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Lee Smolin
Ein Plädoyer für die Zeit

Lee Smolin, Professor für Theoretische Physik am Perimeter Institut in Waterloo, bleibt seinem Image als Revoluzzer des physikalischen Standardmodells treu. In seinem neuen Buch "Im Universum der Zeit" nimmt er sich eine Grundfeste der gegenwärtigen Physik vor: ihre Leugnung des Vergehens der Zeit.

Von Thomas Palzer |
    Eine Uhreninstallation am Nordeingang des Volksgartens in Düsseldorf, aufgenommen am 24.10.2013
    Vergangenheit und Zukunft - nur eine Illusion? (picture-alliance / dpa / Jan-Philipp Strobel)
    Es gibt die Vorstellung von einem alten Mann mit langem weißen Rauschebart, der uns als der Gott Abrahams, Isaaks und aller nachfolgenden Söhne und Töchter vorgestellt wird - eingeschlossen derer, die da noch kommen sollen. Und daneben gibt es eine Vorstellung, auf der die neuzeitliche Wissenschaft fußt und in der die Naturgesetze die Rolle des abrahamitischen Gottes beerbt haben - insofern nämlich, als sie als gleichermaßen zeitlos, unveränderlich und ewig gedacht werden. Irgendwo in einem platonischen Ideenhimmel sollen diese Naturgesetze existieren und nur darauf warten, dass ein Universum wie das unsere entsteht, um endlich in Kraft zu treten. Beide Vorstellungen - die vom unsterblichen alten Mann mit Rauschebart wie die vom zeitlosen Gesetz - nehmen sich nichts von ihrem bizarren Charme.
    "Wenn wir glauben, dass die Aufgabe der Physik die Entdeckung einer zeitlosen mathematischen Gleichung ist, die identisch ist mit der Geschichte der Welt, dann glauben wir, dass die Wahrheit über das Universum außerhalb des Universums liegt."
    Während der abrahamitische Monotheismus aber immerhin zu einer Privatsache erklärt wurde - jedenfalls in der aufgeklärten Welt -, behauptet ausgerechnet die Naturwissenschaft, die sich ja als Produkt dieser aufgeklärten Welt versteht, mit ihrer quasireligiösen Vorstellung von ewigen und außerzeitlichen Naturgesetzen diejenige Instanz zu sein, von der eine Ernst zu nehmende Theorie der Wirklichkeit erwartet werden kann.
    Zeit ist "real"
    Dieser offensichtlichen Peinlichkeit will der kanadische Physiker Lee Smolin mit seinem neuen Buch ein Ende setzen. Es heißt im Original "Time reborn - Die Wiedergeburt der Zeit", und verlangt von der Physik, die Zeit wieder ernst zu nehmen, denn diese sei "real".
    Seit bald hundert Jahren steht die Physik vor dem Problem, die Theorie, die sie vom Großen hat, mit der Theorie zu vereinen, die sie vom Kleinen besitzt. Relativitätstheorie und Quantenkosmologie scheinen nicht zueinander zu passen, was für eine Disziplin, für die logische Kohärenz wesentlich ist, ein schwerwiegendes Problem darstellt. Ein wichtiger Kandidat, dem zugetraut wird, beide Theorien zu vereinen, ist seit gut dreißig Jahren die String-Theorie. An den Universitäten Amerikas ist sie vorherrschend - mit der restaurativen Folge, dass das Forschungssystem orthodoxe "Handwerker" honoriert und nicht Leute wie Lee Smolin, die sich selbst als unorthodoxe "Seher" betrachten. Früher zählte der Physiker selbst zu den Anhängern der String-Theorie, inzwischen sieht er in ihr aber nur ein gigantisches mathematisches Produkt. Das Problem der mathematischen Beschreibung der Natur seit Galilei, Leibniz, Newton und Einstein ist aber, dass die Gesetze als unabhängig von der Zeit gedacht werden, als immer und ewig gültig. Mittlerweile bevorzugt Smolin die Theorie der Schleifen-Quantengravitation. Und die verlangt, wie der Physiker glaubt, ein grundsätzlich neues Verständnis von Raum und Zeit:
    "Wenn wir weiterhin innerhalb des [Newton'schen] Paradigmas denken, scheint die Struktur der Welt auf enormen Unwahrscheinlichkeiten zu beruhen - der extremen Besonderheit der Auswahl von Gesetzen und Anfangsbedingungen. Die traurige Schlussfolgerung ist, dass die einzige Art von Universum, die aus der zeitlosen Perspektive des Newton'schen Paradigmas natürlich erscheinen würde, ein totes Universum im Gleichgewichtszustand ist, was offensichtlich nicht die Art von Universum ist, in der wir leben. Aber aus der Perspektive der Wirklichkeit der Zeit ist es völlig natürlich, dass das Universum und seine fundamentalen Gesetze zeitasymmetrisch sind und einen starken Zeitpfeil aufweisen, der eine Entropiezunahme bei isolierten Systemen sowie ein kontinuierliches Wachstum von Struktur und Komplexität umfasst."
    Ist Zeit wirklich nur eine Sinnestäuschung?
    Die gegenwärtige Physik erkennt in den drei Modi der Zeit keine ontologische Gegebenheit, sondern eine Art Sinnestäuschung, die mit unserem Status als Beobachter und der relationalen Struktur von Raum und Zeit zu tun hat. Statt die Gerichtetheit der Zeit anzuerkennen, wird sie als Ergebnis mathematischer Operationen zu einem vierdimensionalen Block umgedeutet, in dem alle Richtungen gleichwertig sind und keine vor den anderen ausgezeichnet. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind gleichermaßen real und alles was ist, bleibt, wie es war und sein wird. Mit anderen Worten: Das Wirkliche ist die gesamte Geschichte auf einmal.
    In diesem sogenannten Blockuniversum kommt alles vor, nur nicht der Mensch und das, was ihm von seinem Erleben mitgeteilt wird: dass Zeit ein fundamentaler Aspekt der Wirklichkeit ist. So lange die Physik die Vorrangstellung der Gegenwart, die Gerichtetheit der Zeit und den Unterschied zwischen Zukunft und Vergangenheit nicht angemessen beschreiben kann, leidet ihr Modell der Wirklichkeit also an einem fundamentalen Handicap: Es macht aus Zeit bloße Reihung und verkürzt diese um das Werden gegenwärtiger Augenblicke, um ihr schöpferisches Moment. Das Modell des Blockuniversums besitzt keinen heuristischen Wert. Es ist darum kein Modell, sondern ein Werkzeug, das ausschließlich dazu dient, Realität zu manipulieren. Das hat schon Niels Bohr gesehen.
    "In der zeitgebundenen Version, die ich vorschlage, ist das Universum ein Prozess zur Ausbrütung neuer Phänomene und Organisationszustände, der sich ständig erneuert, wobei er sich zu Zuständen immer höherer Komplexität und Organisation entwickelt. Die Beobachtungsdaten sagen uns eindeutig, dass das Universum mit dem Fortschreiten der Zeit interessanter wird. In der Frühzeit war es mit einem Plasma im Gleichgewichtszustand angefüllt; von diesem überaus einfachen Anfang hat es über ein weites Spektrum von Skalen - von Galaxieclustern bis hin zu biologischen Molekülen - eine enorme Komplexität entwickelt."
    Für Smolin besteht das Universum nicht aus einem Block, in dem alle Zeit zu einer Wirklichkeit eingeschmolzen ist, vielmehr ähnelt es einem dynamischen Netz, dessen Knotenpunkte den Rhizomen von Deleuze und Guattari oder denen des realen Internets nicht unähnlich sind. Jeder Punkt ist mit jedem anderen über Milliarden Lichtjahre hinweg verbunden - aber nicht im Sinne einer augenblicklichen Übertragung, sondern in dem Sinn, dass Zeit vergehen muss, um von einem Punkt zum anderen zu gelangen. Wir bewegen uns also gleichsam in einem veränderlichen Netz aus Zeit, das die Gesetze, nach denen es sich entwickelt, im Lauf der Zeit selbst herausbildet.
    "Vielmehr entstehen die Naturgesetze aus dem Inneren des Universums heraus und entwickeln sich in der Zeit mit dem Universum, das sie beschreiben."
    Plädoyer für die Realität der Zeit
    Lee Smolin nimmt uns in seinem Buch auf eine ausführliche und erhellende Reise durch die Physik, um am Ende ein starkes Plädoyer dafür zu halten, die Realität der Zeit in der Physik endlich anzuerkennen. Der Physiker aktualisiert damit einen Gedanken, den schon Hegel in seiner Logik vertreten hat, wo er davon spricht, dass Naturgesetze keine vor der Natur bestehenden Gesetze seien, sondern sich erst in ihr entwickelten.
    In seiner Geschichte "One Christmas" aus dem Jahr 1956 hat das der amerikanische Schriftsteller Truman Capote mit überraschender Klarheit so ausgedrückt:
    "Es gibt alles nur ein Mal."
    Lee Smolin: "Im Universum der Zeit. Auf dem Weg zu einem neuen Verständnis des Kosmos"
    München 2014: Deutsche Verlags-Anstalt, 416 Seiten, 24,99 Euro