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Leben und Arbeiten in einer alternden Gesellschaft

Dass die Menschen immer älter werden und die Lebensarbeitszeit sich verlängert, wird in Zukunft enorme gesellschaftliche Auswirkungen haben. Erste Unternehmen reagieren darauf bereits. In Dortmund trafen sich Experten, um unter dem Titel "Altern ist Zukunft" darüber zu diskutieren.

Von Dörte Hinrichs |
    Es war eine positive Botschaft, die sowohl das Motto des Symposiums als auch die Stimmung der Beteiligten prägte: "Altern ist Zukunft" – und es hält viele ungeahnte Potenziale bereit. Denn im Vergleich zu früheren Generationen altern Menschen heute gesünder und haben mehr gewonnene Jahre. Davon zeugen viele Publikationen von Neurowissenschaftlern, aber auch von Prominenten, die ihr Altwerden als spannendes Abenteuer beschreiben mit neuen Chancen zur Selbstverwirklichung. Diese individualistische Perspektive beherrsche zunehmend den Altersdiskurs, kritisierte Professor Gerd Göckenjan von der Universität Kassel:

    "Alter ist unter älteren Verhältnissen was völlig anderes gewesen: Einbezogen gewesen in Kollektivleben, Zusammenleben. Dieses Zusammenleben wird ganz oft in den Debatten über das Alter sehr in den Hintergrund gerückt. Das Altersbild heute kapriziert sich auf den einzelnen, die einzelne Alte. Unter älteren Verhältnissen ist das relativ unbedeutend gewesen. Alter ist eher eine soziale Leistung gewesen und nicht die Leistung, das eigene Leben möglichst nett auszugestalten."
    Der Historiker regte an, den Blick zu weiten auf das Älterwerden unserer Vorfahren, um daraus Impulse zu gewinnen für die aktuelle Diskussion über ein gutes Leben im Alter.

    "Ich sehe nur, dass wesentliche Bereiche von Gesellschaftlichkeit man sehr gut am Alter diskutieren kann und das wird nicht getan. Diese Reziprozitätsproblematik, Geben und Nehmen. Dann gibt es jetzt plötzlich Leute, die entdecken, dass tatsächlich die ältere Generation familiendienliche Tätigkeiten übernimmt. Meine Güte, die haben da nie hingeguckt, so entdeckt man Novitäten."

    Profitieren von den erfahrenen Beschäftigten
    Alter Wein in neuen Schläuchen ist das für den Historiker Göckenjan. Gleichzeitig belegt eine aktuelle Studie mit 350 Hochbetagten, wie wichtig gerade dieses Geben und Nehmen zwischen den Generationen ist. Professor Andreas Kruse, Direktor des Instituts für Gerontologie an der Universität Heidelberg, hat die Studie geleitet und beschäftigt sich mit der Entwicklung im Alter aus persönlichkeits- und neuropsychologischer Sicht.
    "Was uns im hohen Lebensalter, und eben in dieser Studie jetzt so beeindruckt hat, ist, dass uns sehr viele Untersuchungsteilnehmer, 85 Jahre und älter, immer wieder bedeutet haben, wie wichtig es ist, dass man für jüngere Menschen sorgen kann. Und die Möglichkeit, eine solche Sorgekultur aktiv zu verwirklichen, das heißt für die nachfolgende Generation etwas zu tun, wird von diesen hochbetagten Menschen als eine wichtige Grundlage für persönliche Entwicklung angesehen. Und das Zweite ist, dass wir mehr und mehr Ergebnisse gefunden haben, dass man auch noch im hohen Lebensalter sich selbst weiter differenzieren kann. Das bedeutet, dass man noch mehr Seiten von sich selbst wahrnimmt und zur Verwirklichung bringt."

    Denn auch im Alter können noch neuronale Netzwerke gebildet werden, kann man sich Lernstrategien aneignen und auch aus persönlichkeitspsychologischer Sicht noch wachsen. Professor Kruse sprach in diesem Zusammenhang von Gerotranszendenz:

    "Das bedeutet, dass Menschen auch über sich selbst hinausblicken können, auf andere Generationen. Und das zu können, erfordert, dass man sich selbst differenziert wahrnimmt. Sowohl in seinen Stärken, als auch in seinen Schwächen, sowohl in den Möglichkeiten, die man in der Biografie verwirklicht hat, als auch in den Möglichkeiten, die unverwirklicht geblieben sind. Das erscheint uns als ein großes Potenzial des hohen und höchsten Alters, das sich aber nur dann verwirklichen kann, wenn die Hochbetagten in fruchtbaren, lebendigen Generationenbeziehungen stehen. Und aus diesem Grunde würden wir gerade mit Blick auf das hohe und sehr hohe Lebensalter sagen: schaut, dass ihr den Austausch mit jüngeren Menschen realisieren könnt. Ihr habt sehr viel zu sagen, jüngere Menschen haben vielfach ein großes Interesse am Lebenswissen Älterer. Jetzt geht es eben darum, dass wir entsprechende Strukturen vor Ort schaffen, um Jung und Alt zusammenzubringen."

    Generationentandems
    Diese generationenübergreifenden Strukturen waren früher in vielen Familien selbstverständlich – in der globalisierten und flexibilisierten Welt von heute sind sie viel seltener geworden. Sie müssen neu organisiert werden. Genau wie in der Arbeitswelt, wo Generationentandems von vielen Referenten als Arbeitsform der Zukunft favorisiert wurden.

    "Das heißt ältere Mitarbeiter arbeiten mit jüngeren Mitarbeitern kontinuierlich zusammen. Das ist insofern sehr schön, weil wir im Grunde genommen zwei ganz unterschiedliche Perspektiven, zwei ganz unterschiedliche Herangehensweisen an einen Arbeitsgegenstand haben, und sich eben diese Unterschiede gegenseitig sehr befruchten können, wenn sich Ältere und Jüngere nicht nur als Lehrende, nur als Lernende sehen, sondern Ältere wie Jüngere sowohl Lehrende als auch Lernende sind."

    "Die jüngeren Menschen sagen uns, die Wissenssysteme älterer Mitarbeiter sind für uns eine ganz wichtige Grundlage dafür, um uns selbst, was Arbeitsstrategien angeht, auszuprobieren. Die können uns motivieren, mal etwas Bestimmtes zu versuchen, sie können uns vielleicht auch davor warnen, eine bestimmte Arbeitsstrategie einzusetzen, weil sie früher schon häufiger schief gegangen ist. Das heißt, diese Wissenssysteme sind für uns eine wunderbare Grundlage für eigene Kreativität."

    Persönliche Motivation entwickeln
    Doch viel zu oft bleibt dieses Wissen, dieses Potenzial der Alten ungenutzt und wird zu selten in Arbeitsprozesse integriert. Immerhin versuchen einige große Firmen, wie zum Beispiel BMW, die Gesundheit und Motivation ihrer älteren Arbeitnehmer neuerdings gezielt zu fördern - hat man doch erkannt, dass starre Arbeitstakte und einseitige körperliche Belastungen kontraproduktiv sind. Dr. Götz Richter von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin in Dortmund:

    "Eine ganz wichtige Stellschraube ist natürlich der Grad der Zerlegung der Arbeit: Wie kleinteilig ist die Tätigkeit, der Vollzug, den ich in meiner Arbeit ausübe. Und die zweite wichtige Dimension, die dann auch auf diese subjektive Ebene eingeht, ist die Frage, welchen Sinn sehe ich eigentlich in meiner Arbeit: Und ich müsste den Sinn für das Lernen darin erkennen, wie verbessert sich das Produkt, wie werde ich schneller dabei, wie kann ich irgendwie meinen Anteil am Erstellen des Produktes oder an der Dienstleistung durch Lernen verbessern?"
    Um diese persönliche Motivation zu entwickeln, die ja auch den Arbeitgebern zugutekommt, sind Gestaltungsspielräume und eine lernfördernde Arbeitsumgebung von zentraler Bedeutung. Doch die Erkenntnisse aus der Wissenschaft sind in der beruflichen Praxis oft noch nicht angekommen.

    "Und ich habe selber mit Kollegen in Bremen mal ein Projekt gemacht, wo wir gesagt haben, im Grunde müssen wir doch in die Ausbildereignungsprüfung, in das, was Meister heute lernen, das Wissen darüber, wie Arbeit so zu gestalten ist, dass sie noch im siebten Lebensjahrzehnt ausgeübt werden kann, das müssen wir stärker auch in die Ausbildungsgänge, in die Meisterqualifizierungen, in die Schulungen für Ausbilder und in die Kurse, die die Handwerkskammern anbieten, reinbringen."

    Gerade aufgrund des Fachkräftemangels wird sich womöglich doch etwas bewegen, sind auch ältere und beständig weiterqualifizierte Arbeitnehmer zunehmend gefragt. Wobei auf dem Symposium auch klar herauskam: Von einer altersgerechten Arbeitsgestaltung, die die gesundheitlichen, organisatorischen und intellektuellen Kompetenzen berücksichtigt und fördert, profitieren auch die jüngeren Kollegen. Die demografische Entwicklung und der interdisziplinäre Diskurs über das Alter können dabei auch einen Beitrag leisten zur Humanisierung der Arbeitswelt.