29 Jahre ist es her, dass ein fehlgeschlagenes Experiment den bislang schwersten Atomunfall aller Zeiten auslöste. Rund 95 Prozent des Kernbrennstoffs stecken noch heute in den maroden Trümmern. Ende des Jahres soll eine gigantische Konstruktion darüber geschoben werden, doch auch dieser Sarkophag kann das Risiko nicht endgültig unter sich begraben. Das Experiment ist noch lange nicht vorbei ...
26. April 1986, 1.24 Uhr. Im Kernkraftwerk Tschernobyl explodiert Reaktorblock 4.
Jochen Flasbarth: "Das ist nach wie vor eine hochgefährliche Anlage."
Ein fehlgeschlagenes Experiment: Im zerfetzten Reaktorkern brennt der Grafit. Die Hitze schmilzt die Brennelemente.
Lutz Küchler: "Die Situation ist so, dass man nach wie vor diese kernbrennstoffhaltigen Massen immer noch dort in dieser offenen Form drin hat."
Ein Teil verdampft, wird vom heißen Luftstrom mitgerissen. Eine radioaktive Wolke breitet sich aus über Europa. Erst nach zehn Tagen ist der Brand gelöscht: Dafür haben Hubschrauberbesatzungen 5000 Tonnen Blei, Bor, Dolomit, Sand und Lehm in die rauchende Ruine gekippt.
Flasbarth: "Wir haben auch nach 30 Jahren noch ganz erhebliche Strahlenexpositionen."
Hastig und unter Lebensgefahr errichten die Einsatzkräfte auf und mit den strahlenden Trümmern von Block 4 den Sarkophag: eine provisorische Hülle für rund 200 Tonnen geschmolzenen Kernbrennstoffs und Tonnen über Tonnen radioaktiven Staubs.
Aufräumen in unruhigen Zeiten - Ein Lagebericht aus Tschernobyl
Von Dagmar Röhrlich
Von Dagmar Röhrlich
Im 30. Jahr nach der Katastrophe ist Tschernobyl weit von sicheren Verhältnisse entfernt - eine marode Atomruine in einem instabilen Land.
"Die Ukraine befindet sich heute in einer sehr, sehr schwierigen und außergewöhnlichen Situation."
Astrid Sahm von der Internationalen Bildungs- und Begegnungsstätte in Minsk und Gastwissenschaftlerin am Deutschen Institut für Internationale Politik und Sicherheit in Berlin.
"Im letzten Jahr, im Februar, hatten wir einen politischen Umsturz in der Ukraine, der hauptsächlich von Menschen in Kiew getragen wurde, aber sehr wohl auch von Menschen aus allen anderen Teilen des Landes."
Nach vielen Jahren der Misswirtschaft steht das Land inzwischen am Rand des Staatsbankrotts.
"Es wird häufig gesagt, dass die Ukraine jetzt das nachholt, was die ost-mitteleuropäischen Staaten bereits 1989 geleistet haben, das heißt, dass politische, wirtschaftliche, soziale Reformen, die mit großen Härten auch für die Bevölkerung verbunden sind, gleichzeitig zu leisten sind."
Vor allem aber befindet sich die Ukraine im Krieg - einem nicht erklärten Krieg mit Russland. Es gibt Tote, Verwundete, die Zahl der Binnenflüchtlinge wird auf eine Million geschätzt. Gleichzeitig werden die Renten gekürzt, die Preise steigen rasant, sagt Sahm:
"Was die Menschen wahrnehmen, ist: Der Reformprozess stoppt im Krieg, der Krieg ist perspektivlos, aber die sozialen Härten, die sind Realität."
Auch wenn Tschernobyl keineswegs vergessen ist, genießt es derzeit bei den Bürgern der Ukraine nicht unbedingt die höchste Priorität.
Eine Pressekonferenz in Kiew. Die EBRD, die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung hat eingeladen, um über den Stand der Aufräumarbeiten zu berichten. Vince Novak, Direktor der EBRD-Abteilung Nukleare Sicherheit, erläutert den Shelter Implementation Plan:
"Sein Sinn ist - ganz einfach ausgedrückt - Tschernobyl umweltsicher zu machen. Es ist der Fahrplan zu einer optimalen Lösung."
Ohne Hilfe von außen kann die Ukraine die Folgen der Havarie nicht bewältigen. Deshalb hat die EU dieses internationale Abkommen 1997 zusammen mit den Vereinigten Staaten und der Ukraine ins Leben gerufen. Der Shelter Implementation Plan dreht sich um "die immensen Mengen flüssiger Abfälle aus der Betriebszeit Tschernobyls", so Novak, die sichere Lagerung der Brennelemente aus den Blöcken 1 bis 3 - und vor allem um "den maroden Sarkophag. Kostenpunkt derzeit insgesamt: mehr als zwei Milliarden Euro."
Diese Projekte seien für die Umweltsicherheit der Ukraine und Europas von zentraler Bedeutung, beschwört Sergey Kurykin. Er ist stellvertretender Minister für Ökologie und Naturressourcen der Ukraine:
"Wir wissen um die Bedeutung der finanziellen, technischen und politischen Entscheidungen, die getroffen werden und um den hohen Grad an Verantwortung für die Durchführung des Programms. Ich möchte unterstreichen, dass die Ukraine alle ihre Verpflichtungen erfüllen wird. Auch alle finanziellen Zusagen."
Allerdings verschlingt der Krieg im Osten viel Geld - Geld, das das wirtschaftlich stark angeschlagene Land ohnehin nicht hat.
Zwischen Kiew und dem havarierten Kernkraftwerk liegen rund 100 Kilometer. Anderthalb Stunden braucht ein Bus dafür. Der Tourguide erzählt:
"1986 the zone was contaminated, some places more, some places less, the contamination is very spontanic, it differs ..."
An der Einfahrt in die 30-Kilometer-Sperrzone prüfen Wachen unsere Reisepässe, ehe es weitergeht. Neben dem Kontrollpunkt steht eine Kapelle, davor eine Mutter Gottes.
"Nobody had a plan to stop operation of a so powerful source of energy as ChNPP was. After the construction of the object shelter it was prolonged life of the ChNPP."
Wir fahren weiter. Es geht durch Birken- und Fichtenwälder, vorbei an Brachen, verfallenden Häusern - und durch Tschernobyl, die Kleinstadt, deren Namen für die bislang größte Atomkatastrophe steht. Auch sie ist nach dem Unfall evakuiert worden, inzwischen jedoch wohnen hier wieder Arbeiter, Ingenieure oder Feuerwehrleute während ihrer Zwei-Wochen-Schicht in der Sperrzone.
Der nächste Halt ist der Checkpoint an der Grenze zur Zehn-Kilometer-Zone. Auf der Gegenfahrbahn kontrollieren zwei Männer einen Lastwagen. Mit Dosimetern an langen Stangen prüfen sie auch die Unterseite des Fahrzeugs und das Dach. Soldaten haben eine Stellung aus gelben Sandsäcken mit Schießscharte aufgebaut: Wegen der Kämpfe im Osten hat die Ukraine für alle 16 Nuklear-Anlagen des Landes das Sicherheitsniveau erhöht.
Wir haben das Kernkraftwerksgelände mitten in der Sperrzone erreicht. Tiefblau leuchtet der Kühlwasserkanal in der Sonne. Am gegenüberliegenden Ufer ragt eine von Kränen umgebene Ruine über die Baumwipfel: der Reaktorblock 5. Er war am 26. April 1986 in Bau, rostet seitdem vor sich hin. Die Sowjetunion hatte große Pläne Tschernobyl sollte der größte Kernkraftwerksstandort der Welt werden. Jetzt wird hier nur noch, gebaut um aufzuräumen.
Auch diesmal geht es um Superlative: Das Langzeitzwischenlager für Brennelemente soll das größte je gebaute Zwischenlager werden: Mehr als 21.000 Brennelemente der Blöcke 1 bis 3 sollen im ISF2 sicher untergebracht werden, beschreibt Andrey Savin, der ukrainische Chefingenieur des Projekts:
"Seit Oktober 2013 befinden sich diese Brennelemente in einem alten Nasslager."
Das stammt aus Sowjetzeiten und ist bis auf den letzten nur möglichen Platz gefüllt. Selbst das Reservebecken ist voll, ebenso die sogenannten Transportkorridore, über die eigentlich die Brennelemente unter Wasser manövriert werden.
"Wenn das ISF2 fertig ist, werden wir die Brennelemente mit Spezialtransportern hierher bringen."
Auf der linken Seite entsteht ein hohes Gebäude: Das wird die Konditionierungsanlage des Langzeitzwischenlagers:
"Hier sollen die Brennelemente in einer heißen Zelle geöffnet, halbiert und in doppelwandige Stahlbehälter gesteckt werden. Dann sollen sie einem speziellen Trocknungsverfahren unterzogen und in das Zwischenlager transportiert werden."
Andrey Savin weist auf eine 300 Meter lange Doppelreihe aus dickwandigen Betonbunkern - eine graue Allee, in der sich Zelle an Zelle reiht.
"In diese Speichermodule aus Beton, die Sie dort auf der rechten Seite sehen, werden wir die doppelwandigen Behälter liegend hineinschieben. Wenn wir nach neun oder zehn Jahren alle Brennelemente verpackt und hier für 100 Jahre sicher untergebracht haben, werden wir den Zustand einiger Behälter überwachen. Und zwar von dem Gebäude der Konditionierungsanlage aus, wo wir in der heißen Zelle dann auch Reparaturen durchführen können, falls sie notwendig werden."
Der Betrieb des Langzeitzwischenlagers soll 2018 starten - und damit fünf Jahre später als vorgesehen. Dabei drängt die Zeit, erklärt Lutz Küchler, einer der Tschernobyl-Experten der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit GRS. Der Grund für diesen Zeitdruck ist der Zustand des sowjetischen Zwischenlagers ISF1:
"Die Interim Storage Facility 1 hat eine Genehmigung, die ist erweitert worden bis 2025. Allerdings weiß man, dass die Umladung von hier in ein Trockenlager acht bis neun Jahre dauert."
Das heißt: Die Betriebsgenehmigung des alten Nasslagers muss verlängert werden - obwohl es weder erdbebensicher ist, noch modernen Anforderungen entspricht - und obwohl jede Betriebsverlängerung neue Kosten verursacht, so Küchler:
"Da kann man auch nicht irgendwo die Genehmigung entziehen, also man muss es trotzdem weiterbetreiben."
Es ist einiges schiefgegangen in den letzten Jahren. Das ursprünglich von der französischen Firma Framatome - der heutigen Areva - entwickelte Konzept war von intakten Brennelementen ausgegangen. In die real existierenden war jedoch nach vielen Jahren in den Abklingbecken der Reaktoren 1 bis 3 Wasser eingedrungen. Weil Framatome die Brennelemente einfach in enge Lagerröhren stecken wollte, bestand die Gefahr der Radiolyse: Durch die Strahlung hätte sich Wasserstoff entwickeln können, der die Röhren einfach aufgerissen hätte. Vince Novak:
"Ich muss leider sagen, dass erst unserem Management diese Ungereimtheiten im Design und die ungelösten Probleme aufgefallen sind."
Da liefen die Bauarbeiten bereits. Zwar zahlte Framatome-Areva Kompensation, bestätigt Vince Novak von der EBRD - aber die verlorene Zeit brachte das nicht zurück. Jahrelang ruhten die Arbeiten auf der Baustelle, sagt Küchler:
"2007 - 2007 - ist ein neuer Vertrag mit einer amerikanischen Firma, der Firma Holtec vereinbart worden. Der bestand aus zwei Teilen: Einmal der Entwicklung der Auslegung oder des Umbaus der Anlage, und der zweite Teil bestand darin, dass man die Anlage dann physisch umbaut, die Anlage in Betrieb setzt und dann auch in den vollen Betrieb dann zu übergeben."
Dass sich die Wiederaufnahme der Bauarbeiten bis zum Herbst 2014 verzögert hat, hängt nicht nur mit der Komplexität der Aufgabe zusammen, sondern auch mit der politischen Lage in der Ukraine. So hatte Holtec während der Unruhen auf dem Maidan seine Mitarbeiter zurückgerufen. Allerdings war das anscheinend nicht der einzige Grund. Küchler:
"Die Arbeiten werden nicht in dem Maße geführt, wie man das eigentlich erwartet hätte, um dann auch die Termine zu halten. Da gibt es wohl Abstimmungsprobleme und auch vertragliche Fragen. Es ist auch hier wieder die Frage der gesicherten Finanzierung, ob das also auch alles möglich ist."
Das neue Verfahren verursacht Mehrkosten: für die Trocknungstechnik etwa und neue Überwachungssysteme. Wie das Geld aufgebracht werden soll, ist offen. Das gilt auch für den Betrieb des Langzeitzwischenlagers, also für Transport und Verpacken der Brennelemente. Ungewöhnlich sei dieses Problem nicht, bestätigt der Pressesprecher von Tschernobyl auf eine Mailanfrage:
"Im Budget fehlen uns die Mittel für den Betrieb des LRTP, der Anlage zur Behandlung der flüssigen radioaktiven Abfälle [...]"
Die von der EBRD finanzierte Anlage für die Beseitigung flüssiger Abfälle hat im vergangenen Jahr ihre Betriebsgenehmigung erhalten: Seitdem läuft der Probebetrieb für das einfachste Verfahren, das Einbetonieren der Abfälle - allerdings auf Sparflamme. Lutz Küchler:
"Hier haben wir es schon mit einer Situation es zu tun, wo die gesamte Situation in der Ukraine durchaus auch Auswirkung hat auf diese Projekte."
Wir fahren weiter, den Kühlkanal entlang, hin zum Kernkraftwerk selbst, wo bis zu der Havarie vier Reaktorblöcke nebeneinander Strom produzierten. Die Blöcke 1 bis 3 sind in der sogenannten Stilllegungsphase, sollen langsam zurückgebaut werden. Mit dem Entladen der Brennelemente ist ein erstes Etappenziel erreicht. Die Liste der Aufgaben erscheint jedoch endlos. Zunächst sollen die Turbinen und Generatoren herausgeholt werden, und man möchte - wegen der Standsicherheit - Last von den Gebäuden nehmen: Dabei steht die Demontage der Hunderte Tonnen schweren Maschinen zur Handhabung der Brennelemente ganz oben auf der Liste, ebenso die der massiven Kräne und der Druckröhren für die Brennelemente.
Block 3 ging als letzter Reaktor vom Netz: Das geschah am 15. Dezember 2000. Seitdem hängt Tschernobyl am Tropf des Staates: Schon seit Jahren erhält die Anlage nur rund die Hälfte des beantragten Budgets. Lutz Küchler kennt die desolate Situation:
"Wir hatten aus unseren Besuchen dort auch erfahren, dass bestimmte Zahlungen, Gehaltszahlungen nicht immer pünktlich erfolgten, was natürlich in der Situation mit einer steigenden Inflation und auch nicht besonders gut situierten Beschäftigungsverhältnissen durchaus wichtig sein kann."
Für 2015 rechnet die Leitung des ehemaligen Kernkraftwerks mit einem Fehlbetrag von mehr als zehn Millionen Euro. Selbst mit den Zahlungen in die Pensionskasse ist man im Rückstand.
"Das ist nach wie vor ein nukleares Objekt, und da kann man also nicht davon ausgehen, dass die Leute also ohne Bezahlung diese Arbeit machen. Das ist eine ziemlich kritische Sache, die muss unbedingt gelöst werden."
Und die Pressestelle Tschernobyls versichert:
"Obwohl das Kernkraftwerk von Tschernobyl aufgrund fehlender Mittel zu großen Einsparungen gezwungen ist, werden alle Maßnahmen zur Strahlensicherheit und des physischen Schutzes des nuklearen Materials durchgeführt."
Die Sicherheit genieße Priorität, heißt es - ebenso der Bau des NSF, des New Safe Confinements, des neuen, sicheren Einschlusses für den Sarkophag.
Der silberne Riesenbogen ist das neue Wahrzeichen der Gegend: das größte mobile Bauwerk, das jemals errichtet worden ist. Unter ihm soll 2017 der marode Sarkophag verschwinden:
Nicolas Caille ist der Geschäftsführer des französischen Konsortiums Novarka, das das tonnenförmigen Gewölbe baut. Die Pariser Kathedrale Notre Dame fände bequem Platz darunter:
"The dimension is 262 meter the span, the height is 110 meter, the length 160 meter."
Aus Strahlenschutzgründen läuft die Montage etwa 300 Meter vom Sarkophag entfernt. Von hier aus ist nur noch ein Stück seines Daches zu sehen und der neue Belüftungskamin. Der Rest verschwindet hinter einer massiven grauen Betonmauer - ein zentrales Element für den Strahlenschutz auf der Baustelle, erklärt Victor Zalizetskyi, der Chefingenieur des NSC auf ukrainischer Seite:
"Anfangs mussten wir hier in Spezialkleidung arbeiten. Das ist nicht mehr notwendig, seit wir mehr als 120.000 Tonnen radioaktiven Material von der Baustelle entfernt und das Gelände versiegelt haben."
Heute ist da glatter Beton, wo vor ein paar Jahren noch Büsche wucherten und Strommasten standen.
Gerade laufen unter dem Dach des Bogens Verkleidungsarbeiten: Klein wie Ameisen wirken die Männer, die mit der Montage der vielschichtigen Doppelverkleidung aus Kohlenstoffstahlblechen, Isolierschichten und Kunststoffmembranen beschäftigt sind. Victor Zalizetskyi:
"Sehen Sie die sechs grauen Schienen unter dem Dach des Bogens? Daran werden die beiden Schwerlastkräne hängen, die jeder 50 Tonnen tragen können. Sie sind in den USA gebaut worden, und wir werden sie voraussichtlich in der zweiten Jahreshälfte montieren."
Wenn die technische Ausrüstung installiert ist, wird der Bogen mehr als 36.000 Tonnen wiegen - dreimal so viel wie der Eiffelturm. Dann soll er auf Teflonschienen über den Sarkophag geschoben werden. Und während fünf Arbeiter zur Mittagspause in einer kleinen Gondel zum Boden zurück schweben, beschreibt Nicolas Caille, wie die letzte und schwierigste Phase ablaufen wird:
"Sehen Sie diese Paneele auf der linken Seite? Sie sind genau an die äußere Form des existierenden Sarkophags angepasst. Wenn wir die fertig ausgestattete Hülle auf Schienen über ihn schieben, klappen wir sie hoch. Danach lassen wir sie wieder herunter. Dann verbinden und versiegeln wir alte und neue Hülle mit einer elastischen Membran, damit nichts nach außen dringen kann."
In dieser Phase werden die Strahlenschützer besonders gefordert sein: Um Sarkophag und NSF mit dieser Membran luftdicht zu verbinden, müssen die Männer direkt am Sarkophag arbeiten.
Das New Safe Confinement ist mit rund anderthalb Milliarden Euro das größte und teuerste Projekt im Shelter Implementation Plan. Die Finanzierungslücke des Projekts von 615 Millionen ist gerade auf einer Geberkonferenz auf 85 Millionen Euro geschmolzen. Es kann also erst einmal weitergehen.
Die Hightechhülle ist auf eine Lebensdauer von 100 Jahren ausgelegt. Sie soll verhindern, dass Regen und Schnee in den Reaktor eindringen oder dass Staub und Radioaktivität hinausgelangen - falls der Sarkophag im Innern doch noch zusammenbricht. 100 Jahre, in denen die Technik funktionsfähig gehalten werden muss: vom computergesteuerten Belüftungssystem bis zu den Kränen. Ein defekter Kranmotor kann ausgetauscht werden. Nicht jedoch der Stahlbogen selbst. Und so ist Rost der große Feind des New Safe Confinements. Besiegen soll ihn - Technik, erklärt Vince Novak:
"Normalerweise würde man solche Metallstrukturen alle fünf oder acht Jahre streichen, aber das geht wegen der Strahlung natürlich nicht. Deshalb musste ein anderer Ansatz entwickelt werden - nämlich ein System, das der Korrosion vorbeugt, indem eine Belüftung garantiert, dass die Luftfeuchtigkeit im Inneren des Dachs nie über 40 Prozent liegt."
Wie eine Raumstation verlangt das New Safe Confinement über seine Lebenszeit hinweg permanente Wartung.
"Until the new safe confinement is in place, we are not safe."
Zwar ist der Sarkophag zwischen 2004 und 2008 so stabilisiert worden, dass keine unmittelbare Einsturzgefahr mehr besteht - bis 2023, denn der Alterungsprozess läuft unerbittlich weiter. Würde der schützende Bogen nicht oder nicht rechtzeitig fertig gebaut, drohte eine neue Katastrophe, so Vince Novak:
"Früher oder später könnte der alte Sarkophag zusammenbrechen, und das Mindeste, was dann passieren würde, wäre, dass die Tonnen an radioaktivem Staub, die in ihm stecken, freigesetzt werden."
Den trüge der Wind davon, fürchtet auch Staatssekretär Jochen Flasbarth vom Bundesumweltministerium:
"Das wäre kein lokales Problem mehr, dann wird es über die Luft auch wieder andere Staaten mit betreffen. Man muss immer vor Augen haben, was damals gemacht worden ist, das ist ja, unter den furchtbarsten Umständen schnell und nicht für die Ewigkeit gemacht und im Grunde kann man sich wundern, dass es eben überhaupt schon 30 Jahre gehalten hat."
Die neue Hülle erkauft Zeit, eine Lösung ist sie nicht: Die geschmolzenen Massen von Uran und Plutonium sind sehr viel beständiger als jedes menschliche Bauwerk. Früher oder später müssen sie in ein Endlager, sonst lägen sie irgendwann frei.
Dann wäre der Unfall niemals vorbei. Der geschmolzene Kernbrennstoff muss also beseitigt werden - irgendwann. Mit Blick auf die langfristigen Pläne bleibt Kernkraftwerksdirektor Igor Gramotkin vage:
Man werde weitersehen, wenn der neue Bogen und der Sarkophag verbunden seien und die diversen Überwachungs- und Lebenserhaltungssysteme funktionierten. Dann werde ein provisorischer Arbeitsplan angegangen:
- Planung für den Abbau der instabilen Strukturen
- Installation der Material- und Personenschleusen und der mobilen Sicherheitseinrichtungen wie geschützten Arbeitskabinen oder Sanitäreinrichtungen
- Anschluss der Systeme zur Fernsteuerung der Hauptkräne und der anderen für den Rückbau notwendigen Anlagen
- Installation der Anlagen für die Behandlung der demontierten radioaktiven Strukturen, Installation der Verlade- und Transporteinrichtungen
Vom Verwaltungsgebäude aus ist es nur ein Katzensprung zu dem großen Stausee, der den Kühlwasserkanal speist. Auch sein Wasser ist seit dem Unfall radioaktiv belastet. Und weil Krieg im Land herrscht, fürchten Experten, dass Terroristen die Staumauer sprengen könnten. Direkt neben dem See fließt der Pripjat.
Das internationale Finanz-Engagement für Tschernobyl endet offiziell 2017, mit der technischen Abnahme des New Safe Confinement. In dem Plan wird jedoch bereits angesprochen, dass es mit dem Bau der wartungsintensiven Schutzhülle nicht getan ist. Lutz Küchler:
"Die Errichtung, die Inbetriebsetzung des neuen Confinements, die ist abgedeckt. Die Planung für die Demontage hat man auch mit aufgenommen. Die Demontage selber und alles was danach kommt, ist im Moment noch nicht finanziell abgesichert."
Alleine kann die Ukraine da nur wenig ausrichten, davon ist Jochen Flasbarth vom Bundesumweltministerium überzeugt:
"Das ist eine internationale Aufgabe. Wie stark genau der eigene nationale Beitrag ist, das hängt ganz von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ab. Wir hoffen sehr, dass die Ukraine mit ihren wirklich wunderbaren Voraussetzungen, die dieses Land hat, alsbald auch eine wirtschaftliche Situation hat, sodass die Staatengemeinschaft sagen kann, wir sind zwar noch solidarisch, aber ihr könnt selber auch einen größeren Anteil tragen."
Pripjat, die Stadt, die einst für das Kernkraftwerk errichtet worden war. Seit dem 27. April 1986 lebt hier niemand mehr. Auch der Kontrollpunkt an der Ortseinfahrt ist nicht mehr besetzt. Dafür überwuchern Sträucher und Bäume die Straße. Noch hat kein Sturm den Schriftzug auf dem Dach eines der großen Wohnhausriegel weggefegt: "Lasst das Atom regieren und nicht Soldaten."
In Tschernobyl wird das Atom noch lange regieren - weit über die Maßstäbe menschlichen Denkens hinaus. Im Jahr 2065 könnte der Rückbau der Blöcke 1 bis 3 abgeschlossen sein. Wer wird sich dann noch an die Katastrophe erinnern? Wann der Sarkophag Geschichte sein wird, auf diese Frage gibt es noch keine Antwort.
In der menschenleeren Sperrzone haben die Elche die Herrschaft übernommen, und die Wölfe. Vor ihnen warnen Schilder an den Ausgängen der Baustellen. Weil es in der Zone ohnehin schon Unmengen an radioaktivem Müll gibt, versucht die Regierung, aus der Not eine Tugend zu machen: Sie hat mit der US-Firma Holtec einen Vertrag zum Bau eines weiteren Langzeitzwischenlagers unterschrieben: für die ausgedienten Brennelemente von drei ukrainischen Kernkraftwerken, die weiter Strom produzieren werden.