Tobias Armbrüster: Deutschland ist im kommenden Jahr ganz vorne mit dabei, wenn die NATO ihre Präsenz an der Grenze zu Russland verstärkt: mit insgesamt 600 Bundeswehrsoldaten, die nach dort entsandt werden. Was bedeutet dieser Schritt nun? Ich habe darüber vor dieser Sendung mit dem Linken-Verteidigungspolitiker Alexander Neu gesprochen. Er ist Obmann der Fraktion Die Linke im Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages. - Schönen guten Abend, Herr Neu.
Alexander Neu: Schönen guten Abend, Herr Armbrüster.
Armbrüster: Herr Neu, haben die deutschen Soldaten, die da im nächsten Jahr nach Litauen fahren, Ihre Unterstützung?
Neu: Nein! Die Linke lehnt das dezidiert ab, weil wir sagen, dass deutsche Soldaten, die Bundeswehr nichts an der russischen Grenze zu suchen haben. Es wird immer von der NATO-Grenze gesprochen, die von Russland bedroht würde. Umgekehrt kann man genauso sagen, dass die russische Grenze von der NATO bedroht wird. Es ist die NATO, die sich nach Osten erweitert hat und auf die Kritik der Russen da mit Abschreckung reagiert hat, und das ist eine Situation, die wir sehr stark kritisieren.
Armbrüster: Jetzt haben wir auf der russischen Seite, auf NATO-Territorium blickend, insgesamt 330.000 russische Soldaten stehen. Sind da die 4000 NATO-Soldaten, die ja jetzt kommen, nicht ein bisschen wenig, um das so deutlich zu kritisieren?
Neu: Ich bin mir nicht sicher, ob 330.000 russische Soldaten direkt an der sogenannten NATO-Grenze stehen. Es sind auch nicht diese 4000 alleine, sondern es ist die Summe von Maßnahmen, die ergriffen werden, und da ist insbesondere noch das Raketenabwehrsystem, was im Mai die Erstbefähigung in Rumänien erhalten hat und 2017 oder 2018 auch in Polen aktiv sein soll, und dieses Raketenabwehrsystem ist eine viel, viel größere Bedrohung für das strategische Gleichgewicht zwischen Russland und der NATO als diese 4000 Soldatinnen und Soldaten an der russischen Grenze. Aber es handelt sich hier um eine symbolträchtige Politik, dass die NATO personell an der NATO-Russland-Grenze aufrüstet.
Armbrüster: Kann man denn diesen Vergleich tatsächlich ziehen? Ich meine, was wir da in den vergangenen Monaten und Jahren aus Russland bemerkt haben, das ist ja eigentlich an Deutlichkeit nicht zu überbieten. Wir hatten vor allen Dingen die Spannungen im Osten der Ukraine, aber dann haben wir heute auch wiederum gehört von atomwaffenfähigen Raketen, die in Kaliningrad stationiert werden, ein Atomabkommen mit den USA, das aufgekündigt wird. Das ist ja eigentlich sehr deutliches Säbelrasseln und da muss die NATO doch eigentlich drauf reagieren.
Neu: Ich glaube, das Säbelrasseln findet von zwei Seiten statt, sowohl von der NATO-Seite als auch von der russischen Seite. Wer da nun der Oberrassler ist, das sei mal dahingestellt. Auch die in Deutschland stationierten Atombomben, taktischen Atombomben werden demnächst modernisiert werden in einem enorm teuren Projekt. Wir, Die Linke fordern den Abzug US-amerikanischer Atombomben aus Deutschland. Stattdessen werden sie nicht nur hier bleiben in Büchel, sondern auch extrem modernisiert werden. Wenn es um die Frage von Atomwaffen geht, dann nehmen sich beide Seiten nichts.
Sie sprechen insbesondere die Mittel- und Kurzstreckenrakete Iskaner M an, die stationiert werden soll. Deren Funktion, soweit ich es verstanden habe, hat weniger oder soll weniger eine Atomsprengkopf-Unterstützung sein, sondern vielmehr das Raketenabwehrsystem dann in Rumänien und Polen zu neutralisieren, wenn man das so sagen darf. Wir haben es hier mit einem Säbelrasseln auf beiden Seiten zu tun und es ist dringend eine Deeskalation angesagt, sowohl der Worte als auch der operativen materiellen Basis.
Armbrüster: Aber wenn ich Sie richtig verstehe, Herr Neu, dann meinen Sie, die NATO ist eigentlich feindseliger als Russland?
Neu: Nun, die NATO hat sich nach Osten erweitert, immer weiter an die russische Grenze. Nicht Russland hat sich nach Westen erweitert, sondern die NATO nach Osten.
Armbrüster: Hat sich die NATO tatsächlich erweitert? Kann man das so sagen? Ich meine, es waren ja eher Staaten, die darum gebeten haben, in die NATO aufgenommen zu werden.
Neu: Das ist immer eine Legende, die gestrickt wird: Die Staaten bitten darum, aufgenommen zu werden. Ähnlich wie in der Ukraine: Die Ukraine bittet darum, in die EU aufgenommen zu werden.
Armbrüster: Was ist daran eine Legende? Das ist genau dokumentiert.
Neu: Das möchte ich gerne an dem Beispiel Ukraine darlegen. Als es um die Assoziierung der Ukraine ging und der damalige noch nicht gestürzte Präsident deutlich gemacht hat, dass er eine längere Zeit braucht und nachverhandeln möchte, wurde er letztendlich in einem vom Westen unterstützten sogenannten Majdan-Putsch hinweggefegt und man hat nun eine prowestliche Regierung, die genau in die EU möchte und in die NATO möchte. Und es gibt durchaus Druck oder gab es auf osteuropäische Staaten, in die NATO einzutreten. Es gibt Druck auf Serbien, es gab leichten Druck auf Montenegro und es wurden Regime ausgetauscht, die dann prowestlich orientiert waren. Dass es nur ausschließlich die insgeheimen Wünsche der gesamten Bevölkerung Osteuropas waren, ist so auch nicht richtig. Es gab natürlich in Polen und den baltischen Staaten diesen Wunsch des überwiegenden Teils der Bevölkerung, aber es gibt auch Regionen, wo es nicht der Wunsch war, aber wo es einen empfindlichen Druck auf die Regierung gab, doch pro NATO sich zu orientieren.
"Kommunikation vonseiten der NATO-Staaten abgebrochen"
Armbrüster: Ich bin mir sicher, dass das Vertreter aus diesen Staaten und auch Vertreter der NATO deutlich dementieren würden, dass es diesen Druck gegeben hat. Aber wir können ja zumindest festhalten, dass es in den vergangenen Monaten von russischer Seite eigentlich keine besonders große Gesprächsbereitschaft gab, um über vertrauensbildende Maßnahmen nachzudenken.
Neu: Von westlicher Seite auch nicht. Die Kommunikationskanäle wurden ja nicht von Russland abgebrochen, sondern von den NATO-Staaten. Hier möchte ich nur an den NATO-Russland-Rat erinnern. Der wurde seit seitens der NATO seinerzeit eingestellt, mittlerweile zwar wieder auf Botschafterebene aktiviert, aber seinerzeit von den NATO-Staaten abgebrochen. Der Petersburger Dialog wurde seinerzeit von Deutschland und anderen westlichen Staaten eingestellt, nicht von der NATO. Da haben wir zum Glück Interessenvertreter aus der Wirtschaft, aus der deutschen Wirtschaft, die als einzige noch die wesentlichen Kommunikationskanäle nach Russland offengehalten haben. Man muss sich quasi in dieser politischen Frage derzeit auf die Wirtschaft mehr verlassen als auf die eigene Politik, was den Dialog, was die Dialogbereitschaft gegenüber Russland betrifft.
Armbrüster: Das klingt jetzt wirklich so, als sei Russland ein friedliebendes Land und wird von der NATO bedrängt.
Neu: Nein! Jeder Staat hat seine Interessen. Russland hat seine Interessen, der Westen hat seine Interessen, und wir erleben gerade eine massive Kollision dieser Interessensgegensätze.
Armbrüster: Das heißt, die NATO sollte im Grunde nichts weiter tun, auch wenn es zu weiteren Eskalationen an der Grenze kommt, und ihre Verbündeten an dieser Grenze auch mehr oder weniger im Stich lassen?
Neu: Es geht ja nicht darum, die Verbündeten im Stich zu lassen. Es geht darum, zu deeskalieren.
Armbrüster: Na ja. Es geht ja darum, dass sich diese Staaten deutlich verunsichert fühlen durch das, was in Russland passiert.
Neu: Diese Staaten, wenn Sie insbesondere das Baltikum meinen und Polen und Rumänien, diese Staaten befinden sich im Windschatten der NATO, wohl wissend, dass sie von der NATO geschützt werden, und sind ein Teil des Problems, indem sie selber polarisieren. Sowohl die polnische Regierung als auch die einzelnen baltischen Regierungen nutzen den Schutzschirm der NATO auch aus, um gegen Russland zu polarisieren, und da bin ich froh, dass die deutsche Regierung auch in Form von Steinmeier bisweilen etwas deeskalierend auch auf diese Staaten einwirkt.
Armbrüster: … sagt hier bei uns im Deutschlandfunk Alexander Neu, der Obmann der Fraktion Die Linke im Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages. Vielen Dank, Herr Neu, für Ihre Zeit heute Abend.
Neu: Ja bitte! Auf Wiederhören!
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