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Laurent Binet : "Die siebte Sprachfunktion"
Deftige Intellektuellen-Satire

"Der Autor ist tot", verkündete Roland Barthes 1968 - und schuf damit einen zentralen Schlachtruf postmoderner Literatur- und Kulturtheorie. Den Autor Barthes lässt Laurent Binet in "Die siebte Sprachfunktion" tödlich verunglücken und entfaltet so einen hoch komischen Krimi – voller Sehnsucht nach dem "goldenen Zeitalter der Sprachphilosophie"

Von Dina Netz |
    Ein Citroën DS parkt am Straßenrand in Wernigerode
    Autoren und Autos: Themen von Roland Barthes - hier sein "göttliches Auto": Ein Citroën DS, von Barthes in den "Mythen des Alltags" verewigt. (dpa / picture alliance / )
    Laurent Binet backt keine kleinen Brötchen. Er hat ein Jahr lang den französischen Präsidenten François Hollande begleitet und ihn als "politische Kriegsmaschine" porträtiert. Binets erster Roman "HHhH oder: Himmlers Hirn heißt Heydrich" erzählte eine Episode aus der tschechischen NS-Geschichte als Groteske. Sein neuester Coup ist nun ein Krimi, der unter den Pariser Poststrukturalisten der 80er Jahre spielt. Binet wirbelt darin munter allerlei existierendes Personal, verbürgte Fakten und erfundene Geschichten durcheinander.
    Ausgangspunkt ist der Tod des Erfinders der Semiotik, Roland Barthes, an den Folgen eines Unfalls am 25. Februar 1980. Im Roman ist es kein Unfall, sondern Mord. Binet lässt einen bulgarischen Wäscherei-Fahrer Barthes absichtlich überfahren, weil der Semiotiker ein begehrtes Manuskript bei sich trägt, das dem Besitzer rhetorische Macht verleiht. Es stammt vom russischen Strukturalisten Roman Jakobson und beinhaltet die titelgebende "siebte Sprachfunktion":
    Im Grunde sind Semiotiker auch eine Art Kommissare
    "Stellen wir uns eine Sprachfunktion vor, die sehr viel extensiver irgendjemanden davon überzeugen könnte, irgendetwas in irgendeiner Situation zu tun. […] Wer diese Funktion kennt und beherrscht, wäre praktisch der Herr der Welt. Seine Macht wäre grenzenlos. Er könnte sich bei jeder Wahl wählen lassen, könnte die Massen mobilisieren, Revolutionen auslösen, Frauen verführen, jedes beliebige vorstellbare Produkt verkaufen, Imperien errichten, die ganze Welt betrügen, alles bekommen, was er will. (S. 277)"
    Binet lässt den bis dahin blassen Kandidaten François Mitterrand dank der siebten Sprachfunktion überraschend die Präsidentschaftswahlen gewinnen. Historische Fakten baut Binet immer so elegant ein, dass der Roman sich zu großen Teilen tatsächlich so hätte ereignen können.
    Die Verbindung von Linguistik und Krimi ist nur im ersten Moment überraschend, eigentlich ganz naheliegend, denn im Grunde sind Semiotiker auch eine Art Kommissare: Beide versuchen, Zeichen zu deuten. Dass diese Milieus einander gesellschaftlich hingegen völlig fremd sind, nutzt Binet für viele sehr komische Effekte. Sein ermittelnder Kommissar Bayard, eher konservativ und gut fürs Praktische, kann mit den linken "Langhaarigen", mit denen er es zu tun bekommt, wenig anfangen. Er hält die Staatsgelder für philologische Fakultäten ohnehin für verschwendet.
    Da er aber nun einmal den Mord an einem der Protagonisten dieser Szene aufklären muss und mit dem Buch "Rolandbarthisch leicht gemacht" auch nicht weiterkommt, besorgt er sich einen Übersetzer und Assistenten: den Doktoranden Simon Herzog. Der wehrt sich selbstredend zunächst gegen seinen Wechsel auf die Seite der Macht, erweist sich im Folgenden aber als Segen für Bayard: Während dieser über eine gute Menschenkenntnis verfügt, hat Simon eine ausgeprägte Kombinationsgabe – wie Sherlock Holmes kann er aus ganz wenigen Indizien die gesamte Biographie eines Menschen ablesen. Er ist der lebende Beweis für die These des Romans: Ohne Semiotik geht nichts:
    "Tatsächlich deutet alles darauf hin, dass die Semiotik eine der zentralen Erfindungen der Menschheitsgeschichte ist, eines der schärfsten Instrumente, die der Mensch je geschmiedet hat. Aber wie beim Feuer und bei der Atomkernspaltung weiß man anfangs nicht, wozu das gut ist und wie man sich seiner bedient." (S. 16)
    Nebenbei wird Jacques Derrida von den Wachhunden John Searles zerfleischt
    "Die siebte Sprachfunktion" ist ein lustvolles und hochkomisches Spiel mit den Ebenen Krimi, Poststrukturalisten-Satire und romantheoretischer Diskurs. Simon, der natürlich mit allen erzähltheoretischen Wassern gewaschen ist, hält immer wieder Zwiesprache mit dem Autor, mit dem er selten einig ist über den Fortgang der Geschichte.
    Auf diese Ebene hätte Binet vielleicht besser verzichtet, sie wirkt ein wenig gewollt in einem Buch über Roland Barthes, der den Tod des Autors verkündet hat. Aber ein spannender Poststrukturalisten-Krimi – das muss man ja auch erstmal hinkriegen. Kristian Wachinger hat die schräge Mischung aus wissenschaftlichen Erörterungen und rasanter Krimi-Handlung kenntnisreich und so elegant übersetzt, dass der Roman seinen Schwung behält.
    Das intellektuelle Frankreich der 80er genießerisch durch den Fleischwolf gedreht
    Simon und Bayard besuchen auf ihrer Jagd nach dem Manuskript Umberto Eco in Italien, der Vorsitzender eines rhetorischen Geheimbundes ist. Sie verfolgen ein Kolloquium französischer und amerikanischer Semiotiker in den USA, bei dem nebenbei Jacques Derrida von den Wachhunden seines amerikanischen Gegenspielers John Searle zerfleischt wird – diese Episode hat Binet natürlich genüsslich erfunden. Nicht erfunden ist dagegen der Mord des Philosophen Louis Althussers an seiner Frau Hélène – im Roman ist die siebte Sprachfunktion das Motiv. Michel Foucault tritt alle paar Seiten auf, entweder im Darkroom eines Schwulenclubs oder auf Partys, wo er eine "ängstliche Aufmerksamkeit" auslöst. Der Philosoph Bernard-Henri Lévy, den noch niemand anders als im weißen Hemd gesehen hat, zieht, um unerkannt zu bleiben, ein schwarzes an – das ist ziemlich lustig.
    Der Leser wundert sich vielleicht, dass Bernard-Henri Lévy zugegen ist, aber schon damals war er immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort. (S. 71)
    Und den Schriftsteller Philippe Sollers und seine Frau, die Psychoanalytikerin Julia Kristeva, lässt Binet sogar das Attentat auf Barthes planen.
    So dreht Binet das intellektuelle Frankreich der 80er genießerisch durch den Fleischwolf, zum Teil wortwörtlich. Sollers verliert zum Beispiel seine Eier, im übertragenen und im eigentlichen Sinne. Erstaunlich, dass keiner der Karikierten gegen das Buch geklagt hat. Welcher Leser mit diesem französischen Personal nicht so vertraut ist, wird es bald sein – zumindest mit den gleichnamigen Romanfiguren. Der Verlag hat auf einen Anhang mit Personenverzeichnis verzichtet. Eine kluge Entscheidung, denn wer die zahllosen Anspielungen versteht, amüsiert sich, wer nicht, liest trotzdem einen klugen und lustigen Roman.
    Satire ist nur ein bisschen respektlos
    Binets deftige Intellektuellen-Satire wirkt trotzdem nur etwas respektlos. Respektlos allenfalls vor den einzelnen beteiligten Personen und ihren Macken, nicht aber vor den wissenschaftlichen Lebensleistungen und vor dem "goldenen Zeitalter der Sprachphilosophie", wie es im Buch heißt.
    Der Roman ist, so sehr er das poststrukturalistische Milieu auch hochnimmt, doch von einer großen Sehnsucht nach dieser Epoche durchdrungen: nach einer Zeit, in der Intellektuelle eng an den politischen Diskurs angebunden waren und in der – so der Roman - ein Linguist den Schlüssel zur Macht in Händen hielt. Angesichts der Präsidentschaftswahlen 2017, bei denen eine Kandidatin wie Marine Le Pen antritt, lässt sich Binets Sehnsucht nach einem klugen Diskurs nur zu gut nachempfinden. Im Roman siegt am Schluss die Macht des Wortes.
    Laurent Binet: "Die siebte Sprachfunktion"
    Rowohlt, Reinbek 2017, 528 S., 22,95 Euro