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Mallorca
An Heiligabend Lieder über das Ende der Welt

Auf Mallorca tragen Kinder jedes Jahr an Heiligabend den Sybillengesang vor und verkünden dabei, dass das Ende der Welt naht. In der Klosterkirche Lluc erklingen die schaurig-schönen Verse schon seit Jahrhunderten.

Von Stefanie Eichler |
    Ein Kind steht am Altar und singt ein schwieriges Lied - ganz allein in der gut besuchten Kirche. Hoffentlich, denkt so mancher Kirchgänger, bricht das dünne Stimmchen nicht ein. Aber dann erklingt auch schon das rettende Zwischenspiel der Orgel; die erste Strophe ist geschafft.
    Das Lied mit den vielen Trillern und dem ungewohnt fremden Klang ist der mallorquinische "Cant de la Sibil∙la", der Sibyllengesang. Die UNESCO hat ihn als Weltkulturerbe ausgezeichnet. Für die Mallorquiner gehört der Sybillengesang in der "Misa de Maitines”, der Christmette, dazu, wie für uns Deutsche die Geschenke, die es in Spanien traditionell erst am 6. Januar gibt, am Tag der Heiligen Drei Könige.
    Kinder üben das Lied in der Adventszeit ein, um es in den Kirchen der Insel vorzutragen. Nur wenige Stimmen meistern diese Herausforderung. Hoch oben im Kloster Lluc, dem religiösen Zentrum Mallorcas, ist ein Internat untergebracht. In dem dazugehörigen Chor, Els Blauets, werden die besten Sänger der Insel ausgebildet. Das Kloster liegt über 500 Meter hoch im Tramuntana-Gebirge im Nordwesten der Insel.
    Eine asphaltierte Straße führt hinauf, am Ende verläuft sie als Pfad auf einem alten Pilgerweg. Rechts und links ragen schroffe Felsen empor, frisches Grün sprießt aus dem Boden und Dutzende Schafe laufen herum, fast wie in einer lebendigen Krippe. Auch, wenn man keinen Hirten sieht.
    In einem Saal am Ende einer Reihe verschlungener Klostergänge probt der Chorleiter Ricard Terradas mit seinen Schützlingen. Kein Ort gilt als so eng mit dem Sybillengesang verbunden, wie das Kloster, erzählt der Chorleiter:
    "Wir wissen, dass Lluc zu den wenigen Orten gehört, in denen die Sibila seit Jahrhunderten ohne Unterbrechung zu Weihnachten vorgetragen wird, obwohl die Bischöfe das Lied abschaffen wollten. Aber in Lluc ließen sich die Menschen den Mund nicht verbieten."
    Anderswo, in Portugal, Katalonien und Südfrankreich hingegen, erreichten die Bischöfe ihr Ziel. Seit dem 16. Jahrhundert erklingt der Gesang dort nicht mehr. Auch auf Mallorca war er ein paar Jahre lang nicht zu hören, mit Ausnahme vom Kloster Lluc. Warum aber erregten die alten Verse der Sybille soviel Missfallen beim Klerus? Kirchenvater Augustinus hatte sich doch schon im 4. Jahrhundert eingehend mit der Prophetin Sybille beschäftigt, obwohl sie keine christliche Gestalt war, sondern aus der Antike stammte.
    "Man verbot die spielerischen Elemente in der Kirche. Also auch den Vortrag der Sibila, der ja eine kleine Theaterszene ist: Frauen durften bis vor ein paar Jahren in der katholischen Kirche nicht am Altar singen. Für den Gesang der Sibila verkleidete sich also ein Mann als Frau und hielt ein Schwert in den Händen, als Symbol der Macht. Das mochte die Kirche nicht, denn sie setzte Schauspieler mit Prostituierten gleich."
    Die Darstellung des Sybillengesangs galt als anzüglich. Ganz unbefangen studieren heute die 30 jungen Sänger und Sängerinnen des Chores das Lied ein. Noch gemeinsam, aber in der Christmette wird nur einer singen dürfen. Und zwar von Fischen, die schrecklich schreien, von Wasser, das nicht aufhört zu kochen und von Sonne und Mond, die sich verdunkeln. Die 13-jährige Maria durfte vor Jahren die begehrte Gesangsrolle übernehmen:
    "Die Zuhörer sollen Angst bekommen, denn die Sibila handelt davon, dass du achtsam durchs Leben gehen musst, sonst landest du im ewigen Feuer der Hölle! Die Menschen heute glauben zwar nicht mehr an die Hölle, aber trotzdem möchte ich bei dem Lied den Leuten deutlich machen, dass sie sich anstrengen sollen."
    Daniel, 12 Jahre alt, zählt ebenfalls zu den Altmeistern. Er trug die Sibila schon dreimal vor und hat gut reden, wenn er den anderen Chormitgliedern einen Tipp gibt:
    "Zum Schluss darf ja nur einer die Sibila singen, aber die anderen dürfen sich deswegen nicht ärgern. Im nächsten Jahr bekommen sie ja noch einmal eine Chance."
    In diesem Jahr – das steht nun, kurz vor Weihnachten fest, darf die 12-jährige Alva singen. Vor zwei Tagen hat sie es erfahren:
    "Ich war ganz verblüfft. Ich habe nicht damit gerechnet. Als ich es wusste, wurde ich ganz aufgeregt und habe es sofort meinen Freunden erzählt. Meinen Eltern konnte ich noch nichts sagen."
    Sie muss noch ein paar Tage warten, bis sie ihre Familie wiedersieht, schließlich wohnt Alva ja im Internat. Für sie beginnt jetzt der Endspurt: Der Text muss bald sitzen. Ein Glück mildert die alte, geheimnisvolle Sprache die Grausamkeit des Textes ab. So stehen für den Chorleiter bei den Proben weniger der Inhalt, als mehr die Aussprache, die Körperhaltung und natürlich die Stimme im Vordergrund.
    Vor ein paar Monaten, im Juni, war der Internatschor in Dänemark eingeladen, um dort die Sibila vorzutragen. Seit die UNESCO dem geheimnisvollen Gesang das Weltkulturerbe-Siegel verliehen hat, sind die jungen Sänger und Sängerinnen häufiger auf Konzertreise, erzählt Ricard Terradas:
    "Wir versuchen trotz allem, die Sibila nicht aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang herauszureißen. Wir wollen sie nicht kommerzialisieren, sonst würden wir ihren Sinn aufs Spiel setzen. Wir singen sie niemals außerhalb einer Kirche – auch, wenn wir schon öfter gebeten wurden, den Gesang im Theater vorzutragen."
    Jedes Jahr zu Heiligabend drängen sich Hunderte von Menschen in die abgelegene Klosterkirche, doch sobald der Vortrag der Sibila naht, wäre einer der Kirchgänger gerne ganz woanders:
    "In diesem Augenblick bleibt mir fast das Herz stehen. Ich denke dann: Ich möchte nur, dass es gut wird, weil wir es verdienen. Für die vielen Stunden Arbeit, die wir reingesteckt haben. In diesem Moment würde ich gerne verschwinden."
    Um der Aufregung Herr zu werden, kennen Schülerin und Lehrer ein wirksames Mittel: Beide atmen einmal tief ein, dann wird Alva zu singen beginnen.
    Warum wird die Sibila, die ein grausames Ende der Welt beschreibt, gerade an Weihnachten, dem Fest der Zuversicht, vorgetragen? Diese Frage führt in das Städtchen Campanet: In einem alten Gemäuer ist Mallorcas Zentrum für Musikgeschichte untergebracht. Es gibt keine Heizung. Joan Parets, Pfarrer und Direktor des Zentrums, sitzt an seiner Mesa Camilla, einem Tisch, unter dem in einer Schüssel glühende Kohlen liegen.
    "Als Kind hatte ich großes Interesse daran, einmal an Heilig Abend die Sibila zu singen. Aber immer gab es bessere Stimmen als meine."
    Eine Genugtuung, dass sich der Musikexperte heute als Hüter des alten Gesangs fühlen kann. Unzählige Schriften über die Verse hat der Pfarrer archiviert. Und jedes Jahr kommen neue dazu. Vor ein paar Jahrzehnten klapperte er die Kirchen der Insel ab und ließ sich die Sibila vorsingen. Er stellte fest, dass zwei Versionen verbreitet sind. Die verspieltere und schwierigere tragen die Kinder im Kloster Lluc vor.
    Der Experte hat eine einleuchtende Erklärung dafür, dass die Sibila zu Weihnachten und nur dann zur Aufführung kommt:
    "Die Kirche war immer sehr pessimistisch, die ganze Moral hat ein negatives Vorzeichen. Deswegen gefiel es der Kirche, mit drastischen Mitteln zu arbeiten. Aber nachdem in dem Gesang gesagt wird, den schlechten Menschen wird das und das passieren und den guten dieses und jenes, ist in der letzten Strophe der Sibila von der Jungfrau die Rede, die den Sohn Gottes zur Welt bringen wird, damit wir alle gerettet sind.
    Und keine Botschaft passt wohl besser zu Weihnachten.