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Leben im Überfluss
Luxus - eine verbrannte Perspektive?

Luxus ist ein "Mehr an Dingen", ein Freiheitsgewinn, eine Erweiterung unserer Möglichkeiten. Heute wird das "Mehr an Dingen" zu einem "Weniger an Möglichkeiten". Der Ethiker Jean-Pierre Wils denkt über eine Begriffsänderung nach: Luxus als ein "Weniger an Dingen".

Von Jean-Pierre Wils |
    Frau läuft eine Einkaufsstrasse entlang. Zwei Mofas sind geparkt.
    Einkaufen als Freizeitveranstaltung, Florenz, Italien (imago / robertharding)
    Ursprünglich war Luxus das Signal dafür, dass das Leben die Kargheit hinter sich gelassen hatte. Mittlerweile sind wir dabei, durch die Entgrenzung und Radikalisierung unserer Luxuswünsche die Naturbasis unserer Existenz zu liquidieren. Es schließt sich das Zukunftsfenster. Das "Mehr an Dingen" wird zu einem "Weniger an Möglichkeiten". Liberal-demokratische Gesellschaften kennen allerdings - historisch betrachtet - keinen Kontext des "Weniger an Möglichkeiten". Wenn wir weiter im "Luxus der Möglichkeiten" leben wollen, werden wir vermutlich ein "Weniger an Dingen" realisieren müssen. Wir wissen bisher kaum, ob demokratische Gesellschaften das hohe Stressniveau werden bewältigen können, das eine solche Transformation vermutlich verursachen wird. Jean‑Pierre Wils fragt in seinem Essay nach einem "Luxus des Weniger an Dingen".
    Jean-Pierre Wils studierte in Leuven und Tübingen und lehrt an der Universität Nijmegen in den Niederlanden. Bei Klöpfer&Meyer erschien 2014 sein Essay Kunst. Religion. Versuch über ein prekäres Verhältnis.

    Der Luxus war schon immer ein zwiespältiges Phänomen. Den einen galt er als die Übertretung des den Menschen gesetzten Maßes, als Selbstüberhebung angesichts der uns auferlegten Grenzen, als Ablenkung vom Wesentlichen. Luxus stand im Ruf, eine Sünde zu sein, eine schwere Verfehlung gegenüber Gott und ein sicherer Weg ins Verderben. Anderen dagegen kam der Luxus wie die Goldlegierung der Zukunft vor:
    Nicht unbeträchtliche Teile der Weltbevölkerung leben in einer Welt des Überflusses. Wir, die Bewohner des europäischen Westens, gehören zweifelsohne dazu. Hyperkonsum ist zu einem Massenphänomen geworden. Luxus ist nicht länger das Privileg von Wenigen, sondern das Ideal Vieler.
    Kaum eine Utopie verzichtete auf das Versprechen eines Lebens im Überfluss. Der Natur wurde Kargheit attestiert, weshalb man zur Befreiung von ihrem strengen Regime aufmunterte.
    Ökologische Lage der Welt - wie ein leckgeschlagenes Schiff
    Aber die Naturbasis dieser Existenzweise wird schmaler und schmaler. Unlängst verglich Hans Joachim Schellnhuber, der Gründungsdirektor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, die ökologische Lage der Welt mit einem leckgeschlagenen Schiff auf hoher See.
    "Natürlich gibt es auch neben der Havarie Probleme: Das Essen in der dritten Klasse ist miserabel, die Matrosen werden ausgebeutet, die Musikkapelle spielt deutsche Schlager, aber wenn das Schiff untergeht, ist all das irrelevant. Wenn wir den Klimawechsel nicht in den Griff bekommen, wenn wir das Schiff nicht über Wasser halten können, brauchen wir über Einkommensverteilung, Rassismus und guten Geschmack nicht mehr nachzudenken." Und man müsste wohl hinzufügen: "und über Luxus schon gar nicht mehr!"
    Dem Verlangen nach Luxus haftet heute - angesichts des prekären Zustands, in dem sich das gemeinsame Boot befindet - etwas Vermessenes an, so als seien wir mit Blindheit geschlagen. Ist es Ignoranz oder ein kindisches Beharren auf ein Mehr an vergnüglichem Spielzeug, das uns die Augen verschlossen hat? Wollen wir nicht sehen, dass Schlechtwetter im Kommen ist und ein sicherer Hafen zur Umrüstung und zur Gewährleistung der Weiterfahrt nicht in Sicht? Befindet sich der Luxusdampfer nicht schon längst in untiefem Wasser?
    Man darf sogar noch einen Schritt weiter gehen und den Luxus als das Milieu betrachten, worin der Tod außer Sicht gerät: Die Überwindung der trostlosen Magerkost der Natur macht einen verschwenderischen und exzessiven Umgang mit den Dingen möglich, der den Tod zeitweilig vergessen lässt. Die Natur wird das letzte Wort haben, der Tod stellt den sinnfälligsten Beweis dafür dar.
    Will man diesen fatalen Horizont des Lebens ausblenden, bietet sich die Ablenkung durch Luxus an. Es gilt dann der kategorische Imperativ der Genusssteigerung. Unserer Vitalität seien im Grunde die kleinlichen Regeln eines bloß zufriedenen Daseins nicht zuzumuten. Der Hinweis auf die Sterblichkeit, also auf unsere Mortalität, sei die Folge einer falschen Bescheidenheit, eines depressiven Hangs zur immerwährenden Betonung unserer Endlichkeit. Der Philosoph Byung-Chul Han sagt:
    "Luxus ist kein Verfall des Geistes sondern dessen gesteigerte Lebendigkeit. Sein üppiger Glanz ist das Gegenbild des Todes. Er schiebt den Tod auf, der ein Ereignis der Natur wäre."
    Luxus signalisierte die Aufhebung des Mangels
    Ein simples, aber auch klassisches Beispiel für diese Überschreitung der Natur stellt das Parfum dar. Es wurzelt zwar in den Dufteindrücken der Natur, aber übertrifft diese bei weitem an Komplexität, Intensität und Vielfalt. Seine Künstlichkeit soll das natürliche Duftspektrum verblassen lassen, seine synthetische Herstellung als Triumph über die Ärmlichkeit bloßer Naturdüfte gewertet werden.
    Die Advokaten des Luxus haben sich zu Recht auf dessen emanzipatorisches Element berufen: Der Luxus signalisierte nämlich die Aufhebung der Notdurft. Er konnte als Versprechen betrachtet werden dafür, dass der Mangel fortan der Vergangenheit angehören wird. Wir sollten unsere Möglichkeiten nicht in das biedere Korsett natürlicher Schranken pressen lassen. Der Luxus der Dinge - der Luxus der Materialität - ist Freiheitserweiterung, weil er die Vermehrung unserer Möglichkeiten anzeigt. Er führt zum Luxus der Potenzialität. Aber diese Kopplung - die Verbindung von wachsendem Dingkonsum und wachsender Freiheit - hat ihre Gültigkeit inzwischen eingebüßt.
    In Richard Wagners Schrift über "Das Kunstwerk der Zukunft" findet sich eine hellsichtige Charakterisierung des Luxus. Wagner polemisiert dort gegen Gioachino Rossini, dessen Musik für ihn eine parfümiert‑narkotisierende, also dekadente Abart wahrer Tonkunst darstellt. Rossinis Musik atme die Luft eines verderblichen Luxus und beruhe auf purer Einbildung. Man braucht Wagners Gegenentwurf mit seiner unangenehmen Rhetorik von menschlicher Not und wahrer Volksmusik keineswegs zu teilen, um an diesem Gedanken dennoch Gefallen zu finden: Der Luxus, so Wagner, sei beherrscht von einem "wahnsinnigen Bedürfnis ohne Bedürfnis."
    Anders formuliert: Hemmungslos und vernunftlos, wie er ist, führt der Luxus schnurstracks in die Verblendung. Er macht uns zu Gefangenen unserer Gier. Wir kommen uns abhanden im Labyrinth der Verlockungen.
    Allerdings sollten wir uns davor hüten, das Verlangen nach Luxus allzu schnell zu dämonisieren. Luxus ist zunächst nur das, was über das bloß Notwendige hinausgeht. Er ist der Überschuss angesichts des Notwendigen. Was wir Luxus nennen, ist deshalb immer relativ. Für den Mitteleuropäer sieht er ganz anders aus als für einen somalischen Bauern, für eine Frau in den Metropolen des Westens anders als für eine in den Randzonen wuchernder Städte in Indien oder Afrika. Und erst in dem Moment, wo wir das Notwendige im Luxus hinter uns lassen, fängt der Genuss an.
    Die Fähigkeit des Menschen, die Dinge der Welt zu genießen, setzt die Befreiung von der Bedrückung durch das Notwendige voraus. Wer seinen Hunger und seinen Durst stillen muss, um die nächsten Tage zu überleben, genießt seine Nahrungsmittel nicht. Vielleicht sind diese sogar selber ungenießbar. Der Genuss setzt nämlich voraus, dass das Überleben gesichert ist. Jetzt kann man den Lebensmitteln eine kulturelle Verfeinerung angedeihen lassen.
    Ganze Kollektive sind auf dem Weg des enthemmten Genießens
    Zivilisationsgeschichtlich betrachtet haben wir allerdings die Zeiten temperierten Genießens und moderaten Luxus' längst hinter uns gelassen. Der Exzess ist nicht neu, aber nie zuvor haben sich ganze Kollektive - wachsende Populationen "letzter Menschen", um mit Nietzsche zu sprechen - auf den Weg eines enthemmten Genießens gemacht. Es sieht so aus, als befänden wir uns in der Genussfalle. Besinnungsloser Luxus - leben wir nicht unter einer Dauerbeschallung, deren monotone Botschaft aus dem kategorischen Genussimperativ besteht? Können wir uns dieser schlichten, aber nachdrücklichen Aufforderung noch entziehen? Eine unnachahmliche Beschreibung dieser Falle findet sich bei Günther Anders, in seinem epochalen Werk über "Die Antiquiertheit des Menschen". Anders richtet dort seine Aufmerksamkeit unter anderem auf die Werbung.
    "Unsere Welt ist, und zwar von vornherein, ein Universum von Werbungen. Es besteht aus Dingen, die sich anbieten und die uns auffordern. Werbung ist ein Modus unserer Welt. […] Negativ formuliert: Dasjenige, was nicht wirbt, was nicht ruft, was sich nicht zeigt, was am Lichte der Reklame nicht teilhat, das hat keine Kraft, uns zu reklamieren, das nehmen wir nicht wahr, das erhören wir nicht, das machen wir nicht mit, das erkennen wir nicht, das verwenden wir nicht, das verzehren wir nicht - kurz: das bleibt 'ontologisch unterschwellig', im pragmatischen Sinne ist das nicht 'da'."
    Werbung ist zur Signatur des Zeitalters mutiert
    Als Günther Anders diese Zeilen vor 40 Jahren schrieb, befand er sich noch in einem vergleichsweise spärlich ausgestatteten Vorraum der späteren, durch die Werbung inszenierten totalen Erotisierung unseres Weltverhältnisses. Mittlerweile wird von uns erwartet, dass wir die Welt begehren und konsumieren. Werbung ist zur Signatur des Zeitalters mutiert. Nichts und niemand entkommt ihrem Zugriff. Was nicht verzehrt wird, weil es nicht begehrt wird, stellt keinen Wert dar. Die Welt will verbraucht werden.
    Der Wunsch zu genießen ist natürlich nicht unverständlich. Hatten die Generationen vor uns nicht lernen müssen, sei es aus religiösen oder anderen Gründen, Verzichtszwängen zu gehorchen, wie beispielsweise während des Krieges, und dem Genuss kein geneigtes Ohr zu leihen? War das Genießen-Wollen nach dem Kriegselend nicht allzu verständlich? Wurden wir nicht bereits seit der Aufklärung dazu aufgefordert, unser Tun und Lassen, unser gesamtes Verhältnis zu den Dingen und zu den Mitmenschen einer permanenten Reflexion zu unterwerfen? Hans Ulrich Gumbrecht hat diese Fixierung auf Reflexion und selbstkritisches Nachdenken eine "Weltaneignung durch Begriffe" genannt. Die "Weltaneignung durch die Sinne" dagegen, also der gefühlte und leiblich vermittelte Zugang zur Welt, wurde mit dem Verdacht konfrontiert, uns in einer Abhängigkeit von vorkritischen Einstellungen und nichtdurchschauten Vorurteilen zu halten.
    Der Aufklärer Kant: Misstrauen gegenüber den Sinnen
    Die Stimme von Johann Friedrich Herder konnte da kaum Gehör finden, der angesichts des gewaltigen Aufwands an Reflexionsarbeit, die uns durch die Aufklärung zugemutet wurde, auf die Wichtigkeit des Gefühls und des sinnlichen Kontakts mit der Welt pochte: "Existenz ist Genuss" heißt es bei Herder, weil ohne diesen sich die Welt uns nicht erschließt. Aber Kant behielt das letzte Wort, als er Aufklärung als den "Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit" auffasste. Diese Selbstaufklärung war ohne einen hohen Reflexionsaufwand und ohne ein Misstrauen gegenüber den Sinnen nicht zu erreichen. Allerdings bezahlten wir für dieses Projekt einen nicht geringen Preis. Der Soziologe Anthony Giddens hat diesen Sachverhalt äußerst genau beschrieben:
    "Mit dem Anbruch der Moderne nimmt die Reflexivität einen anderen Charakter an, […] so dass sich Denken und Handeln in einem ständigen Hin und Her aneinander brechen. […] Eine Praktik aus Traditionsgründen zu sanktionieren geht nicht mehr an […] Wahrscheinlich beginnen wir erst jetzt zur Gänze zu erkennen, wie tief beunruhigend diese Einstellung eigentlich ist. Denn als die Ansprüche der Vernunft die Ansprüche der Tradition verdrängten, schienen sie ein größeres Gefühl der Sicherheit zu bieten als die vorher geltenden Dogmen. Diese Vorstellung wirkt aber nur so lange überzeugend, wie man übersieht, dass die Reflexivität der Moderne im Grunde die Vernunft untergräbt, jedenfalls dort, wo Vernunft im Sinne des Erwerbs unumstößlichen sicheren Wissens aufgefasst wird."
    Ablenkung und Entlastung durch Genuss
    Das Resultat unseres Vernunftgebrauchs hat demnach etwas Zwiespältiges: Die Reflexion befreit uns zwar von Unmündigkeit und von einem Festhalten an fragwürdigen Traditionen, aber die Hoffnung war trügerisch, dass die Vernunft einen neuen festen Boden, neue Gewissheiten und Sicherheiten bereitstellen würde. Darüber hinaus ist eine Reflexion, die - wie unter modernen Bedingungen - niemals abreißt, außerordentlich anstrengend. Die Moderne scheint die von ihr ausgelöste Ausbreitung und Beschleunigung kritischen Nachdenkens jedenfalls nicht länger in ruhiges Fahrwasser lenken zu können. Reflexionsmüdigkeit breitet sich aus. Da bietet die Genussdevise Ablenkung und Entlastung. Wir suchen Trost bei den Dingen. Der Luxus stellt eine Einladung zum Verdrängen und Vergessen dar. Wer unter der Reflexivität und der von ihr ausgelösten Komplexität unserer Kultur ächzt, mag Zuflucht suchen in den gepolsterten Milieus eines dem Luxus der materiellen Dinge zugeneigten Daseins. Aber auch diese Zuflucht ist trügerisch, denn wir befinden uns im Zeitalter der großen Zäsur.
    Krise der Demokratie und ihrer Fundamente
    Als der Atmosphärenchemiker Paul Crutzen im Jahr 2000 den Begriff "Anthropozän" prägte, wollte er genau auf diese Zäsur hinweisen. Die Eingriffe des Menschen in die Ökosysteme haben eine erdgeschichtliche Dimension erreicht, meinte Crutzen. Sowohl was ihre Radikalität als auch ihre Irreversibilität und Totalität betrifft, hätten unsere Interventionen mittlerweile ein nie gesehenes Maß an Destruktion bewerkstelligt, weshalb nur noch ein schonungsloses Umdenken und ein wirkliches Andershandeln Rettung böte.
    Der Mensch ist offenbar zu einer Naturgewalt geworden, die auf alle Bereiche des Lebens, nicht zuletzt auch auf die Kultur und die Politik, ihren unerbittlichen Einfluss ausübt. Damit ist nicht bloß darauf hingewiesen, dass die tiefe ökologische Krise die Politik vor enorme Aufgaben stellt. Das wäre noch eine Verharmlosung der Lage. Gemeint ist vielmehr, dass die Fundamente von Kultur und Politik - von demokratischer Politik - selber in Mitleidenschaft gezogen werden. Die Folgen des Anthropozäns setzen die Demokratie unter Druck. Die in Bedrängnis geratene, also die bedrängte Natur bedrängt ihrerseits die Demokratie.
    An dieser Stelle sei daran erinnert, dass die neuzeitlichen Demokratietheorien Vertragstheorien waren: Sie gingen davon aus, dass Menschen zu Bürgern werden, indem sie ihren Naturzustand verlassen und miteinander einen Vertrag abschließen über die künftigen Grundlagen ihres politischen Zusammenlebens. Bei Thomas Hobbes beendet der Vertrag die natürlichen Gewaltverhältnisse, in denen ein "Krieg aller gegen alle" herrscht und der Mensch dem Menschen immerwährend als Wolf begegnet. Auch bei Jean-Jacques Rousseau sind die Menschen genötigt, einen bloß am Anfang friedlichen Naturzustand zu verlassen zugunsten eines bürgerlichen, in einer politischen Gemeinschaft zu führenden Lebens. Einen solchen Naturzustand zu verlassen setzt aber voraus, dass die Natur gebändigt ist. Die Natur muss bis zu einem gewissen Grad befriedet sein, denn anders wären wir nicht in der Lage, aus ihr herauszutreten.
    Selbstverständlich haben wir es in diesen Theorien mit einer philosophischen Fiktion zu tun, aber die realnatürlichen Elemente lassen sich nicht aus ihnen tilgen. Über einen Ausgang aus einem Naturzustand lässt sich nämlich nicht philosophieren, wenn dieser aus lauter Wildheit und Gewalt bestünde. Demokratieauffassungen gedeihen erst, wenn die Natur keine unberechenbare Bedrohung mehr darstellt. Anderenfalls sind demokratieförderliche Fortschritte kaum zu erwarten.
    Bitteres Bündnis zwischen Ausbeutung und Demkokratie
    Allerdings dürfen wir uns in diesem Zusammenhang nicht berauschen an dem Bild eines Naturidylls. Gebändigte Natur kann auch heißen: gequälte Natur und dazu zählt auch die gequälte Natur des Menschen. Es wäre geradezu leichtsinnig, nicht auf die bittere Geschichte des Bündnisses zwischen gebändigter Natur und demokratischem Aufbruch hinzuweisen. Die Entstehung von Demokratien, vor allem deren Stabilität, hängt nämlich nicht unwesentlich davon ab, dass eine Gesellschaft hinreichend mit Gütern versorgt ist. Ein gewisses Maß an Luxus ist unerlässlich für das Gedeihen demokratischer Projekte. Mangel, erst recht andauernder Mangel, bewirkt dagegen innergesellschaftlichen Stress. Er erzeugt einen hohen Pegel realer und potenzieller Konflikte. Unter bedrückenden Mangelbedingungen zivilisieren Menschen nur sehr schwer. Ohne ein Mindestmaß an Luxus kommt der Zivilisationsprozess nicht voran. Und ohne dieses Mindestmaß haben demokratische Prozesse, die auf das politische Gespräch, auf das Geben und Empfangen von Gründen zwischen Bürgern angewiesen sind, kaum eine Chance. Wer kämpft ums Überleben, führt keinen politischen Dialog.
    An dieser Stelle aber muss die Frage gestellt werden, woher die Güter, die den zivilisierenden Luxus ermöglichen, eigentlich stammen. Woher beziehen und bezogen wir unseren Luxus? Achille Mbembe schreibt in seinem aufrüttelnden Buch "Politik der Feindschaft", die Prozesse der Demokratisierung beruhen auf
    "im Zuge der kolonialen Abenteuer eingeführter Formen der Bereicherung und des Konsums. Zur Befriedung der Sitten braucht man", "in der Tat nur Kolonien an sich zu bringen […] und immer mehr Erzeugnisse ferner Weltgegenden zu konsumieren. Der innere Frieden im Westen basierte also zu einem großen Teil auf Gewalt in der Ferne, auf grausamen Brandherden, die man entfachte, auf kriegerischen Fehden und anderen Massakern."
    Mbembes These lautet also, dass der zivile Frieden am Anfang der Demokratie einen Transfer von Luxusgütern voraussetzte, der den Charakter einer ökonomischen Plünderung besaß. Der Genuss des Luxus war nun demokratieförderlich.
    "Vergnügungen aller Art, Freude am Luxus und andere Leidenschaften fielen nun nicht mehr blinder Verdammung anheim."
    "Kolonialsystem und Sklaverei bilden den Bodensatz der Demokratie"
    Die Entstehung von Demokratien steht demnach in einem unmittelbaren Bezug zu der verheerenden Ausbeutung anderer Regionen, zur Ausbeutung und Knechtung anderer Menschen. Die Entlastung von einer uns bedrängenden Natur geschah mittels einer extremen Bedrängnis von Mensch und Natur anderswo. "Neben uns die Sintflut" lautet der Titel eines Buchs von Stephan Lessenich, das sich auf die Auslagerung oder Externalisierung der Folgekosten des westlichen Konsums in dessen Außenbezirke, in Länder der sogenannten Dritten Welt bezieht.
    Aber dieses hässliche Prinzip galt bereits zu Zeiten des Kolonialismus. Für Mbembe jedenfalls besteht ein hochproblematischer, geradezu konstitutiver Zusammenhang zwischen Luxus und Demokratie:
    "Kolonialsystem und Sklaverei bilden also den bitteren Bodensatz der Demokratie. […] Die drei Systeme, das der Plantage, das der Kolonie und das der Demokratie wechseln einander ab, aber sie trennen sich nie voneinander."
    Die Expansion von Luxus bei uns beruht demzufolge schon immer auf bedrängter und gequälter Natur anderswo. Aber diese Rechnung geht nicht mehr auf. Die Auslagerung der ökologischen Folgelasten unseres Konsums gelingt immer weniger. Die sklavenähnlichen Verhältnisse, die einen beträchtlichen Teil unseres Luxus auch heute noch sicherstellen, haben sich in einigen Regionen unserer Welt nicht grundlegend geändert. Mensch und Natur kämpfen dort unter quälenden Bedingungen ums Überleben. In Bedrängnis geraten ist aber auch das Naturgefüge in unmittelbarer Nähe. Die gequälte Natur schlägt zurück. Sie ist selber ein Aktor geworden. Sie holt uns ein.
    Mit zunehmender Geschwindigkeit erhöht sich deshalb das Stressniveau im alten Haus der Demokratien. Im zivilisatorischen Maßstab betrachtet haben wir nämlich jahrhundertelang Zeit gehabt, uns an die Naturverhältnisse anzupassen. Mittels Technik und Wissenschaft konnten wir uns ihnen entziehen oder sie zu unseren Gunsten verändern. Diese Kartierung der Verhältnisse ist aber vorbei. Heute dagegen ist ein "traumatischer Verlust aller Koordinaten" im Kommen, wie es Timothy Morton ausgedrückt hat.
    In Demokratien geht die Regierungsgewalt vom Volke aus, die Volkssouveränität beruht auf Prinzipien der Selbststeuerung und der Selbstkorrektur. Aber was passiert, wenn vom Volke nicht nur die Regierungsgewalt, sondern auch eine Art Naturgewalt ausgeht? Was geschieht, wenn der Gestaltungsspielraum unserer politischen Absichten immer mehr eingeengt wird durch von uns absichtslos enthemmte Naturgewalten? Was tun, wenn wir durch die Natur gesteuert und korrigiert werden und immer weniger durch uns selbst? Existiert überhaupt eine "Menschheit", an die wir appellieren können, damit wirkungsvoll gegengesteuert wird? Diese und ähnliche Fragen hat Andreas Zielcke zurecht aufgeworfen. Wir sind auf die Antworten noch längst nicht vorbereitet und sie weisen auf ein fundamentales Problem ungeahnten Ausmaßes.
    "Als politische Bürger setzen wir auf den freien Ausgang nach vorne", schreibt Zielcke, "als physische Bürger sind wir drauf und dran, den natürlichen Ausgang zuzumauern. […] Je weniger es gelingt, die geophysikalischen Prozesse, die durch menschliches Tun außer Kontrolle geraten sind, durch menschliches Tun unter Kontrolle zu bringen, desto stärker schrumpft der politische Freiheitsraum."
    Demokratische Politik setzt eine offene Zukunft voraus
    In der Tat lebt die Demokratie von Gestaltungsspielräumen und Handlungsalternativen. Schwindende Optionen oder das Gefühl, dass das Spektrum des Wählbaren sich dramatisch verengt, sind ein Gift für demokratische Politik. Denn diese, die demokratische Politik, setzt eine offene Zukunft voraus. Hier gilt ein verhältnismäßig einfaches Gesetz: Je offener die Zukunft, desto offener die Gesellschaft. Der Feind der offenen Gesellschaft, auf den Karl Popper unermüdlich hingewiesen hat, stellen gewiss die antiliberalen Ideologien totalitären Zuschnitts dar. Aber einer offenen Gesellschaft ebenso feindlich gesonnen ist eine sich schließende Zukunft. Die liberale Demokratie benötigt substanzielle Alternativen, einen gestaltbaren und selbst zu gestaltenden Wandel, frei wählbare Optionen. Wozu brauchen wir Demokratien, wenn es nichts zu wählen gäbe? Der Glaube an anhaltendes Wachstum, dieses Mantra der Selbstbeschwichtigung, wird jedenfalls nicht mehr von langer Dauer sein.
    Es ist der "Luxus der Materialität", der "Luxus der Dinge", der uns in diese Lage gebracht hat. Während er anfangs, im Laufe der Hebung des Lebensstandards für die Massen, deren Freiheiten erweitert hat, er die Menschen also mit einem "Luxus der Potenzialität" bereicherte, haben sich die Vorzeichen inzwischen gewendet: Das Begehren nach dem "Luxus der Dinge" hat begonnen, den "Luxus der Potenzialität", die Erweiterung unserer Freiheitsmöglichkeiten, zu verschlingen. Wie gesagt - wir befinden uns in der Genussfalle.
    Johann Friedrich Herder: Zwei Weisen des Genießens
    Johann Friedrich Herder gehörte im späten 18. Jahrhundert zu den Verteidigern des Genusses. Gegen die Übermacht der Reflexions- und Selbstbewusstseinsphilosophie kämpfte er für das Eigenrecht des Gefühls und der Sinnlichkeit. In einer kleinen Abhandlung über "Liebe und Selbstheit" hat Herder zwei Arten des Genusses unterschieden, einen "sinnlichen" und einen "geistigen". Diese Genussökonomie dürfte auch heute noch hilfreich sein:
    "Der grobe sinnliche Genuss verwandelt in sich und zerstört den Gegenstand, nach dem wir begehrten. Er ist also lebhaft: denn hier findet völlige Vereinigung statt; allein er ist grob und vorübergehend. Es gibt Menschen, die den Genuss nur auf der Zunge haben, (daher auch im gemeinen Leben, das Wort genießen, meistens von diesem Sinn gebraucht wird); der Genuss ist hier Vereinigung […]; er ist aber auch eben damit geendet; denn nun ist der Gegenstand verschlungen, zerstöret. […] Je geistiger der Genuss ist, desto dauernder wird er, desto mehr ist auch sein Gegenstand außen und dauernd. Lasset uns aber auch immer dazu setzen, desto schwächer ist er: denn sein Gegenstand ist und bleibt außer uns und kann eigentlich nur im Bilde, d. i. wenig oder gar nicht mit uns Eins werden."
    Sind wir vorsichtig. Diese Gegenüberstellung von "sinnlichem" und "geistigem" Genuss ist zunächst nicht moralisch zu verstehen, sondern als Beschreibung zweier Weisen des Genießens: Der sinnliche Genuss hält solange an, bis der Gegenstand konsumiert worden ist. "Zerstört" nennt Herder diesen Vorgang in aller Deutlichkeit. Der sinnliche Genuss ist zwar intensiv – "lebhaft" - , hat aber seinen Preis: er ist von kurzer Dauer. "Geistig" dagegen ist ein Genuss, der seinen Gegenstand nicht konsumiert, es ist "im Bilde", wie Herder so schön sagt. Dieser Genuss vernichtet nicht die sinnlichen Eigenschaften seines Objekts. Dieses bleibt bestehen. Das Essen beispielsweise "verwandelt und zerstört" den Gegenstand. Der Genuss beim Lesen eines Buches mag zwar "schwächer" als das Verspeisen eines Lieblingsgerichts sein, aber er dauert länger an.
    Herder moralisiert nicht, aber gibt uns dennoch eine Empfehlung. Im Zusammenhang mit dem "sinnlichen" Genuss spricht er von einer "Vereinigung" mit dem Gegenstand, während im geistigen Genuss die Gegenstände "wenig oder gar nicht mit uns Eins werden". Diese Hinweise lassen sich auch kulturkritisch lesen: Wenn wir uns im "sinnlichen" Genuss mit dem Gegenstand vereinigen, heißt das zugleich, dass wir uns im hemmungslosen Genuss, also in der "Genussfalle", ihm unterwerfen. Wir gehören dann zur Ordnung der Dinge. In ihrem gierigem Verzehr verschwinden wir auf Dauer selbst. Wenn wir den "sinnlichen" Genuss nicht mehr temperieren können, kommen wir uns abhanden.
    Der "geistige Genuss" ist kein Genuss in bloßen Gedanken, er ist kein Kopfgenuss, nicht das schwächliche und blasse Geschwisterchen des "sinnlichen" Genusses. "Geistig" meint hier vielmehr respektvoll gegenüber dem Anlass des Genusses. Das Genossene wird nicht verschleudert und wir kommen uns nicht abhanden. Wir sind nicht zum Spielball des "Luxus der Dinge" geworden, wir haben unsere Freiheit nicht verloren und die Freiheitspielräume der Anderen nicht aufs Spiel gesetzt. Der Luxus der Freiheitsmöglichkeiten, der "Luxus der Potenzialität" ist bewahrt worden. Wir sind dann nicht das Opfer eines "wahnsinnigen Bedürfnis ohne Bedürfnis", wie es Richard Wagner formulierte.
    Wir stehen an einem Scheideweg. Es ist an uns, zwischen Bedürfnissen mit und solchen ohne Bedürfnis zu unterscheiden. Ein Weniger an Dingen - ein geringerer "Luxus der Materialität" - ist für uns heute eine ungewohnte oder vielleicht sogar befremdliche Perspektive. Wir werden uns mit dieser Perspektive ökonomisch und politisch anfreunden müssen. Aber das Mehr an Dingen - dieser Luxus - ist ohnehin ein verbrannte Perspektive. Die Freundschaft mit dem Weniger wird uns gut tun.