Birgit Wentzien: Herr de Maizière, herzlich Willkommen zum Interview der Woche im Deutschlandfunk.
Lothar de Maizière: Danke.
Wentzien: Erinnerung – auch Erinnerung ändert sich in 25 Jahren. Was sagt die Art und Weise, wie wir uns jetzt erinnern, über uns aus, in Ost und in West, 25 Jahre nach der deutschen Einheit?
de Maizière: Ja, ich glaube, dass die Erinnerungen doch sehr stark geprägt sind von dem, was man in den Medien täglich liest und nicht von dem, was man wirklich erlebt hat. Zum Beispiel missfällt mir die Vokabel "Fall der Mauer".
Wentzien: Das wollen Sie gar nicht wissen, sondern was ist passiert?
de Maizière: Die Mauer ist nicht gefallen, die Mauer ist eingedrückt worden, die ist wegdemonstriert worden. In Leipzig, in Plauen, in Berlin am 04. November. Der Schabowski war doch ohnmächtig in dem Moment, wo er diesen Quatsch dort von sich gegeben hat.
"Erzählen wir mal der Presse irgendwas."
Wentzien: Günter Schabowski, am 9. November, nach der Sitzung des Politbüros.
de Maizière: Wo man ihn hingeschickt hat: "Erzählen wir mal der Presse irgendwas." Und dann hat er alles mögliche erzählt, und zum Schluss hat er noch diesen berühmten Zettel rausgezogen. Manche sagen auch, es war ein Unfall oder so was. Sicherlich, die Oberen meinten damals noch, sie könnten das Verfahren noch in der Hand behalten und jeder DDR-Bürger sollte in seinem blauen Ausweis einen Stempel kriegen. Das war ja zuvor schon passiert mit dieser Wahnsinnsfahrt durch Dresden, mit den Prager Flüchtlingen, die ja auch noch durch die DDR fahren mussten, um einen hoheitlichen Akt an ihnen zu vollziehen.
Wentzien: Also die Mauer ist nicht gefallen, sondern sie wurde eingedrückt?
de Maizière: Eingedrückt, ja, genau. So wie es keine Wende war. Das war die Vokabel, die Krenz am 18. Oktober abends, als Honecker zurückgetreten war, sagte: "Jetzt kommt eine Wende". Damit meinte er aber innerhalb des Systems, keine systemüberwindende.
Wentzien: Also erinnern wir uns jetzt, 25 Jahre danach, richtiger und umfassender?
de Maizière: Umfassender sicherlich, denn am 9. November wusste man, dass etwas Außergewöhnliches passiert war, aber dass dies eigentlich das Datum des Ende des Kalten Krieges war und die Auflösung der Blöcke. Und wenn Sie mal sich die Wochen danach betrachten, dann kam Prag, dann kam Ungarn und vor Weihnachten wurden das Ehepaar Ceaușescu in Rumänien nach einem sehr zweifelhaften Verfahren hingerichtet. Also in einem Dominoeffekt ist in ganz kurzer Zeit das System implodiert, und bis zum Untergang der Sowjetunion hat es ein Jahr gedauert - '91 im Sommer war der Putsch gegen Gorbatschow und Jelzin ergriff die Macht. Wir haben einen Vorgang erlebt, gegen den der Untergang Westroms wahrscheinlich eine Bagatelle war, mit einem viel größeren Territorium, mit einer viel höheren Zivilisation, mit einer viel höheren Kommunikationsdichte, mit einer viel höheren Bewaffnung und gefährlicheren Bewaffnung. Und nach dem Untergang Westroms hat es 400 Jahre finsterstes Mittelalter gegeben. Und wir wundern uns, dass 25 Jahre später die Folgen noch nicht überwunden sind und wir noch ein paar Nachbeben haben.
Der Anwalt der Einheit
Wentzien: Über die Bewaffnung oder eben auch nicht aktive Bewaffnung sprechen wir bitte gleich. Ich würde zunächst einmal gerne bei Ihnen bleiben, denn Sie sind der Anwalt der Einheit.
de Maizière: Ja.
Wentzien: So haben Sie auch ein Buch überschrieben, über die Zeit.
de Maizière: Das war mehr der Verlag, der nach einem griffigen Titel suchte.
Wentzien: Ach so, was hätten Sie denn genommen? Hatten Sie einen anderen Vorschlag?
de Maizière: Nein, mir hat er dann gefallen. Bis dahin hatte ich ja ohne Titel gelebt, wenn man so will.
Wentzien: Sie hatten als gelernter Rechtsanwalt vor 25 Jahren für 199 Tage ganz viele Mandanten, nämlich 16 Millionen.
de Maizière: Ja.
Wentzien: Und Ihre Töchter haben damals gesagt, Herr de Maizière, "Die ganze Republik macht Revolution und der Vater schreibt die Geschäftsordnung dafür“.
de Maizière: Das bezog sich auf den 7. Dezember, an dem ersten Tag des Runden Tisches im Bonhoeffer-Haus. Da ging es drunter und drüber. Und ich dachte, das muss man irgendwie strukturieren und habe mich in die Ecke gesetzt und habe eine Geschäftsordnung entworfen. Und diese Geschäftsordnung wurde dann auch angenommen am Runden Tisch und hat dann auch an allen dezentralen Runden Tischen gegolten. Und es hat wahrscheinlich auch etwas mit meinem Charakter zu tun, dass ich immer der Meinung bin, es muss Form haben, es muss gestaltet werden. Es gibt ja andere Leute, die meinen, in revolutionären Zeiten muss es drunter und drüber gehen. Die Ukrainer haben ein wunderschönes Sprichwort: 'Wenn die Fahne flattert, ist der Verstand in der Trompete'. Bei mir war er nicht in der Trompete, sondern im Gesetzblatt.
Wentzien: Ist denn diese Rolle des korrekten Aufsetzens der Geschäftsordnung für das, was damals passierte, inzwischen bei allen Menschen in Ost und in West auf dem Radarschirm in der Wirkmächtigkeit, in der Sie damals agiert haben?
de Maizière: Ich weiß das nicht so genau. Aber nehmen Sie mal die Vergleiche, wie die Transformation sich in Russland, in Weißrussland, in der Ukraine und so weiter vollzogen hat, dann hat sich das bei uns vollzogen, wie auf einer Höheren Töchterschule. Und auch in der Zeit, die wir als Regierung zu vertreten haben, haben ich immer gesagt: "Ich werde jedes sozialistische Gesetz erst dann aufheben, wenn ich für den gleichen Regelungsgegenstand ein neues, demokratisches Gesetz habe. Ich will keine rechtsfreien Räume zulassen." Bei solchen Zeiten des Umbruchs muss man genau überlegen, wie viel Kontinuum braucht man, damit das Gemeinwesen nicht zusammenkracht und wie viel Veränderung, wirkliche Veränderung muss man haben. Und das kann man sehr gut zum Beispiel an einer Mozart-Partitur nachempfinden. Wenn da die Bässe sich oben bewegen oder unten oder wenn oben die Terz in einem Bogen ist, dann sind die Bässe die Bewegung.
Wentzien: Da spricht der Musiker, der gelernte und studierte Musiker aus Ihnen. Also noch einmal ganz kurz nachgehakt: Wissen alle, was Sie damals geschafft und bewältigt haben?
de Maizière: Nicht alle, aber …
Wentzien: … viele?
de Maizière: Wenn Sie das Nachwort zu dem Buch, was Sie angesprochen haben, lesen, dann sagt Richard Schröder - der das geschrieben hat: "Wir hatten Glück, dass da oben ein Jurist war".
Wentzien: Mit musikalischen Kenntnissen?
de Maizière: Die kommen mitunter hilfreich hinzu, ja. Auch da weiß man, wie wichtig Form ist. Ohne Form ist Musik Spektakel.
Wentzien: Hat Politik Form?
de Maizière: Sie kann sich welche geben.
Es war für unsere Kinder und Enkel
Wentzien: Dafür haben Sie damals gesorgt. Es war eine Regierungszeit im Zeitraffer, mit hunderten von Gesetzen innerhalb dieser 199 Tage, und Übergangsregelungen und wenig Schlaf, nehme ich an?
de Maizière: Ja. Also ich wurde morgens um halb Sieben geholt und in der Regel nachts um Eins, halb Zwei wieder zu Hause abgekippt. Und in der Nacht von Dienstag zu Mittwoch habe ich noch die Kabinettsvorlagen gelesen, die mir allerdings mein Vetter Thomas schon vor-gelesen hatte und mit Randbemerkungen versehen hatte. Aber das ist uns so gar nicht aufgestoßen. Denn wir schwebten damals alle auf einem solchen emotionalen Hoch: "Wir dürfen es noch mal packen, wir dürfen es noch mal ändern", und es war nicht für uns, sondern für unsere Kinder und unsere Enkel. Gut, wir wurden allerdings beim "Gesetzemachen" auch nicht behindert durch allzu stark Aufpassende, die fragten: "Kollidiert das mit jenem oder mit jenem?" Es war Gestaltungsraum ohne Ende. Wir haben ja sogar noch im September eine vorläufige Rechtsordnung geschaffen für die Länder. Weil die Länder erst im Oktober gewählt wurden und sich im Dezember konsolidiert hatten, und dann hätten die kein Schulgesetz gehabt, kein Hochschulrecht gehabt, kein Wahlrecht und so weiter. Und ich habe also noch eine Schulordnung erlassen, wo steht: Diese Verordnung gilt in Mecklenburg und so weiter, also alles aufgezählt, bis zum Inkrafttreten eigener landesrechtlicher Regelungen. Und ich sage mal, bis zum 9. November war der Herbst '89 ein Akt der Selbstbefreiung, aber von da an war es ein Akt der Selbstdemokratisierung - die ist uns nicht verordnet worden, sondern wir haben sie uns selbst erarbeitet.
Wentzien: Und da waren Sie federführend auf der Seite der DDR.
de Maizière: Mit, ja.
Wentzien: Sie haben Thomas erwähnt, Ihren Vetter, Thomas de Maizière, dem jetzigen Bundesinnenminister. Was war Thomas de Maizière damals vor 25 Jahren?
de Maizière: Der war damals bei der West-Berliner CDU Pressesprecher. Die CDU hatte im Januar des gleichen Jahres eine Wahl haushoch verloren, insofern war er auch nicht gerade überlastet. Und ich habe damals dem Diepgen gesagt: "Der Thomas muss zu mir. Ich brauche einen sehr guten West-Juristen - ein sehr guter Ost-Jurist bin ich selber. Ich weiß wo wir herkommen, der Thomas weiß, wo wir hin wollen." Und er hat also alle Kabinettsvorlagen für mich vorstudiert, an den Rand geschrieben: "Achtung, kollidiert mit" … oder "Willst du das?" Also wir haben - wie wir immer beide lachend sagen -, wir haben ein halbes Jahr echte Vetternwirtschaft betrieben.
Wentzien: Und so ein Wort wird von Ihnen noch kolportiert und so ein Vertrag aufgeschrieben - Sie können aber gerne widersprechen, Herr de Maizière -, dass Sie als Notar im Nachgang davon leben können - ist das richtig, das Wort?
ABM-Maßnahme für die deutsche Anwaltschaft
de Maizière: Wir haben im Einigungsvertrag eine sehr komplizierte Frage geregelt, nämlich: Wie soll es werden mit den Enteignungen an Grund und Boden? Gibt es das Restitutionsprinzip oder gibt es ein Entschädigungsprinzip? Wir hätten beide wahrscheinlich nicht reinrassig durchgehalten. Der Westen war der Meinung: Das Restitutionsprinzip sei des richtigere, wir beschreiben nur die Ausnahmen, wo dies nicht gelten soll. Und wir waren damals auch völlig im Unklaren darüber, wie viele Fälle das sein würden, denn die Enteignungspraxis der DDR war immer topsecret. Ich habe damals gesagt zu Theo Waigel: "Vielleicht werden es 500.000 Fälle". Es sind insgesamt 1,2 Millionen Fälle geworden, die bei den Ämtern zur Regelung offener Vermögensfragen angelandet sind und entschieden werden mussten. Heute sind immer noch ein paar offen. Und Anwaltskanzleien haben natürlich nach der Wiedervereinigung damit zu tun gehabt, dort Ordnung in die Sache reinzubringen. Helmut Schmidt hat mal zu mir gesagt, es wäre die größte ABM-Maßnahme für die deutsche Anwaltschaft gewesen. Das war nicht die Absicht.
Wentzien: Aber in sofern haben Sie davon auch noch gezehrt im Nachgang?
de Maizière: Ja, also mit der Maßgabe in meinem Büro, dass ich gesagt habe: "Wir vertreten niemals einen Anspruchsteller, der einen ehemaligen DDR-Bürger aus seinem Besitztum vertreiben will". Das hätte sich mit meinem Gefühl der Verantwortung für die mir mal Anvertrauten nicht vereinbaren können.
Wentzien: "Selbstbefreiung", Herr de Maizière, haben Sie gesagt und "Selbstdemokratisierung". Unter dieses Kapitel der Politikfähigkeit und -tätigkeit haben Sie einen Strich gezogen und zwei Sätze aufgeschrieben, die mich nachdenken lassen. Und zwar lautet der eine: "Heute bin ich ein kühler zynischer Rationalist". Und der andere lautet: "Ich verlasse die Politik mit einer Mischung aus Erleichterung, Wut und Trauer."Das kling bitter. Klingt es richtig so, wenn ich es so verstehe?
de Maizière: Also beide Sätze sind mir nicht mal mehr in Erinnerung, dass ich sie gesagt habe. Und ich kenne auch nicht mehr so ganz den Zusammenhang.
Wentzien: 1994 – in Ihrem Buch.
de Maizière: Ja, gut, da war ich aber schon zwei Jahre raus aus der Politik. Wir sind sicherlich im Herbst '89 ein wenig blauäugig in die Politik gegangen und haben gedacht: 'Jetzt ist die Zeit der endgültigen Gestaltung gekommen'. Ich weiß, dass ich einen Satz gesagt habe: "Wir sind aus der Zeit der Friedenserhaltung in die Zeit der Friedensgestaltung gekommen, und plötzlich merkten wir, dass die Geschichte doch weitergeht und dass es mühselig ist, so etwas durchzusetzen." Wenn ich denke, wie langwierig mitunter die Meinungsbildungsprozesse im jetzigen Deutschland sind - da wird eineinhalb Jahre diskutiert, ob es eine Praxisgebühr von zehn Euro geben soll, um sie dann nach drei Jahren wieder abzuschaffen. Also das ist so ein bisschen, dass ich sage: "Hhm, ist Politik wirklich beweglich genug? Ist sie auch verständlich genug?" Was wir ja zum Beispiel an den Wahlbeteiligungen sehen in den letzten Wahlen. Wir haben bei der Volkskammerwahl eine Wahlbeteiligung von 93,4 Prozent gehabt - und das war nicht alte Gewohnheit, von der Nationalen Front dorthin gejagt, sondern die Leute wollten wirklich wissen, wo es hingeht mit ihnen und mit diesem Land. Und ich bin neulich befragt worden, ob denn die Menschen müde geworden wären, sich über die Freiheit zu freuen. Ich sagte: "Nein, darüber sind sie nicht müde geworden. Sie sind müde geworden, sich über die Demokratie zu freuen."
Gewaltfreiheit von 1989 würdigen
Wentzien: Lothar de Maizière ist zu Gast im Deutschlandfunk, im Interview der Woche. Der erste und letzte, frei gewählte Ministerpräsident der DDR. Herr de Maizière, Sie sprechen von Selbstbefreiung vor 25 Jahren, und Anfang Oktober hat der Bundespräsident in Leipzig in diesem Jahr an die riesigen gewaltfreien Demonstrationen in Leipzig am 9. Oktober 1989 erinnert. Das war der Fall der "Mauer der Angst". Vier Wochen später war dann das Eindrücken der Mauer - wie wir jetzt gerade mit Ihren Worten verstanden haben - von der anderen Seite.
de Maizière: Ich würde sagen, es gibt noch einen Zwischenschritt.
Wentzien: Ja?
de Maizière: Leipzig war wirklich noch Fall der "Mauer der Angst" - die Angst grassierte damals auch zuvor in Plauen und so weiter. Und dann gab es ja am 4. November in Berlin die große Demonstration von den Künstlerverbänden, die mit der Polizei so eine Art Sicherheitspartnerschaft geschlossen hatten. Und da kam Witz in die ganze Geschichte rein. Also ich erinnere mich an wunderbare Transparente. Eines war: "Die können sollen, müssen wollen dürfen!" Oder: "Die beste Staatssicherheit ist die Rechtssicherheit!" Und: "Großmutter, warum hast du so große Zähne?" Die hat, Gott sei Dank, das Deutsche Historische Museum aufbewahrt. Und von da an waren es dann eben noch fünf Tage, bis die Mauer eingedrückt wurde.
Wentzien: Ein Witz, der auch zu einer gewissen Leichtigkeit geführt hat oder einem Neben-sich-stehen so ein bisschen und damals dann zuträglich war der Gewaltfreiheit in Leipzig? Wollen Sie das sagen?
de Maizière: Sicherlich. Diese Gewaltfreiheit hat ja mehrere Ursachen. Die DDR-Bürger hatten ja erlebt, wie die Polizei zum Beispiel am 7. Oktober, am 40. Jahrestag, in Berlin umgegangen ist mit Demonstranten, die sich vordrängelten, wo sie nicht hin sollten. Dieses gespenstische Bild: Der Palast der Republik, drinnen Honecker und Gorbatschow und draußen laufen die Leute rum und sagen: "Gorbi, Gorbi, hilf uns!" Und ich habe an dem Montag danach 170 Haftbeschwerden diktiert für Leute, die eingesperrt worden waren. Und da war natürlich die von der Nikolai-Kirche ausgehende Disziplin maßgeblich, aber am 8. natürlich auch der Aufruf von Kurt Masur und anderen. Auch der 1. Sekretär der SED dort - der damals schon ziemlich krank war - hat sich gedacht: "Dieses binde ich mir nicht auf die Seele zum Schluss noch, dass es hier zu Gewalt kommt". Und die Parteiführung hat geschwiegen, hatte sich abgeduckt.
Politik ist nicht durchgängig verständlich
Wentzien: Friedrich Schorlemmer hat in unserem Programm gesagt, und zwar wenige Tage nach den Feierlichkeiten zur Erinnerung an Leipzig: "Eigentlich hätten zwei Akteure diesen Tag ermöglicht, nämlich das Volk, diejenigen, die aufgestanden sind, und das hochgerüstete Sicherheitssystem der DDR, also diejenigen, die nicht geschossen hätte." Hat er recht? Muss man diese Seite der Medaille erst noch würdigen?
de Maizière: Ich glaube schon. Ich habe mich später mit Theo Hoffmann unterhalten - das war der letzte Chef der NVA. Und da er mir gesagt: "Weißt du, wir waren als Armee ausgebildet für einen äußeren Feind. Wir waren für den Bürgerkrieg nicht vorgesehen. Und außerdem wussten wir, dass wir eine Armee von Wehrpflichtigen haben, die wir gezwungen hätten, gegen ihre eigenen Kollegen vorzugehen. Und da gab es bei uns durchaus Stimmen, dass die Offiziere gesagt haben: 'Dann begehen wir lieber eine Befehlsverweigerung, als dass wir da nachher tätig werden müssen gegen diese'." Auch die Tatsache, dass diese Volksarmee und die Offiziere derselben uns bis zum 3. Oktober die Bewachungssicherheit der Kasernen gewährleistet haben, wo wir alle Waffen hingestopft haben - von der Kampfgruppe, von der Staatssicherheit, von der Bereitschaftspolizei, von der GST und weiß ich was nicht alles -, die haben bis zum 3. Oktober ihren Dienst getan und haben die Fahne eingerollt und sind gegangen.
Wentzien: Gewaltfreiheit, Selbstbefreiung, Selbstdemokratisierung. Wenn wir jetzt - wir springen bitte in die Jetztzeit - auf die ostdeutschen Länder schauen, auf die jüngsten Landtagswahlen dort, und nur jeder Zweite zur Wahl geht - und Sie haben vorhin noch mal an eine Wahl erinnert, wo 93,4 Prozent sich beteiligt haben, was hat das zu bedeuten? Was hat das jetzt zu sagen? Fritz Stern, der Historiker sagt beispielsweise: "Das Ideal der liberalen Ordnung, mit allen Errungenschaften der Aufklärung, begeistert nicht mehr so viele Menschen." Was ist diesen Menschen widerfahren? Sie haben vorhin angedeutet, dass es möglicherweise auch an den Repräsentanten der Demokratie liegt.
de Maizière: Auch, aber nicht nur. Politik ist nicht durchgängig verständlich für die Leute, und sie begreifen nicht die Motive der handelnden Personen. Ich habe damals, 1990, gesagt: "Wir müssen nicht nur sagen, was wir tun, sondern auch warum wir es tun." Auch dass man beispielweise sagen kann: "Bei diesem Problem gibt es die Lösung A, B oder C. A hat den Nachteil. B hat den Nachteil. C scheint nur den Nachteil zu haben, deswegen entscheiden wir uns dahingehend." Sondern es wird verkündet als ewige Wahrheit oder als unabdingbare Wahrheit. Das ist kein Vorwurf, aber dennoch, wenn die Kanzlerin bei allen möglichen Dingen immer sagt: alternativlos - es gibt im Leben nichts Alternativloses, es gibt immer Alternativen - das halte ich für bedenklich.
Wentzien: Sind so auch die Erfolge - auf der anderen Seite - der AfD im Osten zu erklären - zweistellig in den Ländern?
Andere Parteien haben zu lange zur AfD geschwiegen
de Maizière: Ja, die AfD hat sich sehr merkwürdig verhalten in den ostdeutschen Ländern. Anders als das, was sie in der eigentlich offiziellen Propaganda der Gründung angegeben hat - Euroskeptizismus und so weiter. Sie haben den Euro nicht ein einziges Mal angegriffen, sondern sie haben in Sachsen plakatiert: "Hände weg von Russland!" Dann haben sie dafür geworben, dass man das sogenannte Ehestanddarlehen, das es in der DDR gab - ich weiß nicht, ob Sie es kennen, da konnten die jungen Leute 5.000 Mark kriegen und konnten es "abkindern", wie das damals genannt wurde - wieder einführt.
Wentzien: Die innere Sicherheit der DDR.
de Maizière: Ja, also sie haben nostalgisch bestimmte Themen bedient, die scheinbar ganz gut ankommen. Sie haben damit aufgesaugt auch das, was bis dahin sehr viel stärker bei der NPD und bei der DFU und wie die auch immer hießen, sich regional angesammelt hatte. Ich glaube auch, dass die anderen Parteien zu lange geschwiegen haben, gedacht haben: "Mit Totschweigen können wir uns damit auseinandersetzen".
Wentzien: Es gibt einen Einzigen aus Ihrer Partei, der CDU, …
de Maizière: Wolfgang Schäuble hat da …
Wentzien: … der sich wehrt. Und der sich hinstellt und sagt: "So nicht! Das ist eine Schande für dieses Land." Das ist der Einzige, den ich im Moment sehe. Reicht das?
de Maizière: Nein, natürlich nicht. Und diese Partei muss möglicherweise auf einem Parteitag darüber nachdenken, was sie macht. Ich habe mich vor einem Dreivierteljahr mit Jean-Claude Juncker unterhalten. Ich sagte: "Die jungen Leute finden Europa nicht mehr so toll." Da sagte er: "Dann müssen wir ihnen wieder die Soldatenfriedhöfe zeigen." Ich sage: "Nein, nein, das war die Motivation der Väter und der Gründungsväter. Damit können wir sie nicht mehr locken, sondern wir müssen ihnen klar machen, welche Vorzüge sie haben, dass sie von Lissabon bis Vilnius ohne Pass fahren können."
Mehr Geduld mit Russland
Wentzien: Sie hören das Interview der Woche. Zu Gast ist Lothar de Maizière. Herr de Maizière, lassen Sie uns über Deutschland und Russland sprechen. Sie sind seit zehn Jahren fast jetzt …
de Maizière: … neun Jahre, gut neun Jahre jetzt.
Wentzien: … gut neun Jahre, Vorsitzender des Deutschen Lenkungsausschusses des Petersburger Dialogs.
de Maizière: Richtig.
Wentzien: Das ist das Forum zur Förderung eines offenen Dialogs zwischen Deutschen und Russen, gegründet von Gerhard Schröder und Wladimir Putin. Wie geht es dem Dialog?
de Maizière: Im Moment ist er in schwierigem Wasser, in schwierigem Fahrwasser. Wir werden noch dieses Jahr Arbeitsgruppentagung haben. Wir hatten jetzt gerade in Berlin die Arbeitsgruppe "Kirchen in Europa". Die Arbeitsgruppe "Kunst und Kultur" hat getagt. Am Tegernsee hat die Arbeitsgruppe "Wirtschaft" getagt. Also wir werden auch noch weitere haben dieses Jahr, aber der nächste größere Dialog steht noch aus, da sind wir auch terminlich noch offen. Wir hoffen, dass die politische Großwetterlage sich etwas normalisiert, dass wir dahin kommen. Aber auch davon würde ich es nicht dauerhaft abhängig machen wollen.
Wentzien: Herr de Maizière, aber mit Normalisieren ist ja im Moment nicht so viel. Wenn man auf Putin schaut, den russischen Präsidenten, der Völkerrecht missachtet, einen imperialen Gestus an den Tag legt, die Arbeit kritischer Medien behindert und ihm sind ganz offen Defizite der Rechtsstaatlich zu attestieren, kann man da - bei allem Respekt - Geduld aufbringen, wenn die Großwetterlage - wie Sie es sagen - nicht danach ist?
de Maizière: Wie viel Geduld hat der Westen in der Zeit des Kalten Krieges aufgebracht mit der Sowjetunion? 30, 40 Jahre. Die Ostverträge hat Willi Brandt und Egon Bahr und Scheel mit Breschnew verhandelt. Und angesichts der Tatsache, dass auf deutschem Territorium damals eine Million Soldaten aus Ost und West zusammengestanden haben, wer heute von neuem Kalten Krieg redet, weiß nicht mehr, was der Kalte Krieg gewesen ist, diese Massierung von Soldaten, die es damals gab, von Waffen, von Atomraketen und so weiter und so fort. Russland tickt anders, Russland braucht länger. Außerdem, alle die auf Putin schimpfen, sollten mal mir einen Namen sagen, den sie sich stattdessen vorstellen könnten.
Wentzien: Also Sie sagen jetzt, sagen wir mal, eine eingefrorene Zeit für drei Jahrzehnte voraus?
de Maizière: Nein, natürlich nicht. Ich habe nur gesagt, was für eine Geduld mitunter notwendig ist. Wissen Sie, was der Westen immer verkennt ist: Russland hat halt keine Renaissance gehabt und kleine Aufklärung, sondern ist eigentlich immer von einem feudalen System ins nächste gerutscht. 1861 war die Leibeigenschaft aufgehoben, dann gab es den Leninismus, Stalinismus. Ich bin der festen Überzeugung, dass im Moment auch eine zweite Generation heranwächst. Die Sowjetniks wachsen oben raus - altersmäßig gesehen - und wir haben jetzt eine Generation von Leuten, die teilweise in Deutschland, teilweise in der Schweiz, teilweise in England studiert haben, die mehrere Sprachen sprechen. Letztendlich waren das die, die auf dem Roten Platz demonstriert haben nach den letzten Wahlen. Das wären eigentlich die natürlichen Verbündeten von Putin, wenn er wirklich das mit der Modernisierung Russlands ernst meint. Aber wir haben ja vor Jahr und Tag auf Betreiben von Herrn Bundesaußenminister Steinmeier die Modernisierungspartnerschaft in Gang gebracht. Da werden zum Beispiel Richterkurse durchgeführt, über Rechtsstaatlichkeitsfragen gesprochen und so weiter. Ich glaube nicht, dass man in Russland etwas erreicht, wenn den belehrenden Zeigefinger hebt und sagt: So machen wir es und ihr habt die und die Defizite. Ich habe zum Beispiel auch in den letzten Jahren immer versucht, Themen zu finden, wo beide Seiten Defizite haben. Ich habe gesagt: "Wir müssen zum Beispiel mal über den demografischen Wandel reden. Was kann man dagegen tun? Wie erzeugt man ein Bewusstsein dafür?" Es wird gesagt, der Petersburger Dialog wäre nur durchsetzt auf der russischen Seite mit kremltreuen Mitgliedern - wenn wir gebeten haben, diese oder jene einzuladen, sind immer diejenigen auch eingeladen worden. Und bei diesem Mal war die Forderung, wir sollten wieder mehr Memorial und die russischen Soldatenmütter einladen. Und sie waren eingeladen und hatten zugesagt. Gleichwohl meinten einige, sie müssten jetzt eben den Petersburger Dialog boykottieren. Das ist eine Frage, die wir bei uns im Inneren zu klären haben des Lenkungsausschusses, die wir nicht auf dem Rücken der Russen austragen dürfen, die immerhin sehr viel Vorbereitungsarbeit und sehr viel Geld in die Vorbereitung reingesteckt hatten.
Wentzien: Bleiben wir mal bei Memorial, bei der Menschenrechtsgruppierung, die ja bedroht wird durch Gesetze, die in Russland existieren, und beispielweise deren Dachverband auch vom Justizministerium in Russland regelrecht - ja - in die Enge getrieben wird. Der Vorwurf lautet ja - Herr de Maizière, bitte, darf ich das noch vielleicht anfügen: Sie versuchen mit Memorial zu reden und in Russland selber passiert auf der wirkmächtigen Hinterbühne etwas ganz anderes, nämlich eine Bedrohung dieser Gruppierung. Das ist ja das, was man Ihnen vorwirft und was nicht zusammenpasst. Und das möchte ich gerne verstehen.
de Maizière: Zunächst, Memorial besteht nicht nur aus dem Dachverband, sondern aus vielen, vielen Ortsverbänden, denen dieser Vorwurf nicht gemacht wird, sondern dem Dachverband. Dieses NGO-Gesetz, gegen das wir allesamt Stellung genommen haben, sagt im Prinzip: Wer vom Ausland finanziert wird, muss sich als Industrieagent registrieren lassen. Dass der Memorial-Dachverband vom Westen mitfinanziert wird, ist zweifelsfrei. Sie haben sich geweigert, sich registrieren zu lassen. Dadurch hat es auch noch Trouble gegeben. Und sie weigern sich weiterhin es zu tun - dann werden sie möglicherweise mit einem Verbotsverfahren überzogen. Man kann sich auch tot-siegen. Wenn sie denn sagen: "Uns ist die Arbeit so wichtig und wir können auf das Geld aus dem Westen nicht verzichten", dann sollen sie sich doch anmelden.
Wentzien: Also, zusammengefasst - sehr kurz, wie es Journalisten immer machen: Der Petersburger Dialog geht weiter, und wir müssen in der Kulisse jetzt ein bisschen warten, bis dort wirkmächtig eine andere Generation an Politik platzgenommen hat?
de Maizière: Na ja, ich kann nicht sagen: Ab morgen haben wir eine neue Generation. Aber es gibt genug Hinweise in dem Land, dass man merkt: So geht es nicht weiter. Und auch im wirtschaftlichen Bereich gibt es solche. Nehmen Sie mal folgende Situation: Noch im Januar bekam ich 35 Rubel für einen Euro, jetzt werden 52 Euro gezahlt. Das heißt, die Kaufkraft ist um ein Drittel gesunken. Das wird natürlich auch Unzufriedenheit hervorrufen. Und dagegen regt sich zunächst in Russland ziemlich stark eine unangenehme nationalistische Stimmung. Wir müssen dafür sorgen, dass dort liberale Auffassungen da sind, die sagen: Worauf führt man das zurück? Vielleicht auch darauf, dass eure Wirtschaft strukturelle Schwächen hat, dass ihr seit Jahren davon lebt, dass ihr eure unveredelten Rohstoffe verkauft und keine Wertschöpfung mehr betreibt. Das Forschungspotenzial Russlands ist seit dem Zerfall der Sowjetunion um Duzende von Prozenten zurückgegangen. Das sind die wahren Probleme des Landes. Und die würde man mit einer Modernisierungspartnerschaft eher beheben können, als mit allem draufzuhauen.
Wentzien: Sie sind optimistisch?
de Maizière: Vom Grundsatz her.
Wentzien: Ich danke für das Gespräch.
de Maizière: Bitte.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.