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Leben mit Büchern

Neu ist das nicht: Wer sich den Büchern oder einzig und allein der Pflege seiner Privatbibliothek überlässt, kann dabei schweren Schaden nehmen. Interessant ist höchstens die Machart, in der diese alte Geschichte neu erzählt wird – und in der letzten Zeit ist erstaunlicherweise gerade dazu einiges Anschauungsmaterial veröffentlicht worden, gerade auch im Bereich der "unterhaltenden Literatur". Carl María Domínguez’ Das Papierhaus reiht sich da ein, kommt gewissermaßen als Geschenkbuch daher für jeden, der schon zu viel in den Regalen stehen hat, und handelt das Problem auf knapp 90 Seiten ab. Mut zur Lücke! denkt man also als erstes – und dann denkt man lange nichts mehr, denn es gibt keinen besonderen Kniff, der diese Erzählung interessant und das Problem mit dem Leben zwischen den Büchern in einem ungewohnten Licht erscheinen ließe.

Von Michael Schmitt |
    Das Papierhaus setzt statt dessen auf ein paar kokette Anbiederungen an die gängigen, ritualisierten Klagen aller notorischen Bücherkäufer und Leser: Dass die Bände zuviel Platz weg nehmen und leichter ins Haus gelangen als wieder daraus verschwinden, dass die Großmutter schon vor dem Lesen im Bett gewarnt hat – und so weiter und so fort. Da fühlt sich jedermann gleich zuhause, auch wenn die Erzählung anschließend nur noch dahindümpelt, wenn die Recherchen zum Unfalltod einer Literaturwissenschaftlerin oder die Schilderung des Lebens in Buenos Aires oder Montevideo eher reizlos abgewickelt und nur mühsam verrätselt werden.

    Die Geschichte rankt sich also um ein Lieblingsaccessoire der gebildeten Stände, vermeidet aber all die Untiefen, die mit der insistierenden Befassung mit Literatur einhergehen könnten. Das ist – als ein begleitender Befund -- eine auffällige Parallele zu vielen jener volltönenden Lese-Förderungs-Aktionen, die in letzter Zeit allerorten ausgerufen worden sind.

    Reduziert man die Handlung auf eine harten Kern, dann geht es um die mühsame Suche nach den Spuren eines verschollenen Mannes, der Leselust und Büchersammelleidenschaft so ins Extrem getrieben hat, dass er in jeder Hinsicht – aber vor allem psychisch – ruiniert ist. An einem bestimmten Punkt seines Lebens sitz er ohne Geld inmitten von Büchern, von denen er nicht mehr rekonstruieren kann, wie sie sich früher in seinem Kopf aufeinander bezogen haben könnten, lebt also faktisch in einem Labyrinth. Daraufhin packt er die ganzen Kostbarkeiten ein, und lässt sich an einem einsamen Strand von einem Bauarbeiter daraus eine primitive Hütte errichten, verwandelt mithin das ideosynkratische Gewebe, das er zwischen sich und der Welt hochgezogen hat, in eine reale Mauer gegen den Seewind.

    Und dort bleiben die Bücher dann zurück, nachdem dieser verschollene Bibliomane noch einmal weitergezogen ist, die Seiten zerrissen vom Sturm, die Einbände verklebt vom Mörtel -- ein Bild ähnlich dem "Eismeer" von Caspar David Friedrich, ein Ort des Schauders – die Bücher als Opfer einer Hybris und zugleich, das ist die Ironie, als Beweis für die hinreichend erwiesene nahezu "unbegrenzte Überlebensfähigkeit" der bewährten Codexform.

    Hätte etwa Edgar Allen Poe eine solche Geschichte geschrieben, wäre sie gewiss kürzer und weitaus intensiver geraten. Carlos Maria Dominguez aber gelingt keinerlei atmosphärische Dichte; auch die überdeutlichen Anleihen bei der beunruhigenden "Bibliothek von Babel" von Jorge Louis Borges oder bei der "Schattenlinie" von Joseph Conrad verschaffen diesem Buch keinen Hallraum. So schlicht, wie die Geschichte geraten ist, gehört Das Papierhaus einzig und allein in den Zusammenhang einer seit kurzem anschwellenden Welle von Büchern, die zum Teil sehr erfolgreich das "Lesen an sich" illustrieren, und damit scheint’s ein Plädoyer für diese abenteuerliche Erfahrung halten wollen. Die populäre Literatur feiert derzeit nämlich die anregende Auflösung der Grenzen zwischen dem Leben und den Fiktionen, indem sie Fiktionen-innerhalb-der-Fiktionen erfindet und diese Ebenen dann tief ineinander verschachtelt.

    Ob Flanagans Buch der Fische oder Zafons Der Schatten des Windes, ob Wolfgang Holbeins Das Buch oder vor allem auch Cornelia Funkes Tintenherz – Bücher werden in Büchern derzeit gerne als Motor der Handlung verwendet. Und das nicht auf jene postmodern-intellektuelle Weise wie seinerzeit noch in Ecos Der Name der Rose oder in Calvinos Wenn eine Reisender in einer Winternacht – sondern sehr viel schlichter, in der Art der Spiele von kleinen Jungs, die sich unverhohlen an die Seite ihrer Helden träumen: Romanfiguren treffen auf Bücher und auf Charaktere aus Büchern und werden von diesen in Abenteuer verwickelt; Figuren treten aus den Handlungen heraus, in die sie hineingeschrieben worden sind und kämpfen, oft mit den übelsten Methoden, darum, dorthin wieder zurück zu gelangen – oder gar darum, die ihnen aufgezwungene Geschichte um und neu zu schreiben. Und ungeachtet dieser Gefährdungen für die Lesenden wird fast jede dieser Fiktionen zugleich von einem erheblichen Pathos in Sachen "Lesen und Bücher sind wichtig und gut" getragen und emphatisch vorangetrieben.

    Ist das schizophren? Oder nur billige Kolportage? Oder passiert da gerade etwas ganz anderes? Drückt sich da womöglich ein mehr oder weniger naiver Reflex jener Verunsicherung aus, die zunächst die Kulturphilosophen und nun, mit einer naturgemäßen Verzögerung, vielleicht auch die schöne Literatur infiziert hat? Ein Nachhall der Befürchtung nämlich, dass es Bücher -- und natürlich vor allem die guten-wahren-schönen -- irgendwann nicht mehr geben könnte, wenn Dateien an die Stelle von Manuskripten und e-books an die Stelle von Codices getreten sein werden? Dass also die Literatur im digitalen Limbo irgendwie unsichtbar werden könnte – während die auf Servern gespeicherten Texte zugleich angreifbar werden, weil womöglich auf die Dateien zugegriffen, weil in sie hineingeschrieben werden kann? Weil also, alles in allem, das literarische Gedächtnis sich auflösen oder zumindest verflüssigen könnte?

    Die klassische Version des Zugriffs auf das niedergeschriebene Gedächtnis ist jener totalitäre Zugriff im Interesse eines Regimes, den George Orwell in 1984 beschrieben hat – die Gegenwart schreibt sich die Vergangenheit neu nach Maßgabe ihrer jeweiligen Interessen. In den neueren Fiktionen hingegen droht – der vorgeblichen Demokratie des Netzwelt gemäß -- eher eine anarchische Vielfalt und Beliebigkeit der Zugriffe, die in ihren Folgen aber nicht weniger destruktiv sein könnte.

    Rein technisch sind solche Euphorien oder Bedrohungsszenarien derzeit kaum angebracht, da werden Billigpreis-Buchaktionen in nächster Zeit wohl weitaus größere Verwüstungen in der literarischen Welt anrichten – aber was heißt das schon, wenn Ängste wie Kulturgut absinken und sich kollektiv festsetzen? Bibliotheken müssen nicht erst verbrennen, damit spürbar wird, wie fragil die Bestände unserer vielbeschworenen kulturellen Tradition organisiert sind.

    Heißt der Subtext all dieser Geschichten also vielleicht nur: Es gibt die Bücher noch und sie bedeuten uns auch etwas - sogar rein haptisch, in der schlichtesten Form der Verfügbarkeit? Und führt eine so platitüdenhafte Erzählung wie "Das Papierhaus" vielleicht heute schon vor, dass auch dieser Reflex nur zu schnell zu einer jener flotten Gesten verkommen wird, die latenten Sorgen in handliche Produkte der Kulturindustrie verwandeln?

    Carlos María Domínguez
    Das Papierhaus
    Eichborn, 96 S.