, sondern einen ganzen Kontinent bedrohten, mussten viele solcher Maschinen miteinander kommunizieren – sie mussten vernetzt werden.
    Der Mensch, der in Sekundenschnelle hochkomplexe Entscheidungen treffen und Prozesse steuern musste, sollte mit der Maschine verschmelzen, eine Einheit mit ihr bilden, sich als Mensch im Innenraum der Maschine, im Cyberspace, bewegen. Solche Ideen faszinierten nicht nur die Militärs. Auch die amerikanische Hippie-Bewegung träumte von der Erweiterung, der Entgrenzung menschlicher Möglichkeiten.
    "Die Kybernetik als Disziplin, als Idee ist ein Kind der militärnahen Forschung im Zweiten Weltkrieg. Das ist nur eine historische Beobachtung. Aber dieser tiefe Widerspruch, dieser scharfe Kontrast, wenn Sie so wollen, fängt sehr früh an. Von Anfang an war die Kybernetik attraktiv für unterschiedliche Gruppen. Es ging um Krieg und gleichzeitig um Befreiung, Unterdrückung und Befreiung, um Sex und Drogen, aber auch um militärische Anwendungen. Und diese scharfen Kontraste machen einfach diese Idee so interessant, so faszinierend."
    Kulturgeschichtlich hochinteressanter Blick
    Die allermeisten Utopien und Horrorvisionen, die mit der Kybernetik verbunden waren, haben sich in Luft aufgelöst. Doch schreibt Rid seinen Rückblick auf die Disziplin nicht in historisierender Weise. Die Faszination des Begriffs Cyber heute speist sich auch aus den Mythen seiner Herkunft – das hat ihn veranlasst, die Geschichte der Kybernetik aus dem Fluchtpunkt Gegenwart zu beschreiben.
    Kapitel für Kapitel entfaltet er zentrale Aspekte und Entwicklungsschritte dieser Idee, ordnet sie in den historischen Kontext ein, greift zurück und blickt nach vorne. Eine strenge Chronologie opfert er, setzt immer wieder neu an, erzählt in spiralförmigen Bewegungen und liefert dadurch – so theoretisch die Sache auch ist – einen lebensnahen und kulturgeschichtlich hochinteressanten Blick auf seinen Gegenstand.
    "In den 60er-Jahren bilden sich zwei Strömungen heraus in der Kybernetik. Die erste ist, die Maschine vom Menschen her zu denken, und die zweite ist, den Menschen von der Maschine her zu denken. Die Maschine vom Menschen her zu denken – da steckt die künstliche Intelligenz drin, die Idee, dass wir eine Maschine schaffen können, die menschliche Fähigkeiten annimmt; aber man kann auch anders herum die zweite Strömung sehen, nämlich, den Menschen von der Maschine her zu denken, also den Menschen zu sehen als eine Form von Maschine, als biologische Maschine. Denken sie einfach an die Idee, dass man das menschliche Gehirn neu programmieren kann."
    Angefangen von Norbert Wiener, den Rid einen "exzentrischen Mathematiker" nennt, erzählt der Autor von den Protagonisten der Kybernetik und arbeitet heraus, aus welchen Traditionslinien sie gekommen sind, was sie angetrieben hat. Er stellt ihre maßlosen Utopien und ihr grandioses Scheitern dar und erzählt seine Geschichte der Kybernetik in erfahrungsgesättigten Geschichten. Zwei farbige Abbildungsstrecken veranschaulichen das Ganze zudem, so dass auch der interessierte Laie dem Gang der Dinge gut folgen kann.
    Das Militär träumte noch Ende der 1960er-Jahre von riesigen vierbeinigen, mit einem Menschen verschmolzenen Laufmaschinen, mit deren Hilfe es im Dschungel Vietnams dort operieren konnte, wo Flugzeuge von oben nichts sehen und Rad- beziehungsweise Kettenfahrzeuge nicht hingelangen konnten. Die amerikanische Hippiebewegung experimentierte mit bewusstseinserweiternden Drogen wie LSD und griff die Ideen der Kybernetik in der Art und Weise auf, die Entgrenzung des Menschen nicht nur im psychodelischen Raum zu betreiben, sondern in den künstlichen, weltweit vernetzten Innenräumen der Maschinen: Cyberspace als Droge.
    Besondere Folge kybernetischen Denkens bei Scientologen
    Basisdemokratischen Subkulturen interessierten sich in einem weiteren Schritt für Verschlüsselungstechniken, denn wenn Kommunikation, Handel und andere zentralen gesellschaftliche Bereiche in den Cyberspace verlagert und dort für den Staat, das Finanzamt oder Gerichte nicht mehr nachzuvollziehen sein würden, wäre der Staat am Ende. Niemand würde mehr Steuern zahlen. Eine besondere Folge kybernetischen Denkens findet sich bei der Sekte der Scientologen: Wer das menschliche Hirn als Maschine denkt, die bei einem bestimmten Input einen bestimmten Output hervorbringt, kann auch nach Wegen suchen, eine ganze Gesellschaft zu steuern. Gerade Ron Hubbert, Sciencefiction-Autor und Gründer der Scientologen, ist aber auch ein Beispiel dafür, wie Sciencefiction und Kybernetik sich gegenseitig beeinflusst haben.
    "Die Kybernetik hatte von Anfang an gewissenmaßen ein Problem mit ihrer eigenen Attraktivität, mit ihrer eigenen Verführungskraft. Also etwa diese Idee, dass Menschen und Maschinen verschmelzen oder auch, dass wir Menschen Maschinen schaffen, die besser sind als wir, also Kreaturen schaffen, die uns selbst überlegen sind, ist letztlich der ultimative Wunsch, Gott zu spielen – oder vielmehr, um präziser zu sein – Gott selbst zu übertreffen, weil wir ja eine Kreatur schaffen, die besser ist als die Krönung der Schöpfung, die ja bisher der Mensch war."
    Die Kybernetik nahm religiöse Züge an und hörte spätestens in den 1970er-Jahren auf, eine ernst zu nehmende Disziplin zu sein. "Maschinendämmerung" nennt Thomas Rid sein Buch im Haupttitel. Damit unterstreicht er, dass ihre Hybris sich überlebt hat, dass die Kybernetik tatsächlich Geschichte ist, auch wenn ihre Utopien in Verwendung von Cyber weiterleben.
    Doch womit die Militärs es heute im sogenannten Cyberwar zu tun haben oder woran Computer-Nerds tüfteln: Computer, Industrieroboter, Verschlüsselungstechnologien und das Internet, so Rid, haben den Charakter von Werkzeugen in den Händen der Menschen. Waren sie anfangs gedacht als Mittel des Militärs, Macht über einen Gegner zu gewinnen, so entwickelten sie sich später zum Träger subkultureller Utopien, und heute könne man nicht mehr entscheiden, wem sie gehören. So habe sich zumindest auf dieser Ebene ein Gleichgewicht eingestellt.
    Das Internet ist wild und ungezähmt. Zumindest hat es diese Seite, die sehr stark ist – auch heute noch. Gegenkultur wurde einverleibt von den Streitkräften damals, aber vor allem heute von den Nachrichtendiensten. Es gibt da sehr viele junge Leute, die sehr libertäre Ansichten haben. Edward Snowden ist das beste Beispiel. Die Gegenkultur ist gewissermaßen verschmolzen mit dem Sicherheitsestablishment.
    Thomas Rid: "Maschinendämmerung. Eine kurze Geschichte der Kybernetik."
    Propyläen 2016, 496 Seiten, € 24,00