Andreas Main: Der Philosoph Alexander Grau hat ein Buch vorgelegt, da wusste ich nach wenigen Seiten beziehungsweise wenigen Minuten Lektüre, der Autor hat bei mir gewonnen. Ich habe dann jede freie Minute genutzt, um den Essay von Alexander Grau zu verschlingen. Das Buch hat den Titel "Hypermoral". Was er über "Die neue Lust an der Empörung" zu sagen hat – so der Untertitel, hat mich überzeugt, dürfte andere aber womöglich verstören. So, wie vielleicht auch dieses Gespräch, das wir jetzt führen wollen in der Hoffnung, eine Debatte auszulösen, auch kontroverse Positionen hervorzurufen. Wir versuchen nicht mehr und nicht weniger als mit Alexander Grau seine Thesen herauszuarbeiten. Noch ein paar Daten zur Person. Alexander Grau ist 1968 geboren in Bonn. Er ist promovierter Philosoph, arbeitet als Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er lebt in München. Dort ist er ins Studio gekommen für dieses Gespräch, ein Gespräch, das wir aufzeichnen. Schön, dass Sie sich die Zeit genommen haben, guten Morgen, Herr Grau.
Alexander Grau: Schönen guten Tag, Herr Main.
Main: Herr Grau, der Titel Ihres Buchs, der schlägt ja durchaus den Ton an, wie sich dann die folgenden Seiten anhören. "Hypermoral – Die neue Lust an der Empörung". Wo und wie beobachten Sie diese Lust an der Empörung in besonderem Maße?
Grau: Das können wir in vielen Lebensbereichen feststellen. Es gibt kaum einen Lebensbereich, der inzwischen ja nicht moralisiert wird. Das fängt im Privatleben an. Denken wir an Fragen der Ernährung, des allgemeinen Lebensstils, des Rauchens. Der Konsum hat nachhaltig zu sein. Die Produkte haben fair gehandelt zu sein. Das sind alles Beispiele aus unserem ganz privaten, alltäglichen Leben.
Aber auch der politische Diskurs ist ja inzwischen hochgradig moralisiert. Denken Sie an den Atomausstieg, die Energiewende, viele Fragen der Außenpolitik. Von sozialpolitischen Fragen brauchen wir gar nicht erst zu reden. Vieles wird häufig im Tonfall hochgeschraubter Moralität behandelt. Sachfragen werden tendenziell ausgeklammert.
Man versucht auch als rhetorische Strategie häufig, den Gegner gleich mit moralisch hochgeschraubten Argumenten nach Möglichkeit mundtot zu machen.
"Aggressiver Moralismus"
Main: Das ist dann das Phänomen der Hypermoral, wie Sie es bezeichnen. Schönes Wort. Wie füllen Sie den Begriff mit Inhalt?
Grau: Nun, der Begriff geht ja ursprünglich auf den Sozialphilosophen Arnold Gehlen zurück. Er hat das Ende der 1960er-Jahre eigentlich schon sehr gut und prognostisch scharf beschrieben mit einem, wie ich nach wie vor finde, genialen Begriff. Deshalb habe ich ihn auch für mein Essay verwendet.
Gehlen hat damals schon Tendenzen in der Gesellschaft gesehen, eines, wie er es nannte, "Humanitarismus", also eines übersteigerten Humanismus, nüchterne Diskurse emotional aufzuheizen und den Gegner sozusagen mit einem aggressiven Moralismus, der deutlich auch puritanische und totalitäre Züge hat, nach Möglichkeit mundtot zu machen. Bei Gehlen war das ja damals vor dem Hintergrund der anhebenden 68er-Bewegung.
"Empörung über Empörung ist auch Empörung"
Main: Sie sagen allerdings auch - oder schreiben in Ihrem Buch, Zitat - "Auch Empörung über Empörung ist Empörung" - Zitatende. Also, die Empörten, die zum Beispiel über sogenannte oder angebliche 'Gutmenschen' herziehen, die greifen aus Ihrer Sicht auch zu kurz?
Grau: Die greifen natürlich auch zu kurz - natürlich. Also, das funktioniert natürlich auch als Retourkutsche. Einerseits haben wir diesen hochmoralisierten Diskurs häufig, der eben einhergeht damit, ganze Gruppen häufig vom Diskurs einfach entweder auszuschließen oder moralisch infrage zu stellen. Aber die Reaktion darauf ist natürlich genauso wenig schön.
"Empörung über Empörung ist auch Empörung." Man reagiert dann eben auch nicht nüchtern und analytisch, sondern versucht den anderen, das Gegenüber dann - Stichwort Gutmenschentum oder dergleichen - genauso plakativ einfach mundtot zu machen oder zu diskreditieren.
"Eskalierende, hysterisierte Debatten"
Main: Und dann sind wir in den hysterisierten Debatten, wie wir sie haben.
Grau: Dann sind wir in den hysterisierten Debatten, die wir haben. Dann geht es auch gar nicht mehr um Sachargumente, sondern da geht es nur noch um letzten Endes weltanschauliche Positionierung und darum, den eigenen weltanschaulichen Hintergrund möglichst moralisch hochgekocht zu legitimieren.
Main: Sie sagen, der Hypermoralismus sei die Leitideologie unserer Zeit und das gelte es anzuerkennen. Warum dann aber dieses Buch, wenn es nun mal ist, wie es ist?
Grau: Vor dem Hintergrund dieser teilweise eskalierenden Debatten in vielen politischen, aber auch ganz privaten Bereichen ist es, glaube ich, notwendig, sich die Mechanismen, die dazu geführt haben, vor Augen zu führen. Das ist ein Stück weit unvermeidbar, dieser Hypermoralismus, den ich meine zu analysieren. Aber man kann ihn vielleicht dadurch etwas entschärfen, dass man sich über das Phänomen überhaupt klar wird, und dass man versucht zu verstehen, wie es dazu in unserer Gesellschaft kommen konnte.
Main: Sie schreiben ja auch selbst in einem sehr nüchternen Ton, keinesfalls provozierend oder erregt. Ist das in Ihrem Charakter begründet oder mussten Sie sich zusammenreißen?
Grau: Ich denke schon, dass ich auch ein bisschen polemisch schreibe. Jetzt enttäuschen Sie mich nicht. Aber tatsächlich, ich habe versucht, die Sache … einige Beispiele bringe ich natürlich, die vielleicht auch den einen oder anderen verärgern werden, weil er sich da in seiner persönlichen Position getroffen sieht. Aber im Großen und Ganzen habe ich versucht, einen sachlichen Ton anzuschlagen, weil es – wie gesagt – mein Anliegen vor allem war, die Sache auf unterschiedlichen Ebenen erst mal analytisch anzugehen.
"Der, der das kalte Herz hat"
Main: Ich nenne jetzt mal ein paar Beispiele für den polemischen Ton, den Sie durchaus haben. Sie schreiben vom "Jargon aufgekratzter Moralität", von der "Inbrunst, mit der gesellschaftliche Fragen moralisch hochgekocht werden", vom "Moralismus-Wohlfühlbecken". Die Frage an Sie: Wem hilft die Moralisierung fast aller gesellschaftlichen und politischen Fragen? Wem dient sie?
Grau: Denjenigen, die ihre politischen Interessen oder ihre jeweilige politische Ideologie in einen solchen moralischen Jargon einkleiden ganz einfach zunächst. Denn gegen Moral lässt sich wenig sagen. Beobachten Sie die typische Situation in einer abendlichen Polit-Talkshow. Derjenige Redner, der seine Position möglichst moralisch darstellt, der auf irgendwelche Ungerechtigkeiten hinweist, ist immer rhetorisch in der Vorhand.
Und derjenige, der dann dagegenreden will, vielleicht mit sachlichen, mit nüchternen Argumenten, der wirkt fast automatisch unsympathisch. Das ist also der, der das kalte Herz hat, der nur analytisch an die Sache rangeht. Also, mit Moral zu operieren, bringt eben einen enormen rhetorischen Vorteil. Das bringt häufig Sympathien. Man wirkt eben menschlich. Man wirkt empathisch. Und demgegenüber tritt dann das Sachargument zurück.
Main: Sie haben eben gesagt, Sie wollten die Wurzeln dieses Hypermoralismus ein wenig erkunden. Ich gehe mal an einen Punkt und zitiere Sie, wo ich vermute, dass Sie da eine Wurzel erkennen. Ich zitiere Sie. "Moral ist unsere letzte Religion. Das ist auch der Grund dafür, dass die Kirchen ihrerseits Religion im Wesentlichen auf Moral reduziert haben." Sie sagen, den Kirchen fehle Religion und Glaube, deswegen werden sie zu Moralagenturen und zum verlängerten Arm der dominierenden Leitideologie. Woran machen Sie das fest?
"Der Papst schwenkt fröhlich auf moralisierenden Diskurs ein"
Grau: Nun, an vielen Äußerungen einschlägiger Kirchenvertreter. Das betrifft beide Konfessionen. Der Protestantismus war da schon immer etwas avantgardistischer. Das liegt in seinem Wesen. Der Katholizismus ist etwas formorientierter und ritualorientierter. Aber insbesondere der aktuelle Papst schwenkt da ja ganz fröhlich ein quasi, auf diesen politisierenden und moralisierenden Diskurs, den wir in Deutschland zumindest von protestantischen Vertretern kennen, insbesondere der EKD.
Also, man stellt nicht so sehr Glaubensinhalte in den Mittelpunkt, vielleicht auch einfach, weil man natürlich spürt, dass die klassischen religiösen Formeln für eben viele Menschen sperrig geworden sind, und weil man es vielleicht auch versäumt hat, diese traditionelle religiöse Sprache, die Sprache der Bibel mit Aktuellem und mit für moderne Menschen auch nachvollziehbarem Sinngehalt zu füllen.
Also flieht man in den Bereich der Moral und der Politisierung. Man engagiert sich gegen Umweltverschmutzung. Denken Sie nur, also, der vor irgendeinem Endlager angekettete Pfarrer gehört ja quasi zur protestantischen Folklore noch aus den 80er Jahren.
Und all diese Beispiele zeigen ja auch, dass man dann eben ein Ersatzthema sucht, was auch erst einmal durchaus erfolgreich sein kann, weil die Menschen dort tatsächlich Probleme haben, langfristig allerdings dazu führt, dass die Kirchen – das wäre zumindest meine Prognose – sich von ihren eigenen Wurzeln entfremden.
"Moral stellt sozialen Frieden her"
Main: Sie hören den Deutschlandfunk, die Sendung "Tag für Tag - Aus Religion und Gesellschaft" im Gespräch mit dem Philosophen Alexander Grau über seinen Essay "Hypermoral". Herr Grau, bevor wir später noch mal detaillierter auf die Kirchen eingehen, vielleicht müssen wir noch einen Schritt zurück und die Wurzeln wirklich jetzt noch mal beleuchten, dessen, wovon wir reden. Auch, wenn das keine einfache Aufgabe ist, wie definieren Sie Moral?
Grau: Nun, Moral ist ja erst mal unvermeidbar. Menschengruppen prägen Moral aus. Es sind einfach Handlungsregeln, die Menschen entwickelt haben, weil sie - anders als Tiere - eben nicht rein instinktiv handeln.
Moral gibt uns eine gewisse Freiheit, anders zu handeln. Tiere müssen so handeln – soweit wir wissen, zumindest ein Stück weit. Menschen können anders handeln und dafür brauchen sie Regeln. Dafür brauchen sie Regeln in ihrer Gemeinschaft, in einer sozialen Gruppe. Und das ist die Moral. Und sie stellt sozialen Frieden her. Sie regelt Hierarchien. Sie regelt Machtverhältnisse. Sie verhindert Konflikte. Deshalb haben wir Moral.
"Moral beginnt um sich selber zu kreisen"
Main: Und an welchem Punkt beginnt sie zu stören oder Sie zu stören – die Moral den Herrn Grau?
Grau: Die Moral beginnt mich dann zu stören, wenn die Moral der alles beherrschende Diskurs wird. Wir müssen uns klarmachen: Moral – wir haben das fast vergessen – Moral war über Jahrtausende immer eigentlich nachgeordnet. Moral wurde legitimiert durch etwas anderes, meistens durch die Religion – darüber haben wir ja gerade schon gesprochen – aber auch durch andere Normensysteme.
Main: Philosophischer Art?
Grau: Philosophischer Art, sagen wir neutraler, weltanschaulicher Art: die Nation, die Kultur, die Tradition als Wertansicht, die Überlieferung. Das alles waren Institutionen, aus denen Normen einfach übernommen wurden, weil es eben so war. Und die haben sie legitimiert. Und das funktioniert aus soziologischen Gründen auch ganz einfach in modernen Gesellschaften nicht mehr, auch, weil diese Überlieferungsstränge abgerissen sind, weil unsere Gesellschaften anders strukturiert sind.
Und in dieser modernen oder später auch dann postmodernen Gesellschaft, in der unsrigen, beginnt Moral um sich selber zu kreisen. Also, sie kann sich nur noch selber legitimieren. Und das ist ein ganz wesentlicher Grund dafür, dass Moral diese beherrschende Stellung bekommen hat, die sie im aktuellen Diskurs, in der gesellschaftlichen Debatte hat.
"Moral im Plural ist unheimlich wichtig"
Main: Wenn es Moral im Plural gibt, dann haben Sie kein Problem mit ihr?
Grau: Überhaupt nicht. Nein, Moral im Plural ist unheimlich wichtig, denn eine erstarrte Moral, die keinen moralischen Plural mehr zulässt, untergräbt sich selbst. Wir haben, wie gesagt, Moralen ja ganz einfach, damit wir uns auch an unterschiedliche Lebensbedingungen anpassen können.
Der Mensch, der nicht moralisch handelt, der moralisch unkonventionell handelt, hinterfragt ja auch immer damit die erstarrten moralischen Normen und sorgt dafür, dass die Moralentwicklung quasi im Gang bleibt, dass sie neu justiert wird. Und deshalb ist ein moralischer Pluralismus ganz, ganz wichtig.
Main: Und deswegen ist auch der Unmoralische wichtig und der Sünder?!?
Grau: Deshalb hat der Sünder eine ganz, ganz wichtige Funktion in der Evolution der Moral, könnte man vielleicht einfach sagen. Einfach, weil er unkonventionell handelt, weil er für moralische Konflikte sorgt – prominent, kennen wir alle gerade zwischen den Generationen –, werden moralische Normen immer neu ausjustiert und neu ausgehandelt.
"Ethik ist der Versuch, Moral rational zu begründen"
Main: Der Philosoph Alexander Grau im Deutschlandfunk im Gespräch über seinen Essay "Hypermoral" in der Sendung "Tag für Tag". Herr Grau, wir haben geklärt, was Sie unter Moral verstehen. Jetzt mal vielleicht auch im Kontrast dazu, was ist Ethik?
Grau: Ethik ist der Versuch, Moral rational zu begründen. Das ist quasi gleichbedeutend mit dem Entstehen von Philosophie in der Antike. Genau datieren können wir es nicht, aber Moral entsteht einfach. Sie wird überliefert. Sie wird sicherlich auch ein Stück weit hinterfragt. Aber ab einem gewissen Punkt der Kulturentwicklung tritt einfach das Phänomen auf, dass diese Überlieferungsstränge hinterfragt werden. Vielleicht auch vor dem Hintergrund des Kontaktes mit anderen Kulturen, durch den Handel im Mittelmeerraum, wie auch immer.
Und Leute, die sich dann Philosophen nennen, versuchen die moralischen Normen ihrer Gesellschaft wirklich zu begründen und sie versuchen damit, universale Argumente zu finden, die diese moralischen Normen ausweisen und nicht einfach nur darauf zu verweisen, dass die Ahnen es auch schon so gemacht haben.
Main: Verstehe ich es dann richtig, dass sich Hypermoralismus und Ethik eigentlich beißen müssten?
Grau: Nein, nicht zwangsläufig. Das eine hat sogar mit dem anderen zu tun. Also, der Hypermoralismus ist auch ein Produkt der Ethik. Er ist ein Produkt des Versuches, etwas, was sich letztlich gar nicht vernünftig begründen lässt, nämlich moralische Vorlieben, eben doch vernünftig zu begründen. Der Hypermoralismus ist der Versuch, den Eindruck zu erwecken, dass es nur die eine universale Moral gibt. Und nur die ist gültig. Das alles sind schon Gedankenzüge, die im ethischen, im ethisch-philosophischen Diskurs angelegt sind und die dann in der Phase des Hypermoralismus, die ich konstatiere, instrumentalisiert werden.
"Der Moralapostel will vor allem Macht"
Main: Der Moralismus duldet neben sich keine Götter. Der Moralapostel weiß immer, was das Beste für alle Menschen ist. Aber was will er denn eigentlich inhaltlich?
Grau: Er will inhaltlich vor allem Macht. Da brauchen wir nicht drum herum zu reden. Dahinter steht ein politisches Interesse. Der Hypermoralismus ist ja nicht politisch neutral, sondern wir kennen ihn vor allem eigentlich aus dem linken oder linksliberalen Lager. Er ist der Versuch, die Gesellschaft anhand linker Ordnungsvorstellungen und eines weitestgehend links konnotierten Menschenbildes auszurichten und hat seine Wurzeln in der 68er-Bewegung und in der kulturellen Hegemonie, die in einigen Teilen der Gesellschaft zumindest dieser Linksliberalismus inzwischen erlangt hat.
"Hegemonie des hypermoralistischen Diskurses"
Main: Ja, könnten wir das Gespräch einfach darauf zusammenfassen, dass Sie rechts sind?
Grau: Nein, um Gottes willen. Darum geht es mir überhaupt nicht, sondern mir geht es um die Aufrechterhaltung eines Pluralismus. Was mich tatsächlich stört, aber ich glaube nicht, dass das automatisch rechts ist, ist, dass wir eine gewisse Hegemonie eines linksliberalen hochmoral- oder hypermoralistischen Diskurses in vielen Bereichen der Gesellschaft haben, und dass diese Hegemonie aufgebrochen werden muss.
Main: Wieso fällt eigentlich niemandem auf, dass das tendenziell totalitär ist?
Grau: Ich glaube, das fällt vielen auf. Und daran stören sich eben auch viele. Aber wie das häufig ist, es ist auch ganz schwierig, Nonkonformist zu sein und sich dagegen zu erklären, weil man sich dann automatisch aus dem herrschenden Diskurs ausklammert und eben Gefahr läuft, selber wieder diskreditiert zu werden und in diese ungünstige rhetorische Situation zu geraten, in die einen ja der Hypermoralist hineinbekommen möchte.
"Religiöse Fragen werden in der Politkirche ausgeklammert"
Main: Der Philosoph Alexander Grau im Deutschlandfunk. Herr Grau, Sie schreiben wörtlich: "Moral ist unsere Religion, Moralismus wird zum Religionsersatz." Welche Folgen hat das für die Religion?
Grau: Für die Religion hat das unter Umständen verhängnisvolle Folgen. Wenn Sie beispielsweise die Kirchentage der evangelischen Kirche verfolgen: Es gibt ja sehr, sehr viele Menschen, die dieses politisierte Angebot gerne annehmen. Aber wir kommen ja trotzdem nicht drum herum festzustellen: Die Kirchen sind weitestgehend leer. Viele Menschen hadern damit. Die sind nicht alle unreligiös. Die sind nicht alle an religiösen Fragen komplett desinteressiert.
Aber was sie stört, ist häufig gerade diese Politkirche, diese hochmoralische Kirche. Und eigentliche Sinnfragen, eigentliche religiöse Fragen werden ausgeklammert. Und das ist, glaube ich, tatsächlich eine große Gefahr. Wir sehen das ja sonntags an den Besucherzahlen in den Kirchen.
"Der Kern von Religion: ganz individuelle Sinnfragen"
Main: Da muss ich jetzt aber positiv nachfragen. Was ist denn das Eigentliche, was in diesen Politkirchen – so Ihre Formulierung – und was von der Moral verdrängt wird? Was ist das Eigentliche?
Grau: Nun, der Kern von Religion sind ja erst mal ganz individuelle Sinnfragen. Was ist mein Leben? Was macht mein Leben sinnvoll? Wie bin ich gerechtfertigt vor Gott? All diese sehr existenziellen Fragen, die jeden Einzelnen umtreiben, das sind meiner Meinung nach die Kernfragen der Religion. Erst in einer zweiten Linie, wenn überhaupt, kommen dann gesellschaftliche Fragen.
Also, wir haben die schöne Zwei-Reiche-Lehre. Und auch schon im Neuen Testament wird ja darauf hingewiesen, dass es das Reich des Kaisers und das Reich Gottes gibt. Und das Reich Gottes ist erst mal inwendig in uns und nicht draußen in der Welt. Ich verweise gern darauf, dass auch in einer absolut sozial gerechten ökologischen und pazifistischen Welt die Menschen immer noch Sinnfragen hätten.
"Protestantische Theologie und ihre intellektuellen Ressourcen"
Main: Herr Grau, Sie haben besonders die evangelische Kirche im Blick, der Sie eine Diagnose machen, die sich wie die Diagnose eines Schwerkranken liest. Wo sehen Sie insgesamt den Protestantismus, zumindest hierzulande? Was ist Ihr Eindruck?
Grau: Da muss man eben unterscheiden zwischen protestantischer Kirche und protestantischer Theologie. In der protestantischen Theologie – und das ist vielleicht schon ein Teil des Vorwurfes – da gibt es ja große intellektuelle Ressourcen, nur werden die leider nicht genutzt.
Die protestantische Kirche, man hat das vielleicht jetzt auch wieder anlässlich der 500-Jahr-Feier der Reformation gesehen, man geht dann doch wieder ganz stark einerseits natürlich in den Event-Bereich, aber das muss heutzutage vielleicht so sein. Und, wenn man dann aber befragt wird zu theologischen und inhaltlichen Fragen, dann bleiben viele Ressourcen, die man ja eigentlich seitens der Fachtheologie hätte, gerade zu den schon angesprochenen Fragen, zu den eher religionsphilosophischen Fragen auch, zu Sinnfragen, zu Fragen, wie man das Vokabular einer 2000 Jahre alten Erlösungsreligion in das Vokabular einer spätindustriellen Gesellschaft übersetzt. All dies bleibt ungenutzt.
"Den Versuchungen der Medien widerstehen"
Main: Aber Herr Grau, gerade Medienmenschen, die nichts mit Religion zu tun haben, die fordern doch massiv, die Kirchen müssten immer - also, am besten der Papst -, müssten sich zu diesem und jenem politischen Thema äußern. Und die tun das dann auch. Also, die Kirche als Moralagentur, die passt sich ja dem an, was von ihr erwartet wird, was viele wollen.
Grau: Sie haben es ja selber gesagt, Herr Main. Was die Medien wollen. Vielleicht sollten die Kirchen auch ganz einfach lernen, den Versuchungen der Medien zu widerstehen und auch der medialen Sichtbarkeit, die dadurch entsteht, zu widerstehen und vielleicht auch den persönlichen Eitelkeiten zu widerstehen, die durch den Kontakt mit den Mächtigen natürlich befriedigt werden.
Main: Kommen wir noch mal zurück auf Ihre These, dass es eine neue Lust an der Empörung gebe – eben die "Hypermoral". Darum geht es Ihnen. Sind die Kirchen aus Ihrer Sicht eher Opfer dieser Entwicklung? Oder sind sie Teil des Problems - oder sogar die eigentliche Ursache?
Grau: Nein, die eigentliche Ursache sind sie sicherlich nicht. Die polemische Bemerkung kann ich mir jetzt nicht verkneifen: Diese Rolle spielen Kirchen dann eben doch nicht mehr in unserer Gesellschaft, dass sie so wesentliche Akteure oder prägende Akteure sein könnten. Ein Stück weit sind die Kirchen natürlich auch ganz einfach Opfer gesellschaftlicher Entwicklungen.
"Moralismus lässt sich nicht aufbrechen"
Main: Das heißt, die Kirchen in ihrer jetzigen Verfassung sehen Sie nicht an als eine Institution, die den Moralismus aufbrechen könnte? Wo gibt es für Sie Hoffnungsschimmer? Wer könnte das sein?
Grau: Der Moralismus lässt sich in dieser Form nicht aufbrechen. Der Moralismus ist ein Stück weit das konsequente Ergebnis der Entwicklung moderner, auch wohlhabender Gesellschaften – ein entscheidender Punkt –, wohlhabender Gesellschaften. Er gehorcht der Logik dieser Gesellschaften. Wirklich aufbrechen oder aus der Welt bringen kann man ihn nicht. Das ist mir ganz, ganz wichtig. Darum geht es in dieser Analyse.
Was man tun kann, das kann jeder Einzelne tun. Das können nicht irgendwelche Institutionen tun. Das können nicht irgendwelche Organisationen tun, wie Kirchen. Das kann jeder Einzelne tun in seinem Reden oder auch in seinem Verhalten, in den Debatten im Alltag.
Main: Was gilt es zu tun für den Einzelnen?
Grau: Sich vielleicht einfach häufiger mal zu hinterfragen. Muss ich jetzt so emotional reagieren? Inwieweit hat der andere mit seinem Standpunkt vielleicht recht? Bin ich automatisch immer in der moralisch überlegenen Situation?
Wir müssen auch wieder lernen, mehr Dissens zuzulassen schlicht und ergreifend. Wir müssen auch nicht immer zu einem Konsens kommen. Es gibt einfach unterschiedliche Weltanschauungen. Und derjenige, der eine andere Weltanschauung hat, ist nicht immer gleich der Böse oder der Dunkle oder was auch immer.
Wir haben in unserer Gesellschaft in den letzten Jahren so ein bisschen diese ungünstige Tendenz zugelassen, Dissense nicht mehr ausreichend zuzulassen – obwohl laufend irgendwelche Talkshows stattfinden. Aber wir müssen wieder lernen, dass es eben einen wirklichen Pluralismus gibt und wirklich unterschiedliche Meinungen und nicht nur einfach einen Pluralismus, der, wenn man genauer hinschaut, recht monoton daherkommt.
Main: Skeptische Töne eines Skeptikers. Danke an Alexander Grau. Er ist Philosoph und Autor des neuen Buchs "Hypermoral - Die neue Lust an der Empörung". Danke Ihnen, Alexander Grau, für dieses Gespräch.
Grau: Ich bedanke mich auch, Herr Main.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Alexander Grau: "Hypermoral - Die neue Lust an der Empörung"
Claudius Verlag, 2017, 128 Seiten, 12 Euro
Claudius Verlag, 2017, 128 Seiten, 12 Euro