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Mal Politologin, mal Rikschafahrerin, mal Kellnerin

Prekäre Beschäftigungsverhältnisse - das heißt: kein festes Einkommen, mit dem man kalkulieren kann und oft spärlichste Honorare. Neu sind prekäre Arbeitsverhältnisse nicht. Neu ist, dass immer mehr Menschen mit prekären Arbeits- und Lebensformen konfrontiert sind: als Kleinselbstständige, befristet Beschäftigte, Leiharbeiter, als Mini- und Midijobber, als Dauerpraktikanten oder Tagelöhner.

Von Günter Rohleder |
    " Man kann ständig 'n Theaterprojekt machen als Schauspieler, aber es ist nur selten was bezahlt. "

    Daniel Meininghaus, 35, freischaffender Schauspieler in Berlin.

    " In diesem Jahr hab ich zum Beispiel ein freies Projekt gemacht. Das waren aber Freunde. Also, wir haben uns als Freunde zusammengetan, haben gesagt, wir wollen jetzt was selber machen. Wir hatten ein Mini-Minibudget, was quasi die Regisseurin aus ihrer privaten Kasse bezahlt hat. - Sehr schönes Stück. Das war eine Recherche über das Warten. Und das hat sehr viel Spaß gemacht."

    Ausbildung, Aufwand und Spaß an der Sache sind das eine. Aber was, wenn die Schauspielerei nicht zum Leben reicht? Wenn die Engagements nicht gut genug bezahlt werden oder zu selten zustande kommen?

    Wie viele freischaffende Künstler und Solo-Selbständige macht Daniel Meininghaus mehrere Jobs auf einmal, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen.

    Prekäre Beschäftigungsverhältnisse - das heißt: Kein festes Einkommen, mit dem man kalkulieren kann und oft spärlichste Honorare, egal wie hoch der Aufwand. Das heißt: Sich ständig offen und bereit halten für frische Aufträge. Das heißt: Improvisieren. Daniel Meininghaus hat nebenher viel gejobbt. Vor zwei Jahren begann er, zusätzlich zu seinen Theaterengagements an Brandenburger Hauptschulen Schauspiel zu unterrichten.

    " Finanziell ist es besser auf jeden Fall, als in ner Kneipe zu arbeiten. Weil - das war natürlich auch jahrelang mein Zweitjob, dass ich hier in Berlin am Tresen gestanden hab. Und da verdient man mittlerweile ja auch nur noch sieben, acht Euro in die Stunde. Und bei dem Theater ist es ungefähr so 25 Euro in der Stunde, das heißt: Es ist mehr als das Doppelte, was ich da verdiene."

    Neu sind prekäre Arbeitsverhältnisse nicht. Und schon in den 90er Jahren war an den Universitäten von einer Prekarisierung der Arbeit die Rede, wenn sich wissenschaftliche Mitarbeiter von einem Honorarvertrag zum nächsten dienen mussten.

    Neu ist, dass immer mehr Menschen mit prekären Arbeits- und Lebensformen konfrontiert sind: Als Kleinselbständige, befristet Beschäftigte, Leiharbeiter, als Mini- und Midijobber, als Dauerpraktikanten oder Tagelöhner.

    Die Quote dieser immer noch so genannten 'atypischen' Arbeitsverhältnisse beträgt laut Statistischem Bundesamt etwa zehn Prozent. Tatsächlich dürfte sie weit höher liegen, weil Beschäftigungsformen jenseits des Normalarbeitsverhältnisses nur bedingt erfasst werden: Schwarzarbeiter, Nebenjobber und Statuslose fallen völlig heraus.

    Sicher ist: Vollzeitstellen, mit denen man die ganze Familie ernähren kann und ein Leben lang für ein einziges Unternehmen tätig ist, schwinden.

    Dieses so genannte 'Normalarbeitsverhältnis' lag in den 70er Jahren noch bei ungefähr 80 Prozent. Inzwischen ist es auf gut 60 Prozent gesunken.

    Die Schlagworte aus Politik und Wirtschaft lauten: Deregulierung, Flexibilität, lebenslanges Lernen, Eigenverantwortung, Kreativität.

    Günter Voß, Soziologe an der Universität Chemnitz:

    " Bisher war es so, dass durch Arbeitszeitregelungen eight to five das geregelt war, und ab fünf Uhr hab ich mein Privatleben und konnte die Füße hochlegen als Mann. Und die Frau hat hinten die Küche gemacht - um gleichzeitig das Geschlechterthema anzusprechen. Jetzt ist es nicht mehr so einfach, sondern ich muss das jetzt selber machen. Ich muss mich entscheiden, wann ist Freizeit. Wann ist zum Beispiel Sonntag? Der Kleinselbständige hat keinen Sonntag, außer er macht ihn sich."

    Seit vielen Jahren forscht Günter Voß zum Thema Arbeit. Und er macht einen Strukturwandel daran fest, dass die Grenzen zwischen abhängiger Beschäftigung und unternehmerischem Handeln verwischen. Immer mehr Menschen, die im herkömmlichen Sinne gar keine Unternehmer sind, würden gezwungen, sich unternehmerisch zu verhalten. 'Arbeitskraftunternehmer' nennt Günter Voß diese Zwitterwesen:

    " Damit ist nicht gemeint, dass man im Sinne des eigenen Unternehmens handeln muss, sondern dass man mit sich selber unternehmerisch umgehen muss. Das heißt: Angesichts von Formen der Selbstorganisation in der Arbeit oder auch von befristeten Arbeitsverträgen muss man mit sich selber, mit seinen eigenen Fähigkeiten, mit seiner Ware Arbeitskraft - heißt das dann soziologisch gesprochen -, sehr ökonomisch, sehr klug, sehr rational umgehen. Und man ist da n Stückweit ein Unternehmer seiner selbst, mit allen Risiken, wenn's gut geht, aber auch mit den Vorteilen."

    Claudia Möller, 31, ist gelernte Hotelfachfrau und Politikwissenschaftlerin. Zur Zeit macht sie drei Jobs: Als Gewerbetreibende fährt sie Touristen mit der Rikscha durch Berlin, als selbständige Mitarbeiterin des Deutschen Gewerkschaftsbundes gibt sie gegen Honorar Bildungsseminare für Jugendliche und als Leiharbeiterin kellnert sie auf Großveranstaltungen. Warum drei Jobs auf einmal? Claudia Möller:

    " So 'n Vollzeitjob interessiert mich nicht so sehr. Also, ich glaube, es ist Lust auf Vielfalt und auf Freiheit oder dieses Gefühl zu haben, frei zu sein, was natürlich auch n Trugschluss ist, aber erst mal das Gefühl zu haben. Und es ist sicher auch aus der Not geboren. Weil ich eben mein Studium vor noch nicht langer Zeit beendet habe, und jetzt irgendwas erst mal machen muss. Weil ich auf keinen Fall zum Arbeitsamt gehen will."

    Wenn es nach ihr ginge, würde Claudia Möller viel häufiger Bildungsseminare für Jugendliche anbieten. Hier kann sie auf ihr Politikstudium zurückgreifen und eigene Konzepte entwickeln. Es macht ihr auch Spaß, Leute in der Rikscha durch Berlin zu kutschieren und ihnen die Stadt zu zeigen. Als selbständige Gewerbetreibende kann sie entscheiden, wohin sie fährt und wann sie eine Pause macht.

    Kellnern tut sie nur des Geldes wegen. Wenn der Disponent ihrer Leiharbeitsfirma anruft, heißt das zum Beispiel: Um fünf Uhr früh an einem unbekannten Veranstaltungsort antreten und nach den Vorgaben unbekannter Chefs im Eiltempo zehn Stunden lang die Leute bedienen. Mit 7 Euro 50 Stundenlohn liegt sie dabei noch weit besser als andere Leiharbeitsfirmen. Manche bezahlen nur 4 Euro 50 pro Stunde.

    Der DGB honoriert ein Seminar mit 400 Euro, Vorbereitung inklusive. Und eine Stunde Rikschafahren bringt mit Trinkgeld noch einmal zwischen 7 und 8 Euro.

    Mit ihren drei Teilzeitjobs kommt Claudia Möller auf etwa 800 Euro im Monat, also ungefähr auf die Summe von Arbeitslosengeld Zwei, wenn man das Wohngeld einbezieht.

    Zur Zeit reicht das gerade so für ein sehr bescheidenes Leben. Vorausgesetzt es läuft alles glatt.
    Claudia Möller:

    " Wenn dann zum Beispiel n Seminar, für das man gebucht ist, ausfällt oder wenn man sich zum Rikschafahren eingetragen hat und es regnet an den Tagen. Dann wird's natürlich immer schwierig. Es ist keine Existenzangst, aber man merkt, wie sehr dann dieses tägliche "Ich muss jetzt auf meine 800 Euro kommen", die ja noch nicht mal viel sind, wie das Platz in einem selber einnimmt... Also, das mag ich nicht. "

    Auf der einen Seite genießt es Claudia Möller, ihren Job als Kleinselbständige inhaltlich gestalten zu können und Mitarbeitern wie Kunden auf Augenhöhe zu begegnen.

    Auf der anderen Seite muss sie sich pausenlos um Aufträge kümmern, ständig bereithalten, abrackern und bleibt dennoch mit ihrem Verdienst unter der offiziellen Armutsgrenze. Die Zahl derjenigen, die sich als Kleinselbständige versuchen, steigt.
    Günter Voß:

    " Das ist ein Stück neuer Freiheit. Aber das ist eine sehr prekäre Freiheit. Nicht allen gelingt es, diese Freiheit so zu nutzen, dass man die eigenen Interessen etwas besser durchsetzen kann, sondern das sind starke Anforderungen, an denen man auch scheitern kann. Das Risiko, dass es misslingt, steigt gleichzeitig und man muss es auch ständig tun: Also, man muss sich ständig selbst disziplinieren. Man muss ständig Herr seiner selbst sein oder wie die Soziologen sagen, man muss ständig auch sich selber ausbeuten. Und das ist alles andere als schön. An vielen Stellen geht das einher mit neuen und sehr hohen Formen von Belastung."

    Der Soziologe Günter Voß unterscheidet zwischen drei Motiven, die Menschen dazu bringt, sich als Einzelpersonen selbständig zu machen. Da sind die Selbstverwirklicher, oft hoch Qualifizierte, die sagen: Ich will etwas Bestimmtes machen und ich krieg das auch hin. Dann gibt es diejenigen, die die Selbständigkeit als eine vorübergehende Brücke sehen, um möglichst bald wieder einen festen Job zu finden.Und schließlich diejenigen, die sagen: Ich habe keine andere Chance. Mit meinen Qualifikationen oder in meinem Alter finde ich keinen Job mehr am Arbeitsmarkt.

    " Ne Frau über 40, die was kann. Die kann sich nur selbständig machen. Weil ihr nix angeboten wird. Das trifft ja ganz viele. Und nicht nur Frauen heutzutage. "

    Cornelia Quastenberg, 54, ist gelernte Schlosserin, Sozialarbeiterin und Heilpraktikerin. Mehrere Versuche, sich in verschiedenen Berufen selbständig zu machen, hat sie bereits hinter sich. Geld verdient sie seit acht Jahren vor allem als Taxiunternehmerin und Hausverwalterin. Das Taxifahren reicht mehr oder weniger zum Leben, mit ihren Hausprojekten baut sie sich eine kleine Altersversorgung auf.

    Früher, als Sozialarbeiterin, hat sie sich von Projektfinanzierung zu Projektfinanzierung hangeln müssen, um sich dann erst einmal wieder für ein paar Monate arbeitslos zu melden. Jetzt, als Taxiunternehmerin, ist die Arbeitsagentur für sie keine Anlaufstelle mehr. Statt sich arbeitslos zu melden, verbringt sie immer mehr Zeit in ihrer Taxe.
    Cornelia Quastenberg:

    " Als Taxifahrer sind Sie nicht arbeitslos in dem Sinne, dass sie zum Arbeitsamt gehen, sondern Sie sind arbeitslos in dem Sinne, dass Sie an der Halte stehen und warten, dass jemand kommt. Aber irgendwann kommt schon jemand: Der Stundenlohn geht dann irgendwie in die Knie. Das ist eben in dem Gewerbe leider so passiert in den letzten Jahren. Und Sie müssen dann entsprechend mehr Stunden aufm Bock sitzen, um dann auf ihr Einkommen zu kommen. Das macht es so n bisschen schwierig."

    Für die Kleinunternehmerin liegt das Prekäre unter anderem darin, dass sie 12 bis 14 Stunden täglich in der Taxe sitzt, um auf 1200 Euro netto im Monat zu kommen.

    In Anlehnung an das Wort 'Proletariat' ist inzwischen immer häufiger von Prekariat die Rede. Und es hat in den letzten Jahren im Zuge der sogenannten Mayday-Paraden unter diesem Stichwort von Amsterdam bis Mailand, von Paris bis Hamburg vielfältige Proteste gegeben: Jugendliche Dauerpraktikanten ohne Vergütung wie der zwangsabgestellte Ein-Euro-Jobber, Studenten wie Arbeitslose gingen zu zig Tausenden auf die Straße.

    Die Soziologen Pierre Bourdieu oder Sergio Bologna wollen mit Prekariat allerdings kein neues revolutionäres Subjekt ausrufen. Prekariat soll vielmehr zeigen, dass Unsicherheit und Angst als Folge von Prekarisierung bereits ein verallgemeinerbares Problem geworden ist, das quer durch alle Gesellschaftsschichten anzutreffen ist.

    Auch wenn sich die Arbeitsbedingungen einer statuslosen Putzfrau von denen eines promovierten Historikers mit Werkvertrag enorm unterscheiden.

    Peter Wippermann, Professor für Kommunikationsdesign an der Uni Essen und Mitgründer des Hamburger Trendbüros, hat im Jahre 2000 das Zeitgeistkürzel 'Ich-AG' in Umlauf gebracht. Wippermann wollte mit dem Begriff das Ende des Wohlfahrtstaates kennzeichnen und den Trend markieren, dass jeder mehr und mehr selbst für sein ökonomisches Überleben verantwortlich sei. Karriere machte der Begriff dann als Hartz-Vier Maßnahme zur Kleinselbständigenförderung. Peter Wippermann:

    " Ich glaube, dass die Grundidee, dass das Leben ökonomisch strategisch entwickelt wird von jedem von uns, weiter zunehmen wird. Und dieser Begriff 'Ich-AG', so wie wir ihn in das Diskussionsfeld gebracht haben, ist ein Arbeitsbegriff, der eben in der Gesellschaft so benutzt wird, wie die Gesellschaft ihn braucht."

    Das klingt marktkonform und nach totaler Ökonomisierung des Lebens. Kann ein einzelner und sollte er sein Leben so planen und führen wie eine Aktiengesellschaft, wie es die Ich-AG suggeriert? Man könnte auch politisch fragen: Welche Interessen verknüpfen sich mit bestimmten Trendvokabeln, wem nützen sie in erster Linie? Wer etwa würde sich gegen mehr Flexibilität wehren, wenn damit die Freiheit gemeint ist, selbst zu gestalten. Fordert aber ein Chef von seinen Untergebenen mehr Flexibilität, muss das nicht mehr bedeuten, als dass sie nach seiner Pfeife tanzen sollen.

    Wie kommen Trends zustande? Werden sie nicht auch ausgerufen und politisch inszeniert, etwa durch Konstruktionen wie Ich-AG?
    Er benenne nur, was er beobachte, sagt Peter Wippermann, Trends könne man nicht machen.

    Den gesellschaftlichen Strukturwandel, mit dem wir es zu tun haben, vergleicht Wippermann mit dem Übergang von der Agrarwirtschaft zur Industrialisierung. Das Leben zu gliedern in Ausbildung, Arbeit und Ruhestand, für Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter abgesichert zu sein, das seien Erfindungen, die eine stabile Industrieproduktion sichergestellt hätten. Peter Wippermann:

    " Die Produktion und die gesellschaftliche Formierung war unter einem Aspekt gleich: Es ging immer um Masse, es ging immer um Kollektive, es ging immer um Lösungen, die für viele Leute gleichzeitig zutrafen. "

    Heute, mit dem Wandel der Industriegesellschaft zu einer Mediengesellschaft, greife die Kollektivregelung nicht mehr. Die schier grenzenlose Möglichkeit über Computernetze und mobile Telefone, miteinander zu kommunizieren und zu agieren, rücke viel stärker das individuelle Bedürfnis und die Eigenverantwortung ins Zentrum.

    " Wir sind sehr viel selbstbestimmter: Individualisierung ist für uns kein Fremdwort mehr und diese Individualisierung trifft jetzt auf die Arbeitswelt und natürlich auch auf die persönliche Sicherheit und Vorsorge."

    Sind wir tatsächlich selbstbestimmter, wenn es darum geht, uns vor Krankheit und Arbeitslosigkeit abzusichern? Frank Werneke, Bundesvorstandsmitglied der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di, und dort für Medien und prekäre Beschäftigungsverhältnisse zuständig, will sich mit der Beschreibung von Trends nicht zufrieden geben. Prekäre, also ungeschützte Arbeitsverhältnisse seien Ergebnis politischer Entscheidungen und nicht einfach Zeitgeistprodukte. Frank Werneke ist stolz, dass Ver.di im Fachbereich Medien bereits 32.000 Kleinselbständige vertritt.

    Trotzdem muss Frank Werneke einräumen, dass der Strukturwandel mit herkömmlichen Mitteln gewerkschaftlicher Tarifpolitik nicht mehr beantwortet werden kann. Vorstandsmitglied Frank Werneke:

    " Bei der Entwicklung, vor der wir jetzt stehen, kommen wir an die Grenzen von Tarifpolitik, das ist völlig klar. Weil es immer mehr Branchen, Berufe gibt, in denen Tarifverträge nicht mehr greifen, aus unterschiedlichsten Gründen heraus: Weil es gar keine Arbeitgeberverbandstrukturen gibt, weil wir als Gewerkschaften zu schwach sind und weil sich Arbeitgeber immer neue Umgehungsstrategien ausdenken, um dann, wenn es irgendwann einmal einen tarifvertraglichen Schutz gibt, den wieder zu unterlaufen: Über Ausgliederungen, Neugründungen und so weiter."

    Auch wenn es zu begrüßen ist, dass eine Gewerkschaft über ihre klassische Arbeitnehmerklientel hinausdenkt und sich für Solo-Selbständige wie freiberufliche Journalisten zu öffnen versucht, so bleibt es doch extrem schwierig, mit prekarisierten Einzelkämpfern Verhandlungsmacht zu entwickeln. Letztlich hängt die Verhandlungsmacht einer Gewerkschaft von ihrer Streikfähigkeit ab, und die wiederum bleibt an kollektiv artikulierbare Interessen gebunden.

    Was bedeutet es nun, wenn die Vorsorge im Hinblick auf Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alter immer mehr aus dem Solidarsystem gesellschaftlicher Verantwortung herausgelöst und auf den einzelnen abgewälzt wird?

    Eine sichtbare Verslummung deutscher Großstädte werde die Folge sein, sieht Peter Wippermann voraus. Die Idee, dass einem geholfen wird, dass der Staat eingreift, werde an Kraft verlieren. Den Grund dafür sieht er - und folgt damit dem Trend der Verlautbarungen aus Politik, Wirtschaft und Medien - im fehlenden Geld.

    " Es ist vorhersehbar, ohne dass man jetzt in die Glaskugel schaut oder ein Mensch ist, der mehr weiß als alle anderen, dass einfach das Geld fehlen wird, um die soziale Sicherheit, die früher selbstverständlich war, von der man ausgegangen war, einzutauschen."

    Dann muss man eben an die Geldflüsse ran, könnte man entgegnen. Und angenommen, es stimmt, dass die Idee einer vom Gemeinwesen getragenen sozialen Sicherung an Kraft verliert, wo liegen die Gründe dafür?

    Einmal könnte es sein, dass sich die auf dem Markt der Möglichkeiten Erfolgreichen, also die Besserverdienenden, immer weniger für diejenigen interessieren, die auf der Strecke bleiben. Nach dem Motto: 'Eure Armut kotzt mich an'. Und zweitens könnte die anwachsende Zahl prekärer Einzelkämpfer der Illusion anhängen: Jeder könne es auch alleine schaffen, wenn er nur irgendwie gut ist und sich genügend bemüht.

    Der Unternehmer und Streiter für ein bedingungsloses Grundeinkommen, Götz Werner, wählt eine andere Perspektive, wenn er kritisiert:

    " Die Menschen glauben wirklich, sie leben von ihrem Geld. Die Menschen glauben, sie arbeiten, um von ihrer Arbeit zu leben. Dabei lebt keiner von seiner Arbeit und die Menschen meinen, sie müssten ihre Rente ansparen, um später von ihrer Rente zu leben. Aber auch wir werden später nicht von unserer Rente leben, sondern von der jungen Generation, die für uns die Güter und Dienstleistungen erstellt.

    Wir können zwar vernunftmäßig erfassen, dass keiner mehr für sich arbeitet, aber in der Seele sind wir immer noch Selbstversorger. Und aus dieser Selbstversorgermentalität müssen wir herauskommen und dann können wir auch die Dinge neu bewerten und neu gestalten. Das ist ne Bewusstseinsfrage."

    Wenn aber der einzelne nicht seines Glückes Schmied ist, sondern in einer komplizierten Arbeitsteilung immer stärker von der Initiative und Leistung der anderen abhängt, um würdig leben zu können, ist soziale Verantwortung nicht obsolet. Im Gegenteil: Je individualisierter und prekärer die Arbeits- und Einkommensverhältnisse desto wichtiger wird die soziale Absicherung durch das Gemeinwesen. Nur so könnte aus vorübergehend prekären Verhältnissen tatsächlich mehr Freiheit erwachsen: Freiheit von finanzieller Drangsal und Freiheit zu selbstbestimmter Initiative. Und wenn das über geregelte Arbeitsverhältnisse immer weniger gelingt, müsste man die Absicherung eben immer mehr von der Arbeit entkoppeln: Etwa durch ein bedingungsloses Grundeinkommen.