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Landlust/Landfrust (2/2)
Zukunft des Dorfes - Dorf der Zukunft

In den Städten wird es immer enger, viele Dörfer auf dem Lande werden immer leerer. Haben sie noch eine Zukunft? Und wie könnte sie aussehen? Dazu im Gespräch Gerhard Henkel, Humangeograf, Professor im Ruhestand an der Universität Duisburg-Essen. Seit 45 Jahren befasst er sich mit unterschiedlichen Themen der historischen und aktuellen Entwicklung des ländlichen Raumes.

Gerhard Henkel im Gespräch mit Jochen Rack |
    Die Baustelle eines Eigenheims in ländlicher Umgebung am 12.04.2015 am Stadtrand Hamburgs.
    Eigenheimbau am Stadtrand. (dpa / picture-alliance / Markus Scholz)
    Zuletzt erschien sein Buch "Rettet das Dorf! - Was jetzt zu tun ist" (2016). Vorbei sind die Zeiten der Suburbanisierung, als der Traum vom Einfamilienhaus im Grünen der Lebensrealität der Kleinfamilie entsprach, in der sich die Frau zu Hause um Kinder, Küche und Kirche sorgt, während der Mann zum Arbeiten in die nächste Metropole pendelt. Das Statistische Bundesamt erwartet bis 2050 einen Einwohnerrückgang von zwölf Millionen, vor allem auf dem Land.
    Gegen den Megatrend der Urbanisierung, die den Großstädten wegen ihres kulturellen Angebots und der Vielfalt von Lebensformen auch für Singles zu stetigem Wachstum verhilft, ist das Land in die Defensive geraten.

    Das Manuskript zur Sendung:
    Jochen Rack: Herr Henkel, Sie haben sich intensiv mit der Entwicklung ländlicher Räume und dörflicher Kommunen beschäftigt und zuletzt ein Buch mit dem alarmierenden Titel "Rettet das Dorf!" publiziert. Was liegt denn Ihrer Ansicht nach im Argen auf dem Land, dass Sie so drastisch zu so einer Rettungsaktion aufrufen?
    Gerhard Henkel: Die Dörfer werden immer leerer. Sie werden leerer an Arbeitsplätzen, an Menschen, die dort wohnen, aber auch an Infrastruktur, die verloren gegangen ist, und auch an kommunalpolitischer Betätigung. Ich habe das Dorf ja noch so in den 50er-Jahren miterlebt und in dieser Zeit war das Dorf regelrecht voll. Die Häuser waren voll von Menschen, es gab in jedem Haus irgendwie eine Aktion, Landwirtschaft, Handwerk, dann gab es Geschäfte, dann gab es Schneidermeister, es gab Schmieden und es gab alle möglichen Arten von Bewegung. Und ich kann mich erinnern, dass ich als Junge stundenlang durch das Dorf laufen konnte, um immer irgendetwas zu sehen, zu erleben. Also, man nannte das bei uns in Westfalen stromern, herumstromern, um zu gucken, was es Neues gab. Und das ist heute nicht mehr der Fall. Wenn Sie heute durch Dörfer gehen, so mitten in der Woche, mitten am Tage, dann können Sie schon eine gewisse Ruhe oder Stille oder vielleicht auch beängstigende Stille erleben, weil in vielen Dörfern eben kein Laden mehr ist, kein Gasthof mehr ist und auch kein Café ist. Und Sie treffen auch keinen Bürgermeister und auch keine Schule mehr dort und entsprechend ist es in vielen Dörfern still geworden.
    Rack: Jetzt steht ja diese Diagnose, Herr Henkel, etwas im Widerspruch zu diesem seltsamen Zeitgeist, den wir gleichzeitig auch beobachten. Es gibt eine Zeitschrift, die sich "Landlust" nennt und also eigentlich dieses dörfliche Leben feiert, es scheint eine Zeitschrift zu sein, die vor allem von Städtern gerne gekauft wird. Sind denn diese Bilder von der sogenannten Landlust, die da im Umlauf sind, sind die eigentlich in irgendeiner Weise realistisch? Oder sind das rein eskapistische Träume, könnte man vielleicht sagen, von Stadtbewohnern?
    Alleenbäume werfen lange Schatten auf ein verschneites Feld im Landkreis Oder-Spree nahe Sieversdorf / Brandenburg – fotografiert mit einer Drohne.
    Eine idyllische Landschaft im Landkreis Oder-Spree. (:(c) dpa)
    Henkel: Die Landlust ist ja schon etwas, was die Menschen bewegt, nicht nur in den Großstädten, die also wahrscheinlich eben vielfach die Leser sind und Käufer von solchen Zeitschriften. Es ist aber auch auf dem Lande selbst nicht so grundsätzlich nur ein Gefühl der Misere oder der Unlebendigkeit, es ist auch auf dem Lande heute durchaus auch eine Vitalität, auch eine Lebendigkeit und auch ein Sich-Wohlfühlen. Wenn ich es vergleiche mit meinem Weggehen aus dem Dorf 1963, da war das Dorf eng und in gewisser Weise streng. Man hatte das zu tun und das und das und das, also, der Onkel, die Tante, der Pastor, der Lehrer und die Verwandten und natürlich auch die eigenen Eltern, es gab schon ziemlich viel Vorschriften und Vorgaben. Und das Dorf war längst nicht so frei und liberal, wie das heute ist. Wenn Sie heute die jungen Leute sich anschauen, mit 17, 18, da haben die die gleichen Klamotten an wie in der Großstadt und haben auch die gleiche Art von Handys oder Smartphones in der Hand und kommunizieren und waren mit 17, 18 alle schon einmal in England oder Spanien, und wenn sie 20 sind, nach dem Abitur, dann sind sie in Namibia und in Neuseeland. Also, das ist kein Unterschied.
    Rack: Also, ich verstehe Sie richtig: Es ist eine widersprüchliche Diagnose? Einerseits haben Sie die Probleme benannt, die auf dem Dorf herrschen, …
    Henkel: Richtig.
    Rack: … also vor allem die Abwanderung, darüber müssen wir noch dezidierter sprechen.
    Henkel: Richtig.
    Rack: Andererseits eben auch eine gewisse Lebensqualität auf dem Dorf, das Dorf ist nicht mehr automatisch das Rückständige, sagen Sie, mit den Hinweis auf die Liberalität.
    Henkel: Nein.
    Rack: Aber wenn wir uns jetzt erst mal widmen eben noch mal genauer der Beschreibung der Situation: Also, Landflucht ist ja, wenn man so will, ein großes Thema, die Demografie in Deutschland verändert sich und es findet offenbar eine starke Abwanderung von Dörfern statt. Wie sind die Regionen auch unterschiedlich betroffen?
    Henkel: Also, die Landflucht ist ein Phänomen, das man gar nicht bestreiten kann. Es sind vor allen Dingen die jungen Menschen, die abwandern, die 18- bis 27-Jährigen, die gehen weg, verlassen das Land zum Studieren, um eine Lehre zu machen. Das ist der Haupttrend. Dass eben da eine demografische Lücke entsteht auf dem Land, das ist ganz klar. Dass die jungen Leute dann zunächst mal fehlen, das ist ein Manko, und dass die Eltern zurückbleiben, das lässt sich nicht von der Hand weisen.
    Rack: Sie sprechen, Herr Henkel, von einer demografischen Lücke. Wenn ich das etwas drastischer ausdrücken soll mit einem Zitat von Reiner Klingholz, Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, er sagt hier: Der Bevölkerungsschwund ist so stark wie seit der großen Pest im Mittelalter nicht mehr.
    Henkel: Ich sehe die Entwicklung noch nicht so dramatisch wie der Kollege Klingholz. Es gibt die Verluste, aber nicht dermaßen groß, dass man sagen könnte, dass die Situation wie im Mittelalter ist. Es gibt ja auch viele, viele Gegenmaßnahmen und es gibt auch Bevölkerungsverluste in Mittelstädten, die genauso drastisch sind. Also, wenn ich mal ein Beispiel nennen darf, Merseburg, eine ganz attraktive Mittelstadt, die vor 40, 50 Jahren über 60.000 Einwohner hat, die jetzt gerade mal die Hälfte hat. Der Verlust ist entstanden in den letzten 40 Jahren.
    Rack: Ja, wenn wir das mal ein bisschen genauer für Deutschland anschauen: Es gibt ja eben sehr große Ungleichzeitigkeiten in dieser Entwicklung, kann man sagen. Im Umfeld großer Städte wächst eigentlich das sogenannte Ballungsgebiet, dagegen in vielen randständigen Regionen, also etwa in der bayrischen Gegend da um Hof herum, in diesen berühmten … früher hießen die Zonen Randgebiete, da ist es eigentlich so, dass tatsächlich ein großer Bevölkerungsschwund stattfindet und dann auch die Immobilienpreise verfallen et cetera. Wie interpretieren Sie denn diese ganze Entwicklung, wo führt uns das eigentlich hin?
    Blick auf das Dorf Stuhlfelden im Salzburger Land in Österreich: Hinter dem Dorf sind Berge und darüber blauer Himmel zu sehen.
    Das Dorf Stuhlfelden im Salzburger Land in Österreich (imago / Volker Preußer )
    Henkel: Ja, wir haben also große regionale Unterschiede in Deutschland. Aber wir müssen auch da auf dem Teppich bleiben. Im Vergleich zu Nachbarländern haben wir vergleichsweise wenig extreme Peripherräume. Wenn Sie nach Frankreich, Italien gehen oder auch England oder Skandinavien, dort sind viel mehr Peripherräume, die sich entsiedeln, als in Deutschland. Wir haben ja in Deutschland durch die dezentrale Struktur, die historisch bedingt ist, dass wir überall die Residenzstädte haben - ob das nun Coburg ist oder ob das nun Celle ist oder ob das Detmold ist oder Bayreuth -, da sind ja Zentren, die auch Infrastruktur haben. Und die sind verstreut. Oder Meiningen. Also, ich muss also kaum 25 oder 30 Kilometer fahren, um schon wieder bei einem Mittelzentrum zu sein. Also, diese Peripherräume haben wir nicht so stark wie in Nachbarländern, aber wir haben natürlich die Unterschiede, da haben Sie vollkommen recht. Wir haben um die Städte herum - man nennt das ja salopp Speckgürtel - haben wir ein Wachstum in den Dörfern, also selbst in so Regionen, die etwas abgelegen sind wie Bayreuth oder so, in den Dörfern herum gibt es ein Wachstum. Oder in meiner Heimatregion um Paderborn herum, die Dörfer, die ursprünglich 2.000 Einwohner hatten, die haben jetzt auf einmal 12.000 Einwohner, sind also auf das Sechsfache angewachsen. Und wenn man dann in die Peripherräume hineingeht, dann werden Sie noch mal wieder Unterschiede feststellen. Und meine Erfahrung ist die, dass selbst in Peripherieräumen … Ich bin jetzt zum Beispiel in der Uckermark gewesen, im Kreis Prenzlau, im Nordosten von Brandenburg, da sind die am meisten betroffenen Siedlungen von Leerstand die Kleinstädte. Nicht die Dörfer. Wo an der Hauptstraße viele Geschäfte waren und die kleine Schule, da haben Sie Leerstand von 30, 40 Prozent. Wenn Sie aber dann fünf Kilometer weg in die Dörfer gehen, wo die Häuser auf Grundstücken stehen mit 1.000 Quadratmetern, da haben Sie fast keinen oder keinen Leerstand, selbst dort. Weil diese Grundstücke sich viel leichter verkaufen lassen an Stadtflüchter. Zum Beispiel eine bevorzugte Gruppe sind ältere Ehepaare so um die 50, die an ihre Pensions- oder Rentnerzeit denken und sich dann dort ein Häuschen kaufen und dann am Wochenende dort hingehen. Oder auch andere, die in Berlin oder München, auch in der Kulturszene sind ja ganz viele Künstler, die auf dem Lande - oder in den Medien arbeiten -, die in der Großstadt arbeiten und die auf dem Lande wohnen. Mein Eindruck ist, dass die Leute, wenn sie denn aufs Land gehen, dann gerade nicht so in diese Gürtel der Suburbanisierung gehen, wo so ein Siedlungsbrei ist, wo man gar nicht weiß, ist das jetzt ein Dorf oder ist das eine Kleinstadt oder was ist das hier überhaupt, dass sie dann also regelrecht suchen: Wo ist ein richtiges Dorf, sage ich mal, was man noch erkennen kann als eine gewisse Einheit und wo auch dann noch um das Dorf herum Freiflächen sind, das heißt, Felder und auch Wälder, wo man sich dann auch freizeitmäßig mit dem Rad oder mit dem Pferd oder wie auch immer bewegen kann. Und wo man dann vielleicht auch noch so etwas wie eine gewisse Dorfgemeinschaft und eine Dorfidentität erkennen kann.
    Rack: Damit sprechen Sie schon einen wichtigen Unterschied an, nämlich den Unterschied zwischen attraktiven und unattraktiven Dörfern. Jetzt haben Sie gesagt, ein richtiges Dorf, das hat eine gewisse Infrastruktur, gewisse vielleicht auch bauliche Substanz oder historische Substanz. Wie kam es denn eigentlich dazu, dass in vielen Dörfern diese Attraktivitätsmerkmale unter die Räder gekommen sind? Es gab ja in den 70er‑Jahren - ich erinnere mich - oder auch noch in den 80er-Jahren mal eine Bewegung, die hieß "Unser Dorf soll schöner werden", da war also schon irgendwie ein Bewusstsein dafür da, dass offenbar im Dorf auch vieles Hässliche passiert ist.
    Henkel: Ja, die 70er-Jahre, das war eine ganz wilde Zeit. Und aus heutiger Rücksicht war es eine Zeit, die dem Dorf sehr geschadet hat. Das kann man festmachen an zwei Bewegungen, die abgelaufen sind: Einmal das Bauliche betreffend, wir hatten ja die Phase, die man damals nannte Dorfsanierung, das war auch eine staatliche Maßnahme, die auch natürlich irgendwo ihre Gründe hatte, weil im Dorf auch schon eine Leerstandsphase war in den 70er-Jahren, weil viele Bauern ihre Betriebe aufgegeben haben, Handwerksbetriebe haben ihre Betriebe aufgegeben und wir hatten schon eine Landflucht. Auch das ist etwas, was wir hatten in den 70er-Jahren. Dann hat der Staat reagiert mit Dorfsanierung. Und da gibt es also so abschreckende Beispiele! Und ich habe eins in meinem Dorf, in einem Nachbardorf erlebt und insofern bin ich auch neben dem Wissenschaftler so zu einem Anwalt dieses Dorfes geworden, weil dort zwei städtebauliche Gutachten, für jedes Dorf eines, aufgestellt worden sind - man sehe schon den Titel, städtebauliches Gutachten - für zwei mittelgroße Dörfer, dann wurde von den Autoren festgestellt, dass in diesen Orten baulich nichts wertvoll ist, gar nichts. Dass man praktisch alle Häuser zum Abriss freigeben kann. Und dann wurden ganz neue Architekturzitate aus der Stadt, x‑beliebige Atriumhäuser, Terrassenhäuser und kleine Hochhäuser … also, die mit den Bauformen, mit den traditionellen Bauformen nichts zu tun hatten, wurden dann hineininstalliert. Also, eine, wenn man so will, baukulturelle Entmündigung des Dorfes durch die Zentralen, die aus Düsseldorf kamen und den Leuten das ultimative Dorf beibringen wollten. Aber es war eine Entmündigung. Und wenn ich Sie heute mal durch mein Heimatdorf Fürstenberg führen würde, dann würden Sie nur staunen, wie schön das Dorf ist, aber damals wurde diesem Dorf bescheinigt: Es gibt in diesem Dorf keinerlei historische oder architektonische Substanzen, auf die man bei einer Neubebauung Rücksicht nehmen müsste.
    Rack: Also könnte man so sagen, dass gewissermaßen die Probleme, mit denen die Dörfer heute auch zu tun haben, eben was diesen Verlust historischer Substanz anbetrifft oder das Hässliche ihres Aussehens, dass dies auch eine Spätfolge einer bestimmten industriell oder, wie soll man sagen, rationalistisch geprägten Auffassung war, die eben in den 70er-Jahren besonders stark war? Man hat ja auch die Städte damals zerstört, man hat also Schneisen in die Städte gebrochen für den Verkehr, man hatte kein ökologisches Bewusstsein auch.
    Auf dem Lindenplatz in Limmersdorf steht die ca. 350 Jahre alte Tanzlinde.
    Tanzlinde auf dem Lindenplatz in Limmersdorf (Deuschlandradio / Jasmin Schäffler)
    Henkel: Man hatte keine Sensibilität, es waren einfach die Vorgaben von zentralen Entscheidern, die wenig sensibel waren oder gar nicht sensibel waren für die, hier in dem Fall, Baukultur. Aber der zweite Riesenverlust, den das Dorf erlebt hat, war zur gleichen Zeit - das war auch noch stärker eine Entmündigung des Dorfes durch die kommunalen Gebietsreformen -, wo man fast die Hälfte der deutschen Dörfer, an die 20.000 Dörfer durch Gesetze ihrer kommunalen Selbstverantwortung beraubt hat. Man hat also in Jahrhunderten gewachsene, lokal-kommunale Einrichtungen wie den Bürgermeister und den Gemeinderat beseitigt. Und hat ihnen gesagt, wir brauchen euer kommunales, lokales Nachdenken, Fühlen und Handeln für die Örtlichkeit nicht mehr, das regeln wir jetzt von Institutionen, die 15 oder 20 Kilometer entfernt sind. Und wir brauchen von euch 12 oder 15 Gemeinderäten nur noch einen oder zwei, die im Großgemeindeparlament, nach der Eingemeindung irgendwo zehn Kilometer oder 20 Kilometer weiter sitzen. Das heißt, der Staat hat eine in Jahrhunderten gewachsene Institution der Selbstverantwortung, die sich bewährt hat, die auch gesorgt hat dann für Feuerwehr, für Schützenvereine, für Polizei, für Schule und so weiter, beseitigt. Und das ist jetzt hochgerechnet auf den Gesamtstaat in Deutschland, sind das 300.000 ehrenamtlich tätige Kommunalpolitiker, die man beseitigt hat. Das war eine so rabiate Entmündigung des Dorfes, die an die Substanz des Dorfes ging, weil dann eben in der Phase des ökonomischen und sozialen Wandels die Kraftmitte des Dorfes fehlte, die bei dieser Umsteuerung helfen konnte. Und ähnlich … Besonders schlimm ist es jetzt in den neuen Ländern, in Thüringen und in Brandenburg, wo jetzt schon die zweite Welle von Gebietsreformen läuft, dort ist schon 1994/95, sind schon Gebietsreformen gewesen, jetzt läuft die zweite Welle in den genannten Ländern und die Menschen auf dem Lande sehen dort, dass der Staat sich für ihre Belange nicht interessiert.
    Rack: Aber verstehe ich Sie richtig, Sie sagen, durch diese Entmündigung der lokalen Selbstverwaltung der Dörfer sei so etwas entstanden auch wie ein entweder zusätzlicher Verfall der Infrastruktur?
    Henkel: Richtig.
    Rack: Hätten die sich besser dagegen wehren können? Denn Sie haben ja anfangs gesagt, also, ein großes Problem, mit dem sehr viele dieser Dörfer zu kämpfen haben und weshalb wir ja auch über dieses Thema sprechen, ist, dass es heute dort an Infrastruktur fehlt, dass es keine Schulen etwa mehr gibt, dass es keine Kindergärten mehr gibt, keine Wirtshäuser, Banken, Post, all diese Dinge. Hätten die Dörfer sich Ihres Erachtens eigentlich gegen diesen Megatrend, dass eigentlich die Leute gerne in die Städte gehen, hätten sie diesen Megatrend aufhalten können?
    Henkel: Sie hätten das besser regulieren können und sie hätten das mit eigenen Kräften mildern können. Und es gibt inzwischen mehrere Untersuchungen, die diese Konsequenzen dieser kommunalen Gebietsreform aufarbeiten. Von einem Neuzeithistoriker ist jetzt eine Langzeituntersuchung gemacht worden von gleich großen Dörfern, die, sagen wir mal, 1.000 Einwohner haben, die einerseits selbstständig geblieben sind und andererseits eingemeindet worden sind, also nicht mehr selbstständig geblieben sind. Und das Ergebnis ist eindeutig: Die Orte mit 1.000 Einwohnern, die als Kommune selbstständig geblieben sind, also eine kleine Gemeinde geblieben sind, haben sich in Bezug auf Einwohnerentwicklung, auf Infrastrukturentwicklung und auf Immobilienwertentwicklung besser entwickelt als die eingemeindeten. Und sie haben sich auch noch weniger verschuldet, also so pro Kopf. Das heißt, kleine Gemeinden haben die Power der Menschen, die da sind, die mitmachen, und sorgen dafür, dass hausgehalten wird, machen vieles selber. Also, in den kleinen Gemeinden, wenn beispielsweise die Friedhofsmauer kaputt ist, dann ist das am Tisch des Gemeinderates, dann sagen gleich, wenn einer das erzählt, ich habe gesehen da und da, und dann sagen gleich zwei, drei andere, das habe ich auch schon gesehen, da müssen wir im Frühjahr dran und im Herbst müssen wir das machen.
    Rack: Kann ich das so verstehen: Wenn die Dörfer sich gegen diesen großen Trend zur Abwanderung, der offenbar herrscht weltweit, wenn die sich dagegen wehren wollen, dann können sie das nur tun, indem sie eine verstärkte Anstrengung selbst übernehmen innerhalb der Kommunen, um Infrastrukturleistungen, die kaputt zu gehen drohen, aufrechtzuerhalten?
    Henkel: Das ist vollkommen richtig. Es bleibt den Dörfern nichts anderes übrig. Die Dörfer müssen ihr Heft selbst in die Hand nehmen, wenn sie denn eingemeindet sind. Also, dort, wo es noch eigene Gemeinden sind, müssen sie diese Selbstverantwortung auch wahrnehmen. Gerade in eingemeindeten Dörfern sind neue Bürgervereine entstanden. Plötzlich waren sie da und nannten sich "Dorfrat Wewelsburg", "Förderverein Westheim", "Lebendiges Espeln", "Ollarzried aktiv", all solche Namen, oder "Pro Fürstenberg", die anzeigen: Wir wollen jetzt das Gemeinwohl unseres Dorfes in die Hand nehmen.
    Rack: Aber was machen die dann konkret? Sind die dann in der Lage, ich sage mal, eine drohende Schulschließung … Denn das ist ein großes Thema auf den Dörfern, dass die kleinen Schulen offenbar tendenziell geschlossen werden, weil der Staat offenbar nicht bereit ist, das Geld dafür aufzuwenden, denn es ist teuer, wenn wenige Schüler da sind. Können die diese Entwicklung dann zurückdrehen? In anderen Worten: Wer soll das alles bezahlen?
    Straßenschild Weindorf Sommerloch.
    Straßenschild Weindorf Sommerloch. (Deutschlandradio / Sabine Demmer)
    Henkel: Der Einwand ist berechtigt, das ist ein ganz hoch sensibles Thema. Das sind Themen, wo die Orte fast nichts machen können, da haben Sie recht, weil da eben auch wieder noch die Schulpolitik, die nach dem gleichen Schema abläuft … Da muss auch das Land noch helfen und beweglicher werden, um zu sagen: Also, kleine Dorfschulen werden von uns respektiert und wir machen Verbundsysteme und so weiter und so weiter. Es gibt allerdings auch Einzelfälle, auch bei Schulen, wo ein Schulstandort gefährdet war: In einem Dorf, wo man gesagt hat, ja, an der Schule fehlt die Turnhalle, da ist der Schützenverein des Dorfes hingegangen und hat für 200.000 Euro auf eigene Kosten für die Kommune eine Turnhalle in das Dorf gebaut.
    Rack: Nun wird ja nicht jede Gemeinde in der Lage sein, die Mittel, die nötig sind, für die Erhaltung dieser Infrastruktur … Wir sprechen jetzt nur über Schulen, aber es gibt ja viele andere Beispiele auch, Sie diskutieren die zum Teil in Ihrem Buch, also Schwimmbäder etwa oder eben, wenn wir über die Post sprechen, die Postversorgung, der Nahverkehr ist ein großes Thema. Muss der Staat einfach mehr Geld reinpumpen?
    Henkel: Also, in manchen Fällen muss er mehr Geld reinpumpen, aber letztlich kommt es auf die Dorfbewohner auch selbst an, ob in ihrem Dorf ein Gasthof ist oder nicht, ob in ihrem Dorf ein Laden ist oder nicht. Und da gibt es ja inzwischen Tausende von Beispielen, wo sich ein Bürgerverein bildet - das sind ja die Hauptbeispiele -, um den letzten Laden, den letzten Gasthof zu retten, um zu sagen, wir schaffen ein Dorfgemeinschaftshaus, wenn wir die leer stehende Schule übernehmen und so etwas. Oder wir haben da so eine schöne Tradition, die pflegen wir jetzt und ziehen damit Menschen an, machen das Dorf attraktiv und machen das Dorf lebendig. Nämlich das zeigt sich: Dörfer, die eine solche Attraktivität durch solche Bürgervereine haben und die es schaffen, so einen Treffpunkt in der Mitte zu haben, sind auch attraktiv für Rückkehrer.
    Rack: Jetzt will ich mit Ihnen, Herr Henkel, noch einen anderen Aspekt ansprechen, der die Frage nach der Attraktivität des Landlebens betrifft. Wenn wir sagen, wir leben in einer Erlebnisgesellschaft - das war eine soziologische Analyse der letzten Jahrzehnte -, also in einer Gesellschaft, wo die Menschen mehr wollen als nur die Grundversorgung, sondern sie wollen Sensationen geboten haben, sie wollen kulturelle Ereignisse, sie wollen eben das Leben in einer neuen Weise genießen: Und in der Regel verbinden wir diese Werte eigentlich mit der Stadt. Deshalb ist ja die Stadt so attraktiv, weil viele Menschen eben genau dies suchen, ein Theater, eine große Kinolandschaft et cetera, et cetera, was die Städte bieten. Was wäre denn das Originelle, was das Land bieten kann, das Dorf? Unter dem Aspekt auch der Erlebnisgesellschaft: Auch die Leute, die auf dem Dorf leben, wollen was erleben?
    Henkel: Ländliche Lebensstile sind geprägt durch Naturorientierung, durch Traditionsorientierung. Das heißt, man feiert alle möglichen Feste, die eben historisch bedingt sind, Jubiläen, 100, 200, 500, 800 Jahre. Es ist gemeinschaftsorientiert. Dieses Gemeinschaftsleben in den Dörfern, dass man sich kennt, dass man Vereine hat, dass man Punkte hat, wo man sich treffen kann, inzwischen auch für Senioren. Also, gemeinschaftsorientiert, das macht eigentlich das Dorf hauptsächlich aus, dass viel in Bewegung ist, dass man anpackt, dass man immer wieder überlegt, was können wir tun, da ist ein Problem und wir packen es an. Dass man nicht lange fragt. Das hört sich zunächst mal so an, dass das wenig attraktiv ist so für Stadtbewohner, aber es ist eben doch überschaubar. Es ist naturnah und es sind Leute da, die etwas machen und die auch etwas in Gemeinschaft machen. Und das hat schon eine Attraktion. Und deswegen kommen auch Familien mit Kindern verstärkt wieder, dass die sich sagen: Wenn wir jetzt Kinder haben, dann müssen wir sehen, dass wir aus München wegkommen oder aus Berlin, um auf das Land zu ziehen, weil vom Gefühl her, aber auch von soziologischen Untersuchungen her einfach Kinder auf dem Lande gesünder und auch stabiler groß werden.
    Rack: Nun haben wir ja auch erleben müssen in den letzten Jahrzehnten, dass eigentlich diese ästhetischen Qualitäten, die das Land bietet, die Naturschönheit, dass die großräumig auch zerstört worden ist. Einerseits durch Industrialisierung der Landwirtschaft, durch Monokultur, durch den Straßenbau, durch die Zersiedelung von Flächen. Was müsste eigentlich geschehen, ist da auch ein grundlegendes Problem, dass das Landleben an Attraktivität auch verloren hat, weil es vielleicht auch tatsächlich hässlicher geworden ist, als das früher der Fall war, wo wir mehr Tiere hatten auf dem Land, mehr Pflanzen? Also diese Dinge, die wir unter dem Ökologischen eigentlich wiederentdeckt haben?
    Eine Herde Kühe steht vor einer Biogasanlage in Hermerode (Mansfeld-Südharz).
    Eine Herde Kühe steht vor einer Biogasanlage in Hermerode (Mansfeld-Südharz). (picture alliance / dpa / Jan Woitas )
    Henkel: Dass so viele Pflanzen- und Tierarten zunehmend verschwinden, ist natürlich ein Debakel. Und da muss man gegensteuern. Dass Landschaften ausgeräumt sind, uniformer geworden sind, ist auch eine Entwicklung, die abgelaufen ist. Das ist in Bewegung und das muss auch jetzt in Bewegung geraten, noch mehr. Wir sind ja da auf dem Wege auch jetzt, die Bundeslandwirtschaft, aber auch in den Ländern, dass wir Richtung Tierwohl gehen, dass wir versuchen, die Betriebe nicht noch mehr zu vergrößern, und auch die Monokulturen draußen. Da sieht man, dass da ganz viel in Bewegung ist, und das ist auch gut so. Also, selbst in so Intensivregionen wie Oldenburger Münsterland, wo wir ja die größten Mastbetriebe haben in Deutschland und wo die Landwirtschaft natürlich prosperiert und so, wo bisher auch in der Bevölkerung ein Konsens da ist. Aber man sieht auch dort, dass der Konsens dann anfängt zu bröckeln, wenn dann die Kommunen keine Möglichkeiten mehr haben, eigene Dinge zu entwickeln, weil ringsherum schon überall diese Biogasanlagen stehen. Das ist das eine. Und weil dort ja auch Tourismus ist, da gibt es ja auch Landgasthöfe, da gibt es auch den Ems-Radweg, wo man also Touristen hinhaben will. Und wenn die dann nur an Maisfeldern und an Biogasanlagen vorbeifahren, dann werden die nachher diese Route auch nicht mehr wählen. Also, das sind solche Konflikte, die zeigen: Man muss dort sensibler werden, man muss umsteuern. Das darf nicht die Alleinentwicklung des Landes sein, dass wir nur noch solche Großbetriebe haben.
    Rack: Ich will Sie jetzt, Herr Henkel, am Ende unseres Gesprächs zu dem Thema Landfrust/Landlust noch fragen: Wenn Sie sich nach all dem, was wir besprochen haben an Problemen und an möglichen Gegenstrategien gegen diesen Trend, dass die Dörfer ausbluten, dass das Land immer dünner besiedelt wird und alles in die Städte zieht, wenn Sie sich da mal utopisch betätigen sollten und Sie sich vorstellen sollten ein Dorf der Zukunft, dass all diese lebenswerten Qualitäten hat, von denen wir gesprochen haben: Wie müsste dieses Dorf aussehen?
    Henkel: Das Dorf müsste zunächst mal ein Dorf sein, das sich selbst verantworten kann mit einem eigenen Gemeinderat und einem eigenen Bürgermeister, diesem Kraftzentrum, dem demokratisch legitimierten, gewählten Kraftzentrum, das sich um die eigene kleine Gemarkung kümmert und diese eben verantwortungsbewusst mit den Bürgern und auch dem Staat, den Leitbildern, die der Staat gibt, verhält. Dieses Dorf hat neben dem Bürgermeister und dem Gemeinderat auch noch die eigene Pfarrei, hat möglichst noch einen Kindergarten, hat eine kleine Schule, eine Grundschule vielleicht nur, hat einen Gasthof, hat einen Laden und hat auch diverse Handwerksbetriebe und natürlich die Vereine, die einen wesentlichen Teil der sozialen und Freizeitinfrastruktur haben. Und ich wünsche mir auch, dass das Dorf dann auch sich als sorgende Gemeinschaft fühlt und präsentiert für die kleinen Dorfbewohner und für die Älteren. Ich hoffe, dass es dann auch schön aussieht, dass also die historische Bausubstanz, die da ist, gepflegt wird, und dass auch möglichst die umgebende Landschaft ein schönes Bild abgibt. Dann wäre dies der Idealzustand.
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