Michael Köhler: Wenn es zum Verhaltenskern von Menschen zählt, dass sie sich zugehörig fühlen wollen, andererseits so ihre Distinktionswünsche haben, sich unterscheiden wollen, dann ist das in komplexen Gesellschaften von heute nicht so einfach. Es ist zumutungsreich. Demokratien sind kalt, bieten wenig Nestwärme, sind traditionsarm und machen fast schon zu viele Bindungsangebote. Ich habe den Soziologen Dirk Baecker gefragt, ob die Zuflucht zu diesem alten Programm von Identität eigentlich noch Sinn macht, um mit den täglichen Überforderungen klar zu kommen.
Dirk Baecker: Das ist vollkommen unvermeidlich, das zur Zuflucht zu nehmen. Das Identitätsthema ist das wichtigste Thema, das jeder einzelne von uns überhaupt bewegen kann, schon deswegen, weil es diese Identität in einem fixen, festen, stabilen Rahmen gar nicht gibt, sondern sie ständig variiert wird, abhängig von den Beziehungen, in denen man steht, und den Beziehungen, zu denen man gerne Kontakt aufnehmen möchte.
Köhler: Die sind also wage und lose und sie stehen ständig zur Disposition?
Baecker: Wir stehen ständig zur Disposition. Das heißt, wir arbeiten daran, auf eine für uns sinnvolle Art und Weise zu einer Disposition zu stehen, zu der wir gleichzeitig sagen können, dass wir es sind, die nach wie vor zur Disposition stehen. Das macht die paradoxale Eigenschaft der Identität aus, beweglich, aber immer zurechenbar auf uns selbst zu sein.
Köhler: Nun reden wir zwar jetzt nicht schöngeistig, sondern es gibt ja ganz handfeste auch politische Bewegungen, die das im Wort, im Titel führen. Identitäre Bewegung werden lose Gruppen der neuen Rechten genannt. Ein Bloc identitaire entstand in Frankreich zuerst, die irgendwas gegen Massenzuwanderung, Schutz des europäischen Kontinents und so weiter haben. Ich spitze zu: Wer von Identität spricht, läuft schnell Gefahr, auch da missbräuchlich mit zu operieren?
Baecker: Auf jeden Fall in dem Moment, in dem man eine Stabilität und Kontinuität der Identität von der Vergangenheit über die Gegenwart bis in eine völlig unbestimmte Zukunft erwartet. Wer es nicht riskiert, seine Identität sich ändern zu sehen, der wird für sich und für andere gefährlich.
Aber ich würde gern noch etwas anderes sagen. Diese identitären Bewegungen, die wir gegenwärtig beobachten und die uns Sorgen machen, die sind vermutlich weniger auf das jeweilige Ich, als vielmehr auf das jeweilige Du bezogen. Was die Leute wirklich beunruhigt ist, dass sie nicht mehr genau wissen, wen sie eigentlich morgen noch ansprechen können, um in ihren Läden auf Kunden zu warten, in ihren Schulen bestimmte Lehrer zu erleben, ihre Kinder mit bestimmten Ehepartnern zu versorgen und so weiter und so fort. An der Stelle des Gegenübers, der Partner, mit dem man es zu tun hat, ist eine Verunsicherung eingetreten und dort beharrt man fest darauf zu sagen, ich will aber genau die Partner erleben, ich will genau mit den Leuten zu tun haben, mit denen auch meine Eltern es zu tun hatten, und das ist gefährlich.
"Identität besteht darin, dass ich sie ändern kann"
Köhler: Denn im Namen von Identität treten ja auch die XY-gidas in Leipzig, Dresden, Köln, Bonn oder sonst wo auf, erst die Migranten hätten uns gelehrt, was an Identität auf dem Spiel steht, so ungefähr, und wer sie kritisiert, wird als Lügenpressen-Mitglied diffamiert - übrigens ein Kampfbegriff aus dem Wörterbuch der NS-Zeit und auch übrigens Unwort des Jahres 2014. Heißt das, wer von Identität spricht, läuft schnell Gefahr, der Illusion von einer kulturellen Homogenität nachzurennen?
Baecker: Auf jeden Fall ist es ein Sehnsuchtsbegriff, und zwar ein Sehnsuchtsbegriff, der aus einer sehr unruhigen, leicht zur Panik changierenden Verzweiflung ruht. Es ist ein Begriff, über den überhaupt nicht nachgedacht wird, der völlig unreflektiert in den Mund genommen wird und schneller als Kampfbegriff verwendet wird, als man auch nur begriffen hat, worin seine Funktion besteht. Die Klebrigkeit dieses Begriffes, die ist es eigentlich, die einen Diskurs, wie wir ihn gerade im Radio führen und wie er eigentlich öfter geführt werden sollte, aufzulösen versuchen sollte, um zu sagen, Identität ist eine Variable und keine Konstante.
Köhler: Sie irritieren mich noch mehr, als ich es ohnehin schon bin. Man kann das aber doch nicht dauerhaft zur Disposition stellen. Etwas einfacher gesagt: Man braucht ja so Alltagsanker, identitäre, oder?
Baecker: Meine Identität besteht darin, dass ich sie ändern kann. Meine Identität besteht darin, dass ich gestern etwas gesagt habe, was ich heute korrigiere. Das heißt, man akzeptiert eine basale Instabilität und genau diese Akzeptanz wird stabilisiert und wird Identität genannt. Das ist eigentlich etwas, was wir alltäglich alle wunderbar hinkriegen, nur schwer zu denken vermögen.
Köhler: Sollten wir vielleicht dann stattdessen lieber nicht sagen, wer wir sind, sondern wie wir sein wollen?
Baecker: Wir sollten sagen, mit wem wir es gerne zu tun haben wollen und wer uns bei denen, mit denen wir es gerne zu tun haben wollen, beunruhigen könnte. Das heißt, wir sollten uns darüber klar werden, dass wir nach wie vor 90, 95 Prozent unserer Beziehungen eigentlich in einem vertrauten Rahmen gestalten und wie wir mit den restlichen fünf Prozent umgehen, die dort mal beunruhigend, mal faszinierend, mal belebend hinzukommen. Die Frage, mit wem habe ich es am liebsten zu tun, sollte jeder von uns sinnvoll beantworten können.
"Es geht eher um beunruhigtes Bewusstsein als ein beunruhigtes Selbstbewusstsein"
Köhler: Ein Begriff, auf den es seit dem 18. Jahrhundert immer wieder ankommt - es reichte den Philosophen nie, nur zu sagen, dass sie Bewusstsein haben; nein, es musste immer auch noch Selbstbewusstsein sein, also immer noch eins draufzusetzen. Aber das ist heute mehr infrage gestellt als je. Mit dem Wachsen an Optionen, mit der Freiheit von den Fesseln der Fremdbestimmung - ich werde jetzt mal sonntäglich - wächst zugleich auch die Frage danach, wer wir sein wollen?
Baecker: Ja, die Frage ist gut gestellt, finde ich, weil tatsächlich den Eindruck habe auch ich, dass es eher um beunruhigtes Bewusstsein als ein beunruhigtes Selbstbewusstsein geht. Wenn wir tatsächlich in der Lage wären, unser Selbst als eine Adresse unseres eigenen Bewusstseins in den Blick zu nehmen und uns zu fragen, mit wem wir es, wenn wir es mit uns selbst zu tun haben, gerne zu tun haben wollen, dann wären wir wahrscheinlich auch eher in der Lage, unseren jeweiligen Bewusstseinsinhalten etwas kritischer auf die Finger zu klopfen, hätte ich fast gesagt. Das heißt, schneller und besser und sinnvoll darüber nachzudenken, welche Inhalte uns da eigentlich auf welche Panik erzeugende Art und Weise durch den Kopf ziehen.
Köhler: Nicht wissen, mit wem man es zu tun hat - Identität als basale Instabilität - der Soziologe, Systemtheoretiker Dirk Baecker.
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