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Linksfraktion
"Über das Büroversehen sind wir sehr dankbar"

Das Bundesinnenministerium hat es als "Büroversehen" bezeichnet, dass seine interne Einschätzung der Türkei ohne Zutun des Bundesaußenministeriums an die Linksfraktion im Bundestag verschickt worden ist. Der Linken-Abgeordnete Alexander Neu begrüßt das: "Das Innenministerium hatte sehr offen dargelegt, wie die Situation in der Türkei ist", sagte Neu im DLF.

Alexander Neu im Gespräch mit Christoph Heinemann |
    Der Abgeordnete der Linkspartei im Bundestag, Alexander Neu
    Der Abgeordnete der Linkspartei im Bundestag, Alexander Neu (Imago/ Metodi Popow)
    Christoph Heinemann: Im Studio ist Alexander Neu, Bundestagsabgeordneter der Linkspartei, Obmann der Partei im Verteidigungsausschuss und Stellvertretendes Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages. Guten Tag, Herr Neu!
    Alexander Neu: Guten Tag!
    Heinemann: Das Bundesinnenministerium hat die Links-Fraktion vertraulich informiert. Wie sind diese Informationen in die Presse gelangt?
    Neu: Sicherlich nicht durch die Linksfraktion. Die Informationen, die wir erhalten haben, sind von unserer Sevim Dagdelen, also unserem Mitglied aus dem Auswärtigen Ausschuss, Sevim Dagdelen, die die kleine Anfrage im Wesentlichen eingebracht hat, an den Auswärtigen Ausschuss weitergereicht worden, damit der Auswärtige Ausschuss als Ganzes, also alle Fraktionen, die im Auswärtigen Ausschuss sitzen, auch über die Informationen verfügen. Und da haben wir natürlich dann keine Kontrolle darüber, wer aus dem Auswärtigen Ausschuss diese Information durchgestochen hat. Ich bin mir ziemlich sicher, nicht seitens der Linken.
    Heinemann: Kein Mitglied, kein Mitarbeiter der Linksfraktion. Dafür können Sie Ihre Hand ins Feuer legen?
    Neu: Hand ins Feuer legen – soweit ich weiß, war es niemand aus den Reihen der Links-Fraktion.
    Heinemann: Also kein Büroversehen der Linksfraktion.
    Neu: Kein Büroversehen.
    Heinemann: Sollten vertrauliche Informationen in der Zeitung stehen?
    Neu: Ich finde schon, ein Höchstmaß an Transparenz sollte es geben, vor allem in der Außen- und Sicherheitspolitik. Je transparenter, durchsichtiger die Außen- und Sicherheitspolitik ist, desto geringer die Gefahr, dass solche Politik getrieben wird, die doch sehr fragwürdig ist und unsere Werte infrage stellt.
    "PKK wird in Deutschland nicht mit Samthandschuhen angefasst"
    Heinemann: Das türkische Außenministerium, Sie haben den Bericht gerade eben mitgehört, hält der deutschen Politik ja doppelte Standards vor. Deutschland rege sich über islamistischen Terror auf, unternehme aber nichts gegen die kurdische Terrororganisation PKK. Reden Sie, redet die Politik da mit doppelter Zunge?
    Neu: Ich glaube nicht, dass die PKK in Deutschland mit Samthandschuhen juristisch angefasst wird. Im Gegenteil, Deutschland ist eines der Länder in Europa, die am härtesten gegen die PKK vorgehen. Zu unserem Bedauern, muss ich ausdrücklich noch mal unterstreichen, weil wir glauben, dass die PKK und die Kurden in Syrien den Hauptwiderstand gegen den IS darstellen. Und vor diesem Hintergrund kann ich die Argumentation des türkischen Partners nicht verstehen.
    Heinemann: Die PKK gilt in der Türkei als Terrororganisation, und in der Tat, was sich dort zurzeit ereignet, vor allem im Osten des Landes, entspricht dieser Kategorisierung, oder?
    Neu: Darüber kann man streiten, ob das Terrorismus ist oder nicht. Man kann auch von Staatsterrorismus sprechen. Die Türkei hat es wiederholt nicht geschafft, die Regierung und Vorgängerregierung, nicht geschafft, dauerhaft Frieden im Südosten der Türkei zu schaffen. Die Türkei ist nach wie vor ein zentralistischer Staat. Keine Möglichkeit von Autonomie wurde bisher ernsthaft diskutiert. Die PKK, insgesamt die Kurden haben im Südosten mehrfach sich davon distanziert, dass sie gesagt haben, wir wollen keine Unabhängigkeit mehr, aber wir wollen Autonomie innerhalb der Türkei.
    Heinemann: Und dazu ist Gewalt ein Mittel?
    Neu: Das habe ich nicht gesagt. Die Gewalt ging voriges Jahr im Sommer seitens der türkischen Regierung aus, nach dem Bombenanschlag auf die Jugendlichen, was ursprünglich dem IS untergeschoben worden ist. Es mag sein, dass der IS das war. Punkt ist aber, dass die türkische Regierung daraufhin nicht den IS bombardiert hat, sondern Kurdengebiete im Südosten der Türkei. Das heißt, die Initiative zur Gewaltanwendung ging eindeutig von der türkischen Regierung aus.
    "Das Büroversehen hat dazu beigetragen, dass das an die Öffentlichkeit gekommen ist"
    Heinemann: Stehen Sie Türkei-politisch dem Innenminister von der CDU näher als dem Außenminister von der SPD?
    Neu: Dieses sogenannte Büroversehen, das wir gerade erleben, darüber sind wir sehr dankbar. Denn das Innenministerium hatte sehr offen dargelegt, wie die Situation in der Türkei ist, wie die Regierung Erdogan agiert, welche ideologische Orientierung sie hat. Damit spricht sie genau das aus, was wir seit Jahren schon immer wieder sagen: Wir werfen der Bundesregierung vor, dass die Regierung Erdogan islamistisch ist, dass sie die Islamisten in Syrien unterstützt, dass sie mit den Muslimbrüdern in Ägypten gemeinsame Sache gemacht hat und dass sie kein vertrauenswürdiger Partner für die Bundesregierung sein kann. Und da hat de Maizière beziehungsweise das Büroversehen dazu beigetragen, dass das nun an die Öffentlichkeit gekommen ist.
    Heinemann: Das heißt, die Antwort auf meine Frage wäre, ja, wir stehen Herrn de Maizière, CDU, näher als Herrn Steinmeier, SPD.
    Neu: In dieser Frage auf jeden Fall.
    Heinemann: Kann die türkische Regierung zwischen Regierungen und islamistischen Gruppen vermitteln, eben durch die Nähe zu solchen Gruppierungen? Ist das nicht auch ein Mehrwert?
    Neu: Das glaube ich nicht. Wir haben ja vielmehr den Eindruck gewonnen in den letzten Jahren, dass die türkische Regierung die Islamisten in Syrien vielmehr unterstützt hat. Wir wissen, dass islamistische Kämpfer, auch IS-Kämpfer, sich in der Türkei zurückziehen konnten, dass sie in dortigen Krankenhäusern wieder behandelt wurden, dass Waffen geliefert wurden, über die Türkei nach Syrien für die Islamisten, und zwar nicht nur IS. Auch bis heute übrigens an Islamisten. Insofern sehen wir die Türkei nicht als Vermittler, sondern als einen Terrorbegünstiger.
    Heinemann: Was heißt "wir wissen"? Haben Sie dafür Beweise?
    Neu: Wir haben keine direkten Beweise, aber …
    Heinemann: Was heißt dann "wir wissen"?
    Neu: Wir wissen es von Journalisten, die vor Ort sind.
    Heinemann: Also es ist eher so ein Gerücht.
    Beweislage für Unterstützung Ankaras für IS eindeutig
    Neu: Nein, von Journalisten, die vor Ort sind und das beobachtet haben. Es gibt auch türkische Journalisten, die das beobachtet haben, die das aufgedeckt haben und dafür verurteilt worden sind. Insofern ist die Beweislage sehr, sehr eindeutig.
    Heinemann: Nur, dass Sie jetzt keine vorlegen könnten.
    Neu: Wir könnten jetzt keine vorlegen.
    Heinemann: Wenn man das Wort Türkei durch Russland ersetzt und "islamistische Gruppen" durch Krieg, könnte man dann genauso sagen, Russland ist zurzeit die Aktionsplattform für Krieg und Annexion?
    Neu: Das sehe ich so nicht. Ich wüsste jetzt nicht, welche Annexion Sie meinen?
    Heinemann: Krim – fällt Ihnen dazu was ein?
    Neu: Gut, zur Krimfrage - kann man das als Annexion bezeichnen?
    Heinemann: Kann man?
    Neu: Kann man, muss man aber nicht. Man muss auch die Vorgeschichte sehen mit Kosovo und dem ehemaligen Jugoslawien insgesamt. Dort wurden entsprechende Präzedenzfälle geschaffen, und Russland hat sich auf diese Präzedenzfälle berufen. Das heißt nicht, dass das, was Russland gemacht hat, richtig ist. Aber wir müssen eben auch die Entwicklung in den 90er- und Nuller-Jahren beobachten, auf die sich Russland letztendlich beruft. Es war ein Fehler, was Russland gemacht hat, es war genauso ein Fehler, was der Westen mit Jugoslawien gemacht hat.
    Heinemann: Ich komme auf Russland, weil man Ihnen immer vorwirft, da wiederum mit zweierlei Maß zu messen. Der gute Diktator Putin und der schlechte Erdogan.
    Neu: Das sehe ich nicht so. Ich sehe nicht unbedingt, dass Putin Islamisten unterstützt, und zwar massenweise.
    Heinemann: Nicht Islamisten, aber eben einen Krieg in der Ostukraine zum Beispiel fördert oder aktiv sogar führt. Dafür gibt es übrigens Beweise.
    Neu: Dafür gibt es eine Menge Hinweise, ganz klar. Auch da gibt es eine Vorgeschichte mit dem Putsch in der Ukraine. Und auch die Linke insgesamt weisen vehement zurück, dass Russland ein Recht hat, in der Ukraine in irgendeiner Weise militärisch vorzugehen.
    Heinemann: Sind aber zum Beispiel trotzdem dafür, die Sanktionen gegenüber Russland aufzuheben.
    Neu: Weil die Sanktionen nicht weiterführen. Sie schaden der deutschen Wirtschaft, sie schaden der Wirtschaft der anderen europäischen Länder, und sie sind kein Instrument, einen Konflikt zu lösen.
    Erdogan und Putin - zwei völlig verschiedene Fälle
    Heinemann: Wie ist das zu erklären, dass Sie sich so an Erdogan abarbeiten, andererseits bei Putin mildernde Umstände sozusagen durchgehen lassen?
    Neu: Weil das zwei völlig verschiedene Fälle sind. Erdogan unterstützt de facto die Islamisten in Syrien. Er stellt die syrische Regierung infrage, er möchte einen Regime Change haben, das heißt, er interveniert massiv, auch mit eigenen Truppen, in Syrien, was einen ganz klaren Völkerrechtsbruch darstellt.
    Heinemann: Was macht denn Russland?
    Neu: Russland ist eingeladen von der syrischen Regierung, die Islamisten zu bekämpfen, das ist ein Unterschied. Das ist völkerrechtlich eine ganz andere Grundlage.
    Heinemann: Auch die Bombardierung von zivilen Vierteln in Aleppo. Das ist okay?
    Neu: Die Bombardierung von Zivilvierteln ist ein Völkerrechtsverbrechen, das ist überhaupt keine Frage.
    Heinemann: Auch die Bombardierung durch Russland.
    Neu: Auch durch Russland, wenn es nachgewiesen wird, dass Russland Zivilobjekte und Zivilisten bewusst bombardiert, wäre das ein Völkerrechtsbruch .
    Heinemann: Dann verstehe ich immer noch nicht den Unterschied zwischen der Politik von Erdogan und Putin.
    Neu: Dass Sie mir nicht beweisen können, dass es eine bewusste Bombardierung gab.
    Heinemann: Ach so. Und das reicht.
    Neu: Wenn es bewiesen ist, noch einmal, wenn es zu beweisen ist, dass Russland in der Tat Zivilisten bombardiert, dann wäre das ein Völkerrechtsverbrechen.
    Bundesregierung muss Abstand nehmen von Erdogan
    Heinemann: Herr Neu, was folgt jetzt aus Thomas de Maizières Einschätzung– oder was sollte folgen – für die Türkeipolitik der Bundesregierung?
    Neu: Die Linke hat schon immer wieder gefordert, dass wir, dass die Bundesregierung Abstand nehmen muss von Erdogan als einem Partner, vor allem auch in der Flüchtlingsfrage. Wir können nicht mit einem Regime wie Erdogan so eng zusammenarbeiten, dass massenweise Menschenrechte negiert, das eine derartige Interventionspolitik in Syrien vorantreibt. Und wir können auch nicht die Flüchtlingsfrage über die Türkei in dieser Form lösen. Wir sind ziemlich sicher und wir haben auch Erkenntnisse darüber, dass die Flüchtlingslager, dass es da zwei Qualitäten in der Türkei gibt: Die Flüchtlingslager, die für die Medien geöffnet werden und für westliche politische Besucher, und die, wo die meisten Flüchtlinge drin stehen, die aber qualitativ derart schlecht sind, dass da kein Flüchtling ernsthaft untergebracht werden kann.
    Heinemann: Wie anders als unter Mitwirkung der Türkei wollen Sie die Flüchtlingsfrage, ich will nicht sagen, lösen, aber entschärfen?
    Neu: In der Tat, es gibt da zwei Ebenen, die wir beachten müssen. Die eine Ebene ist die der Ursachenbekämpfung. Der Begriff der Fluchtursachenbekämpfung wird seit einiger Zeit auch von der Bundesregierung in den Mund genommen.
    Heinemann: Das ist etwas sehr Langfristiges.
    Neu: Etwas sehr Langfristiges, aber wir kommen nicht darum herum, diese endlich anzugehen, das heißt, die Weltwirtschaftsordnung infrage zu stellen, das heißt, die Interventionspolitik des Westens in den Ländern zu beenden. Da hat übrigens – auch die Friedensforschungsgruppierungen haben dort ganz eindeutig gesagt: Die Interventionspolitik des Westens hat dazu beigetragen, dass es so viele Flüchtlinge im Nahen Osten gibt. Und das Zweite ist natürlich naheliegend: Wir können nicht direkt die Flüchtlinge abweisen. Wir müssen sehen, dass wir in Deutschland, in Europa einen Modus Vivendi finden, wie wir die Flüchtlinge unterbringen. Das heißt, Verteilungsformat, das bedeutet auch, in Deutschland die Flüchtlinge unterzubringen, und zwar mehr als nur in Turnhallen unterbringen, sondern wirklich unterbringen, und dazu bedarf es, eine Menge Geld in die Hand zu nehmen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.