Es ist eine der ersten Szenen des Films: Ellen hat wieder einmal eine Therapie geschmissen. Jetzt sitzt sie mit ihrer Stiefschwester Kelly beim Abendbrot. Das Ritual zwischen den beiden: die magersüchtige Ellen zählt Kalorien.
"Okay, fertig. 200 für das Schwein. 350 Gebutterte Nudeln. 150 für das Brötchen. Und 75 für die Butter."
"Mein Gott, als hättest du Kalorien-Asperger."
"Mein Gott, als hättest du Kalorien-Asperger."
Magersucht in den Medien – gern schnell gefällte Urteile
Es ist dieser schwarze Humor, der den Film erträglich macht. Die Hauptfigur Ellen hat einen scharfen Verstand und ein sicheres Timing für Sprüche. Ihr Blick auf ihre Umgebung ist interessant, auch wenn sie noch unentschieden ist, ob sie weiterhin daran teilnehmen möchte. Doch genau um diese lockere Art ist nun eine Debatte entfacht, noch bevor der Film auf Netflix überhaupt zu sehen war. Eine Medienreaktion die problematisch ist, meint Nora Burgard-Arp. Die Journalistin beschäftigt sich seit drei Jahren mit Magersucht.
"Ich hätte mir halt so ein bisschen erst einmal Innehalten gewünscht und erst mal gucken: Was ist das überhaupt?"
Die Berichterstattung rund um "Das Dschungelcamp" einer der Gründe für Nora Burgard-Arps Interesse an dem Thema:
"Irgendwie kann die Promi-Frau überhaupt nichts richtig machen. Auf der einen Seite ist es irgendwie toll, wenn sie eine Top Bikini Figur haben, und auf der anderen Seite titelt eine andere Zeitung mit denselben Bildern über einen Magersucht-Skandal oder einen Hungerwahn. Ohne irgendwie mal zu schauen, was ist das eigentlich für eine Krankheit, mit der sie da so leichtfertig umgehen."
"To the Bone" – im Ansatz differenziert
Mit Blick darauf liefert der Netflix-Film zumindest im Ansatz eine differenzierte Sichtweise: Magersucht ist im Verständnis des Films kein Synonym für Schlankheitswahn, sondern eine ernstzunehmende Erkrankung, deren Ursache und Therapie komplex sind. Dementsprechend kritisch sieht Nora Burgard-Arp die Stimmen, die sich für ein Verbot des Films einsetzen:
"Diese Debatte führen wir ja jedes Jahr zum Start der neuen Germany's Next Topmodel-Staffel. Dann kommen immer Medienwächter, die sagen diese Sendung fördert Magersucht. Aber man muss halt bei dieser ganzen Debatte und jetzt auch bei dem Film einfach ein bisschen aufpassen, weil eben die Magersucht ist eine multifaktorelle Krankheit. Das heißt, es gibt niemals nur den einen Grund."
Worin sie mit den Kritikern übereinstimmt, ist die Forderung nach einer Informationstafel, die dem Film vorangestellt wird, um bereits Erkrankte vor dem Inhalt zu warnen. Denn wie bei jeder Sucht können bestimmte Bilder verstärkend wirken.
"Wenn ich mir jetzt vorstelle, ich bin gerade aus der Magersucht-Therapie und versuche alles zu vermeiden, was mich irgendwie anspornen könnte, doch wieder zu hungern, würde ich glaube ich schon ganz gerne Warnung hören, dieser Film könnte vielleicht die Gedankenspirale in deinem Kopf wieder lostreten."
Suizid-Darstellung – absolutes No-Go
Die Mediendebatte um "To the Bone" wäre möglicherweise anders ausgefallen, wäre nicht vor kurzem erst eine andere Netflix-Produktion angelaufen: "Tote Mädchen lügen nicht". Eine Serie über den Selbstmord einer Schülerin, die aufgrund ihrer Inszenierung ähnlich kritisiert wurde, unter anderem von der Psychiaterin Ute Lewitzka.
"Wir sind froh und dankbar, dass man sich diesem Thema widmet. Ganz einfach, weil das eine eigene Welt ist, und das gerade in der neueren Zeit auch eine ganz andere Bedeutung hat. Aber mein Achtung-Zeichen wäre trotzdem: Die Art und Weise wie es gemacht wird, bis hin zu der Darstellung des Suizids am Ende, dass die wirklich die Kamera drauf halten, das ist ein absolutes No-Go für mich, weil das ist wirklich unter Suizid präventiver Hinsicht eine Katastrophe."
Offenlegen – prinzipiell etwas Gutes
Ute Lewitzka fordert für solche Programme nicht nur eine Warntafel, über die sich interessierte Zuschauer ähnlich wie bei Altersbeschränkungen leicht hinwegsetzen können, sondern ein betreutes Schauen im geschützten Raum. Eine Debatte die in den Schulen beginnt, und sich in der Öffentlichkeit fortsetzt:
"Das ist so ein bisschen der Hype drum und dass man so das Gefühl hat, je mehr drüber berichten, desto eher bringt man die Leute drauf. Aber auch da wissen wir, dass das nicht so ist. Sondern dieses Reden und offenlegen ist schon prinzipiell etwas Gutes. Das ist immer der erste Schritt letztendlich auch in der Suizidprävention."
Auf diese Weise könnten Unterhaltungsmedien tatsächlich einen Therapieeffekt haben, meint auch die Journalistin Nora Burgard-Arp. Aber weniger für die Erkrankten, als für die Gesellschaft.
"Ich glaube, dass sich diese Filme tatsächlich an die breite Masse richten. Und das ist auch das, was ich daran begrüße, dass dann eben mehr Aufmerksamkeit generiert wird und mehr Verständnis. Und das geht dann schon auf die Erkrankten zurück, wenn die dann eben nicht mehr mit diesen Vorurteilen so massiv konfrontiert werden, wie sie es jetzt zum Teil noch tun."