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Lambertikirche
"Türmerin sein fühlt sich gut an"

Von der Spitze der Lambertikirche bläst die Türmerin Martje Salje seit Anfang des Jahres mit ihrem Kupferhorn Zeitsignale in den Abendhimmel, hält nach Bränden und nach Einbrechern Ausschau. Sechs Tage die Woche, zwischen 21 Uhr und Mitternacht.

Von Susanne Birkner |
    Die Türmerin Martje Salje steht am 08.01.2014 mit ihrem Türmerhorn auf dem Turm der Lambertikirche in Münster (Nordrhein-Westfalen). Sie muß alle 30 Minuten in den Abendstunden in ein kupfernes Horn blasen.
    Martje Salje ist die erste Frau auf dem Posten der Türmerin an der Lambertikirche in Münster. (dpa/picture alliance/Friso Gentsch)
    Fahrradfahrer, wohin man sieht. Grüne, blaue, schwarze Hollandräder vor hellen Sandsteinfassaden. Sie rappeln über das Kopfsteinpflaster. Vorbei an den Arkaden, hinter denen sich seit dem 15. Jahrhundert die Kaufleute tummeln.
    Martje Salje:
    "Das Schönste ist wirklich, kurz bevor ich raufsteige: Das Herzklopfen, ich darf wieder auf meinen Turm. "
    Martje Salje schließt ihr Rad an einer Laterne an und blickt sich um. Jeder Giebel hier auf dem Prinzipalmarkt ist anders. Spitz. Gezackt. Wie Treppen, die in den Himmel führen. Und alles überragend: die Lambertikirche. Ihr Turm:
    "Und dann die Sachen, die man hier machen muss. Ich wusste, dass ich alles dransetzen muss, das zu werden. Und jetzt bin ich tatsächlich Türmerin – und das fühlt sich so gut an! Und dann dieser Ausblick. Der belohnt einen für alles. Das ist so toll. "
    Eine kleine versteckte Tür an der Kirchenrückseite führt zu Martje Saljes Arbeitsplatz 75 Meter über der Stadt. Die Marathonläuferin erklimmt gemächlich Stufe für Stufe.
    300 Stufen zum Arbeitsplatz
    "Mit den beiden, die zur Tür außen führen, sind es genau 300. Ja, man kriegt nen Drehwurm, aber oben ändert sich die Richtung noch mal, das gleicht sich aus. Es spart das Fitnessstudio."
    Jeden Abend außer dienstags muss die neue Türmerin hier hoch. Egal, ob ein Sturm durchs Land tobt oder die Fußballweltmeisterschaft. Die 33-Jährige ist städtische Angestellte in Teilzeit: 18,23 Wochenstunden, für 864,48 Euro im Monat.
    "Aber es macht auch keinen Sinn, jetzt hochzuhetzen. Es ist besser, die Kondition zu schonen und zu stärken. Dann kriegt man nicht so ne Muskelkatze am nächsten Tag."
    46 Interessenten gab es für die ungewöhnliche Stelle, davon sechs Frauen. Teamwork? Das spielt bei dem Job so gar keine Rolle. Wichtiger war ihrem Arbeitgeber, der Stadt Münster, dass die Historikerin gut allein sein kann. Und die Wendeltreppe ist so schmal, dass man sich automatisch fragt, ob auch auf die Figur geachtet wurde beim Auswahlverfahren.
    "Das ist jetzt die andere Richtung, die Stufen. Das ist wegen des Schwertarms. Der Schwertarm ist ja rechts, und der muss freibleiben für die Verteidigung des Turms. Also wenn man von oben guckt. Zur Verteidigung hat der Türmer ja früher ein Schwert getragen. - Ich hab's noch nicht bekommen, vielleicht bekomme ich es noch."
    Auf halber Strecke nach oben geht es zum ersten Mal an die frische Luft.
    "Hier guck ich immer, ob der Dom noch steht, deswegen geh ich immer meine Runde."
    Geschichte zum Anfassen
    Hier hängen die berühmten Lambertikäfige. Gruselige Touristenattraktion in Münster. Sie erinnern an die radikalen reformatorischen Wiedertäufer, die im 16. Jahrhundert mit Gewalt versuchten, das katholische Münster evangelisch umzutaufen.
    "Das war wirklich eine besondere Ausnahme in Münster, wie die sich verhalten haben und was hier passiert ist, mit Gemetzel und Vielweiberei."
    Der katholische Fürstbischof habe die Wiedertäufer dann eingekesselt, erzählt die Historikerin.
    "Und dann wurden die Nahrungsmittel knapp und alles ging seinem Ende zu. Und durch Verrat hat dann der Fürstbischof Franz von Waldeck die Stadt dann wieder eingenommen und die drei Anführer, die er noch kriegen konnte, mit glühenden Zangen gefoltert und sie in die Käfige getan zur Abschreckung."
    Die neue Türmerin streicht sichtlich beeindruckt über die verwitterten Eisenstangen.
    "Ich find das krass, dass das Geschichte zum anfassen ist, dass die bis heute hier hängen. Die wurden schon mal abgehängt und gepflegt, damit die länger halten - als Abschreckung. Es gibt auch Nachbildungen, die hängen im Stadtmuseum. Da wurde auch mal ein Tatort gedreht, eine Leiche gefunden. Das ist nicht hier gedreht worden, sondern im Stadtmuseum."
    Nach 298 Stufen hat Martje Salje ihr spartanisches Dienstzimmer erreicht. Ein kleiner Ofen, ein Sofa und ein Schreibtisch. Keine Toilette. Stapelweise Bücher. Neben ihrer Gitarre lehnt das schwere kupferne Türmerrohr, mit dem sie von 21 Uhr bis Mitternacht ihre Signale geben wird.
    "Es ist schwerer, als ich gedacht habe. Es ist ja einfach nur so ein Mundstück, in das man reinbläst, und das Rohrblatt schwingt dann so im Luftstrom. Aber es hätte mir garantiert geholfen, wenn ich jemals ein Blasinstrument gelernt hätte. Es ist das tiefe C, das man da spielt. Und ich schreibe auch eine Kammersinfonie für Türmerhorn in C, zwei Nachteulen und drei Kontrabässe."
    Alle halbe Stunde ein Rundgang und das Signal. Genug Zeit, um in den kommenden einsamen Jahren unter der Kirchturmspitze auch noch zu komponieren, Gedichte zu schreiben und zu lesen, hofft die 33-Jährige.
    "Mein Vorgänger hat es vorgemacht. Der hat die Weltliteratur durchforstet nach Türmerstellen. Und das habe ich auch vor: Türmer, Türmer, Türmer. Das ist das, was mich im Moment interessiert."
    Aber erst einmal: der tägliche Anruf bei der Feuerwehr.
    "Wunderschönen Abend, Martje Salje, die Türmerin, ist jetzt oben. Ja, danke, tschüssi."
    Die Aufgabe der Münsteraner Türmer ist bis heute, nach Bränden und Banden Ausschau zu halten.
    "Genau. Marodierende Räuberbanden muss ich auch sofort melden".
    Martje Salje grinst, wird aber schnell wieder ernst.
    "Ich bin mir dieser Pflicht und Bürde des Amtes auch bewusst, auch dass es eines der ältesten Ämter Europas ist. Das macht den Reiz für mich auch aus."
    Die Liste der Türmer ist lang
    Auch wenn einiges natürlich Folklore ist. Der Türmer heute hat mehr mit Touristen und Journalisten zu tun als mit Banden, die versuchen, seinen Turm zu stürmen. Da hat sich im Laufe der letzten 600 Jahre einiges verschoben.
    "Es gibt eine richtige Liste mit Türmern, die vor mir da waren. Das Türmeramt war zeitweise auch nicht besetzt. In Kriegswirren und Zeiten, in denen gespart werden musste."
    1379 wurde der erste Türmer von Münster urkundlich erwähnt, seit 1381 sind auch die Namen erfasst. Und: wie lax der eine oder andere seinen Job aufgefasst hat.
    "Die haben hier dann unbefugt Orgien gefeiert. Haben sich volllaufen lassen. Haben vergessen, das Signal zu geben. Haben aufs Kirchdach gepieselt. Alles das machen wir natürlich heute nicht mehr."
    Martje Salje schnappt sich ihre Gitarre. Kritiker sagen, sie habe den Job nur bekommen, weil sie eine Frau sei. Das will sie nicht glauben. Sie weiß, was sie alles mitbringt als Aushängeschild von Münster. Sie spricht mehrere Sprachen. Hat nicht nur Geschichte, sondern auch Musikwissenschaft studiert. Auf Mittelaltermärkten selbst gedichtete Songs gesungen und die Kräuterhexe gegeben. Aber klar: Als erste Frau in der 600-jährigen Türmergeschichte geht die Historikerin selbst in die Geschichte ein.
    "Lustigerweise hab ich da überhaupt nicht drüber nachgedacht. Da werd ich jetzt immer gefragt, was mir das bedeutet, als Frau. Und überhaupt – als Frau, als Frau. Ich muss da langsam mal anfangen drüber nachzudenken. Das fällt mir jetzt auch auf, wo ich ständig darauf gestoßen werde. "
    Für sie habe es nie einen Unterschied zwischen Männer- und Frauenarbeit gegeben, sagt sie.
    "Ich hab einfach immer mein Bestes gegeben und nie darüber nachgedacht, dass ich eine Frau bin, die das tut, oder vielleicht auch die erste, wie in diesem Falle."
    21 Uhr und das tiefe C ertönt
    Drei Minuten vor neun. Martje Salje klettert mit dem Türmerhorn die letzten zwei Stufen nach draußen.
    "Das, was natürlich von hier besonders ergreifend ist, ist, wie sich hier die Straßen so fortschlängeln von hier aus. Das ist ja hier der Mittelpunkt, und alle Straßen gehen von hier weg. Und der Domplatz ist natürlich toll von hier zu sehen. Die ganzen Lichter der Stadt."
    So aufgekratzt die selbstbewusste Oldenburgerin sonst auch sein kann – jetzt wird sie ganz ruhig.
    "Einmal dachte ich schon, ich hätte Feuer entdeckt, dabei war das nur Fabrikrauch, wie da drüben. Da war ich etwas übereifrig."
    Fast zwanzig Brände hat ihr Vorgänger von hier oben in zwanzig Jahren gemeldet. Immerhin. Martje Salje hievt das schwere Kupferrohr auf die Balustrade.
    "Jetzt warte ich immer erst die Glockenschläge ab. Erst die hellen, dann die tiefen."
    Und dann setzt sie die Lippen an das Mundstück und lässt das tiefe C in den Himmel dröhnen. Das erste Signal des Abends. Es ist 21 Uhr – und von hier oben sieht die Welt absolut in Ordnung aus.