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Lexikon berühmter Tiere

Bären sind umgängliche Zeitgenossen. Obwohl ihr Körpergewicht, ihre Kraft und ihr Gebiß sie nicht unbedingt zu Kuscheltieren machen, führen sie die Skala der beliebtesten Stofftiere unangefochten an. Der Löwe ... na gut, ein stolzer Regalschmuck, Elefanten ... brauchbare Sitzgelegenheiten, mit Schlangen kann man undichte Fenster- und Türritzen isolieren - aber wen läßt man nachts in sein Bett, wen sammelt man auch im erwachsenen Alter mit Hingabe, wer zeigt sich gefeit gegen den letzten Weg in die Mülltonne, egal wie räudig sein Fell geworden ist?

Florian Felix Weyh |
    Kein Zweifel, Bären gehört der Vorrang in der Tierwelt. Keiner, der nicht einen Bären im Leben sein eigen nennt, niemand, der nicht mindestens einen prominenten Zottelpelz bewundert. Die Müßiggänger halten es mit Balu, die schlechten Witzeerzähler mit Fozzie Bär, Intellektuelle kommen von Winnie-the-Pooh nicht los, Traditionalisten bleiben beim Rooseveltschen Teddy und ewig hungrige Krawattenträger bekennen sich zum Yogi Bär. An der Dominanz von Meister Petz im Showbiz ist nicht zu zweifeln. Wer protestiert denn da?

    Fury? Oder Halla, die Wunderstute von Stockholm? Old Shatterhand's treues Roß Hatatitla? Oder der britische Hengst Eclipse, geboren am 1. April 1764 (kein Scherz) und gestorben im Jahre der Revolution 1789, dessen Gene heute noch in europäischen Rennpferden zirkulieren? Bären aufgepaßt: In Karen Duves und Thies Völkers "Lexikon berühmter Tiere" herrscht ein hippologisches Übergewicht; die beiden müssen Reiter sein. Oder Rennstallbesitzer. Ist es nicht verdächtig, daß der Eichborn Verlag eine Fliege als Logo besitzt, jenes Insekt, das sich besonders gern in der Nähe von Pferdehintern aufhält? Der Lexikograph hat eine schwierige Aufgabe: Er muß Gerechtigkeit üben. Auch Insekten können berühmt werden.

    Zugegeben, der gute, alte VW ist angesichts Hunderttausender von Käferarten eine reichlich unpräzise Charakterisierung, wohingegen der Opel Manta oder der Ford Mustang - schon wieder ein Pferd! - sich klarer tierischer Vorbilder bedient. Allein steht zu zweifeln, ob die Anhänger des Mantaismus jemals einen flachen Rochen imaginierten, wenn sie in ihre Arme-Leute-Rennkisten stiegen. Die Regel lautet: Heißen Autos ab Werk nach einem Tier, hat das Tier mit dem Auto nichts zu tun. Heißen Autos ab Werk VW 12 00 oder 2 CV, dann unterliegen sie der Gefahr, mit einem Geschöpf verwechselt zu werden.

    Das Verhältnis des Menschen zum Tier, werden wir an dieser Stelle einmal tiefsinnig, unterliegt gewissen Veränderungen. Kühe zum Beispiel hießen früher "Rotbunte", wenn sie braun waren, während sie heute lila sind und auf den Namen "Milka" hören. So, wie vor einiger Zeit die erschütternde Meldung durch die Presse ging, Schulanfänger könnten die Geschmacksrichtung "bitter" nicht mehr sicher erkennen, so glauben viele Kinder mittlerweile, Kühe seien von aus Natur aus violett gefärbt. Metaphorisch gesprochen herrscht die totale Verzuckerung der Tierwelt. Alles, was sich streicheln läßt, wird prinzipiell als süß bewertet. In dieser Situation - nennen wir sie Ent-Animalisierung der Natur - tut Aufklärung not, und Enzyklopädisten streben Aufklärung an. Sonst müßte man ihnen unterstellen, sie wollten sich einen Jux machen, wogegen beim vorliegenden Werk mehrerlei spricht: der Umfang des Lexikons, die akribischen Quellennachweise, wie überhaupt die ungebremste Sammelleidenschaft beider Autoren. Ein Tier, so kann man nach 670 Seiten durchaus erschöpfender Lektüre sagen, ist kein Tier, sondern ein veränderbares Konzept. Das hat mit der aktuellen Befindlichkeit des Menschen zu tun, der seinen Abstand zu den nächsten Verwandten um so stärker leugnet, je weiter er ihn verringert. Die Gentechnik - durchs Klon-Schaf "Dolly" repräsentiert - ist der verdeckte Hintergrund, vor dem die berühmten Tiere agieren. Vorweggenommen in den japanischen Monsterfilmen der fünfziger Jahre, noch stärker indes von der Visualisierung als Comicfiguren seit Beginn dieses Jahrhunderts. Der Comic hat aus Tieren beliebig knetbare Figuren gemacht, die sich über biologische und physikalische Grenzen hinwegsetzen. Wo Walt Disney's "Lustige Taschenbücher" Brehm's Tierleben aus den Regalen verdrängen, schimmert eine kulturelle Bruchkante durch. Deutlicher gesagt: Neben die "Lustigen Taschenbücher" paßt das "Lexikon berühmter Tiere" weitaus besser als jedes noch so süffig geschriebene Biologiebuch. Von Tieren ist in Karen Duves und Thies Völkers Buch nämlich gar nicht die Rede, sondern nur von Abbildern. Ende des kulturkritischen Exkurses.

    Wum und der weiße Hai, Lassie und Lurchi, Krümelmonster und Klein Ruh, Marsupilami und Märzhase, Hans Huckebein und der Hustinettenbär, Alf und Antje ... in langer Reihe ziehen die zwölfhundert animalischen Berühmtheiten am Leser vorüber. Viele kennt er, manche stimmen ihn sentimental, einige lassen ihn kalt. Bezeichnenderweise vor allem jene, deren Präsenz mit dem Verschwinden klassischer Bildung stark nachgelassen hat: die Sagen- und Fabeltiere unserer Urgroßeltern. Berühmtheit muß man eben auffrischen, und Lassie beispielsweise ist bei Fünfzigjährigen populärer als bei Zehnjährigen; die haben's eher mit den Ninja Turtles. Abtreten Mr. Pal - ja genau, so hieß der erste Lassie-Darsteller, nach dem eine Hundefuttermarke benannt wurde. Oder umgekehrt.

    Zwei Möglichkeiten läßt das "Lexikon berühmter Tiere" zu: Es ernstzunehmen oder es zu belächeln. Wenn man gnädig ist, sind zwanzig Prozent der Informationen wirklich gehaltvoll, der Rest taugt eher für Kindergeburtstage und Gesellschaftsspiele. In einer Zeit, in der man Wissen auf CD-ROMs auslagert, scheint amüsantes Ballastwissen an Gewicht zu gewinnen; die Gehirnzellen wollen doch irgendwie ausgelastet sein. Wer freilich fundierte Zusammenhänge sucht, nicht nur dem Wie, sondern dem Warum von Typisierungen auf der Spur ist, sollte zu einem spezielleren Kompendium greifen, etwa Jürgen Kagelmanns unlängst bei dtv erschienenen "Who's who im Comic". Die Gebiete beider Lexika überschneiden sich beträchtlich, und Kagelmann, Leiter eines psychologischen Fachverlags, ist tiefgründiger und spitzfindiger als das Duo Duve/Völker. Letztere haben ein Hausbuch geschaffen, das man gerne zur Hand nimmt, wenn man krank im Bett liegt und den Geist spazieren lassen will. Leider muß das Auge zu Hause bleiben, denn aus unverständlichen Gründen gönnt der Verlag nur jedem vierten oder fünften Tier die Illustration. Ein gewaltiges Manko, das in verbesserter Nachauflage unbedingt behoben gehört. Und wenn man dem einen oder anderen überlangen Artikel die Flügel stutzt, manches Pferd in Rente schickt, könnten weitere Aspiranten Aufnahme finden. Denn von der Ullstein-Eule über Loriots Steinlaus bis zu Karel Capeks Molchen fehlt so manche Berühmtheit. Vorschlag: eine Loseblattsammlung. Aber die wäre dann wirklich etwas für Exzentriker.