Nayami Ayaka Hashimoto kniet zusammen mit einem Dutzend Nachbarn auf Reisstrohmatten im Gemeinschaftshaus einer der Übergangswohnanlagen in Iwaki. Bis zum 12. März wohnte sie in Naraha, einem kleinen Dorf in der Nähe des Kernkraftwerks Fukushima Daiichi, vielleicht eine Stunde Autofahrt von Iwaki entfernt. In Nahara wurde auch Nanami geboren, ihre zweijährige Enkelin: dunkle Augen, kurze schwarze Haare, ein niedliches Kind mit fröhlichem Lachen. Dann explodierte Block 1, und die Familie musste ihr bisheriges Leben hinter sich lassen. Dass von den Reaktoren Gefahr drohe, hätte sie sich nie träumen lassen, erzählt Nayami Ayaka Hashimoto: Sie sollten doch absolut sicher sein. Heute trauen die hier versammelten niemandem mehr: weder Fukushima-Betreiber Tepco, noch den Politikern oder den Strahlenschutzexperten. Weder Hashimoto noch ihr Nachbar Nobumi Furuichi glauben, dass ihre Enkelkinder hier sicher sind.
Radioaktivität. Sie entsteht, wenn instabile Atomkerne zerfallen, dabei ionisierende Strahlung aussenden - in Form von Alpha-, Beta-, Gamma- und Neutronenstrahlen. Strahlung ist weder zu sehen, noch zu riechen, zu fühlen oder zu schmecken: eine unsichtbare Gefahr, die sich nur mit technischen Hilfsmitteln wahrnehmen lässt. Der radioaktive Fall-out der Fukushima-Havarie belastet acht Prozent Japans, mehr als 30.000 Quadratkilometer, schätzt das Wissenschaftsministerium MEXT.
"Die Expositionsabschätzungen, die uns jetzt vorliegen, sind alle sehr verlässlich, und wir wissen, dass die Expositionen aller Bevölkerungsgruppen sehr niedrig waren."
Wolfgang Weiss ist Vorsitzender von Unscear, des Wissenschaftlichen Ausschusses der Vereinten Nationen zur Untersuchung der Auswirkungen der atomaren Strahlung. Im schlimmsten ersten Jahr lag - den verfügbaren Zahlen zufolge - die Belastung der Bevölkerung bei höchstens zehn Millisievert. Das ist etwa das Vierfache der natürlichen Hintergrundstrahlung in Deutschland:
"Daher wissen wir, dass diese ganzen Befürchtungen, in der Bevölkerung, dass es dort gesundheitliche Schäden geben wird, unbegründet sind."
Am 11. März 2011 begann für Japan ein Albtraum. Ein Seebeben der Stärke 9 erschütterte Honshu, löste einen Tsunami aus, der bis zu zehn Kilometer tief ins Landesinnere eindrang und sich in manchen Buchten hochhaushoch auftürmte. 20.000 Menschen starben. Hunderttausende wurden obdachlos. Die Naturkatastrophe zerstörte auch wichtige Teile des Kernkraftwerks Fukushima Daiichi: In drei Reaktoren kam es zu Kernschmelzen und Explosionen. Die Hülle eines vierten Blocks in dem ein bis zum letzten Platz gefülltes Abklingbecken außer Kontrolle geriet, flog in die Luft. In den Stunden und Tagen nach dem Unfall mussten die Menschen im Umkreis von bis zu 30 Kilometern fliehen, ein paar Wochen später auch die Bewohner von Iitate, einem 40 Kilometer entfernten Dorf. 210.000 Evakuierte suchten in den Flüchtlingslagern und bei Verwandten Zuflucht. Doch sie sind nicht die einzigen, die die Atomkatastrophe traf: Vor allem in den Präfekturen Fukushima und Ibaraki leben Millionen Menschen seitdem mit dem radioaktiven Fall-out, der sich in den ersten Tagen nach der Havarie auf die Landschaft legte - und damit auch mit der Angst, dass sie oder ihre Kinder eines Tages wegen der Strahlung an Krebs erkranken.
Messungen und Analysen legen nahe, dass sich durch die schnelle Evakuierung die Strahlendosen für die Bevölkerung rund um den Reaktor in sicheren Grenzen halten, ebenso die dauerhafte Belastung in den weniger kontaminierten Gebieten, aus denen die Menschen nicht evakuiert wurden. Nur - was genau sind sichere Grenzen?
"Im Moment weiß niemand, ob wirklich ein gesundheitliches Risiko besteht. Was wir wissen: Wenn ein solches bestehen sollte, ist es so klein, dass wir es nicht nachweisen können."
Unterhalb von etwa 100 Millisievert können die Epidemiologen in ihren Statistiken keine Strahlungseffekte erkennen. 100 Millisievert sind ungefähr das 40fache der natürlichen Durchschnitts-Strahlenbelastung pro Jahr in Deutschland, erläutert Wolfgang-Ulrich Müller, Strahlenbiologe am Universitätsklinikum Essen und Vorsitzender der Strahlenschutzkommission:
"Es gibt durchaus einige Gebiete in Indien, in Brasilien, dort haben wir als natürliche Strahlenexposition 100 Millisievert im Jahr. Auch dort hat man sehr groß angelegte Untersuchungsserien gestartet, aber selbst dort hat man bis heute nicht nachweisen können, dass eine Erhöhung des Tumorrisikos vorhanden ist."
Das Problem, das die Epidemiologen mit den Folgen niedriger Strahlendosen haben, ist, dass spontane Krebserkrankungen so häufig sind. Ungefähr 40 Prozent der Bevölkerung erkranken im Laufe ihres Lebens an Krebs, ein Viertel bis ein Drittel stirbt daran, erläutert Anna Friedl, Strahlenbiologin am Klinikum der Universität München und Mitglied der Strahlenschutzkommission. Da gilt dann für Dosen wie sie auch in Fukushima gemessen wurden:
"Gegenüber diesem hohen, normalen, spontanen Risiko noch ein paar zusätzliche Fälle, die durch eine zusätzliche Strahlung dazu kommen, das kann man überhaupt nicht statistisch herausfiltern."
Wolfgang Weiss: "In der Anfangsphase kam die Dosis über drei Pfade. Der eine Pfad war das, was auf dem Boden deponiert worden ist, also externe Bestrahlung. Der zweite Pfad ist Inhalation, nämlich das, was in der Wolke, die vorbei zog, an Radionukliden war. Da war es speziell das Jod, und da haben wir auch gewisse Defizite, das alles im Detail zu verstehen. Und der dritte war über die Aufnahme von Nahrung."
Das radioaktive Jod ist längst zerfallen. Was noch wirkt, sind vor allem die Radionuklide Cäsium-134 und -137. Sie liegen auf den Häusern, den Dächern, der Straße, auf der Erde, den Pflanzen, im Kompost, überall. Dazu kommt die Aufnahme von Radioaktivität mit der Nahrung. Sie bereitet allen Japanern Sorge, den niedrigen Grenzwerten zum Trotz. Die Menschen glauben nicht, dass sie sicher sind.
Auch Ayachan Ayako Watanabe musste am 12. März ihr Haus verlassen. Erst kam die 82jährige bei ihrer Schwester unter, jetzt lebt sie in einem winzigen Übergangshaus. Sie möchte nicht hier sterben, erklärt sie, aber ob sich ihr Wunsch erfüllt, da ist sich Ayachan Ayako Watanabe nicht so sicher. Unterkriegen lassen will sie sich aber nicht: Sie fahre Auto, erzählt sie stolz, erteile Go-Unterricht. Ihr Sohn sei wieder nach Hause gegangen: Jemand müsse doch auf den Hund aufpassen, das Haus. Ein japanisches Holzhaus, das der Strahlung nicht viel entgegensetzt.
Strahlenschäden beginnen immer auf Zell-Ebene - wenn die Strahlung auf die DNA im Zellkern trifft und weil sich - entlang der Spur, die sie durch die Zelle zieht - Radikale bilden, die chemische Reaktionen auslösen. Die können die Schäden an der Erbsubstanz vergrößern. Dabei lässt sich die Dosis, die die Zelle trifft, nicht beliebig "verdünnen". Wolfgang-Ulrich Müller:
"Es gibt so eine untere Grenze, das sind die Strahlenquanten, die nicht unterschritten werden können. Das bedeutet, dass im niedrigen Dosisbereich nicht mehr jede Zelle getroffen wird, aber alle Zellen, die getroffen werden, erhalten dieselbe Energie."
Nach langer Diskussion gehen Strahlenschützer heute davon aus, dass die Beziehung zwischen Dosis und Wirkung linear ist - ohne eine Schwellendosis. Müller:
"Das heißt, man geht so vor, dass man von der Stelle, bis zu der man noch einen Nachweis erbringen kann, also die 100 Millisievert etwa bei Erwachsenen, dass man von da aus einfach bis zur Dosis Null linear herunter rechnet."
Dieses kurz LNT genannte Modell steht also für eine einfache Beziehung: Je geringer die Strahlendosen, umso geringer ihre biologischen Folgen:
"Diese Annahme ist so oft wiederholt worden, dass jeder glaubt, das sei nachgewiesen, aber das stimmt einfach nicht. Man macht diese Annahme im Strahlenschutz vor allen Dingen aus praktischen Gründen, weil auf diese Art und Weise kann man nämlich Strahlendosen einfach aufaddieren."
2005 veröffentlichte die National Academy of Sciences in Washington eine Metastudie, nach der eine klare Mehrheit aller Forschungsergebnisse für diesen linearen Zusammenhang spricht. Peter O‘Neill ist Strahlenbiologe am Gray Institute for Radiation Oncology and Biology in Oxford:
"Die Hauptarbeit auf diesem Gebiet hat ein Darmstädter Forscher namens Markus Löbrich geleistet, als er nach einer Bestrahlung mit Hilfe hübscher, bunt-fluoreszierender Flecken Brüche in der DNA sichtbar gemacht hat. Er konnte Schäden bis hinab zur Nachweisgrenze erkennen, und die liegt im unteren Bereich der natürlichen Hintergrundstrahlung. Er sah - wie dann andere Forschergruppen auch -, dass in den Experimenten der Zusammenhang zwischen Strahlung und Schaden linear war."
Allerdings sind nicht alle Forscher davon überzeugt, dass die Sache wirklich so einfach ist: Es gibt Diskussionen, ob bei diesem linearen Modell im niedrigen Dosisbereich unter 100 Millisievert das Risiko über- oder unterschätzt wird. Der Grund: Es ist unklar, wie sich die DNA-Schäden auf dem weiten Weg zum Tumor fortpflanzen. Um genau diese Debatte geht es auch angesichts der Messwerte von Fukushima, die im ersten Jahr für die Bevölkerung eine zusätzliche Belastung von höchstens zehn Millisievert anzeigen: Epidemiologisch ist das nicht mehr zu packen:
"Man erhofft sich aus den biologischen Studien, aus der Aufklärung der biologischen Mechanismen, weitere Abschätzungen machen zu können, in welche Richtung die Risikoentwicklung bei den niedrigen Dosen geht."
"These are quite old, but they are still very useful. These have been around for a while, but what we have been doing we have been updating…"
Das Gray Institute an der Universität Oxford. Hier wird an den Auswirkungen niedriger Strahlendosen geforscht. Unter anderem mit diesem Gerät, das sehr weiche, energiearme Röntgenstrahlen produziert.
"We get the cells growing in our dishes, we put them into the slide ontop of the mask, and place them in there…."
Der Strahlenbiophysiker Marc Hill arbeitet mit Zellkulturen. Sie werden für eine vorher festgelegte Zeitspanne der ausgewählten Dosis ausgesetzt, erklärt er. Diesmal bei einer Temperatur von nur fünf Grad, damit die Zellen regelrecht "erstarren" und nicht schon während der Bestrahlung Reparaturprozesse starten. Die sollen erst nebenan unter dem Mikroskop anlaufen, wenn die Temperatur wieder steigt:
"Wir setzen diese weiche Röntgenstrahlung ein, um die Effekte von niedrig dosierter Röntgen- oder Gammastrahlung zu erforschen."
Eine mit Gold beschichtete Maske sorgt dafür, dass in den Zellkernen nur eine mikrometerfeine Spur von Strahlenschäden entsteht: Der Rest bleibt intakt. So simuliert Marc Hill die Schäden durch niedrige Dosen - und er kann genau beobachten, was in den getroffenen Zellen passiert, wie sie Reparaturproteine zur gestörten Stelle schaffen. Es geht darum, was mit der DNA passiert, der Erbsubstanz. Wie schnell die Reparaturmechanismen ablaufen und ob sie erfolgreich sind. Ob die Zellen ihr Selbstmordprogramm starten, die Apoptose. Kommt es zu Mutationen? Denn sitzen die in wichtigen Genen, könnte aus dieser Zelle Jahre oder Jahrzehnte später eine Tumorzelle werden. Peter O‘Neill:
"Noch immer ist unklar, ob die Schäden an der DNA der wichtigste Mechanismus sind, um Krebs auszulösen. Es könnten auch Effekte eine Rolle spielen, die in jüngster Zeit in die Diskussion gekommen sind: der Bystander-Effekt etwa, bei dem bestrahlte Zellen den nicht bestrahlten Signale senden und es so zu einer Art Gewebeantwort kommt."
Dieser Bystander-Effekt tritt vor allem im niedrigen Dosisbereich auf. Die bestrahlten Zellen setzen Botenstoffe frei, die den Nachbarzellen mitteilen, dass nun auch sie geschädigt sind - und schon laufen auch hier die gleichen Prozesse ab wie in den getroffenen Zellen. Ein anderer Effekt, der anscheinend bei niedrigen Dosen auftritt, ist die "genomische Instabilität", erklärt Marc Hill:
"Häufig reparieren bestrahlte Zellen den Schaden und sehen ganz OK aus. Aber später, wenn sie sich ein paar Mal geteilt haben, erkennt man Veränderungen in den Chromosomen."
Untersuchungen an Lymphozyten deuten darauf hin, dass diese zeitverzögerten Reaktionen bei höheren Dosen fehlen. Vielleicht, weil die Zellen zuvor absterben. Hill:
"Vielleicht sorgen aber auch epigenetische Effekte dafür, dass nach einigen Zellgenerationen Schäden sichtbar werden. Die Effekte könnten die Stabilität der Chromosomen verändern, so dass sie mit der Zeit immer anfälliger werden."
Eine Fülle interessanter Hinweise, denen die Forscher nachgehen. Allerdings enthüllen die in-vitro-Experimente nicht die ganze Wahrheit. Marc Hill:
"In Geweben mit Blutgefäßen und Nervenzellen und erst recht in einem Körper gibt es eine ganze Reihe natürlicher Mechanismen, um mit diesen Effekten klar zu kommen."
Das ist wahrscheinlich der Grund, warum Phänomene wie der Bystander-Effekt zwar in Zellkulturen beobachtet werden, aber nur selten in Tierversuchen. Dieser Effekt mag in der Zellkultur die Wirkung niedriger Strahlendosen verstärken, in einem lebenden Körper scheint er das nicht unbedingt fertig zu bringen. Anna Friedl:
"Die Leute, die irgendwann Krebs entwickeln, die haben natürlich auch in irgendeiner Art und Weise diese Mechanismen in ihrer Antwortreaktion drin stecken gehabt. Die Frage ist nur bei den ganz kleinen Dosen, ob wir diese Effekte dann wirklich sehen können. Aber ich würde denken, wenn es jetzt Effekte wären, die zu einer sehr hohen Risikoerhöhung führen würden, dann würden wir die auch leichter sehen."
Wenn man die Effekte in einem menschlichen Organismus überhaupt entdecken kann, dann am ehesten bei Kindern, weil dort die statistische Basis am besten ist. Deshalb haben sich Jerry Kendall von der Childhood Cancer Research Group und seine Kollegen für ihre Studie auch das britische Kinderkrebsregister vorgenommen. Die Forscher suchten nach Verbindungen zur natürlichen Hintergrundstrahlung. Die Studie ist umstritten, weil sie nicht alle Faktoren berücksichtigt, erregte im vergangenen Jahr jedoch Aufsehen:
"In unserer Studie haben wir den Alphastrahler Radon betrachtet und die Gamma-Strahlung, zu der neben der Strahlung aus dem Untergrund auch die kosmische Strahlung gehört. Das war die eine Seite. Die andere waren alle rund 27.000 Kinderkrebsfälle in Großbritannien, die zwischen 1980 und 2006 aufgetreten sind. Dann haben wir untersucht, welcher Strahlung diese erkrankten Kinder und die rund 38.000 Kinder einer Kontrollgruppe ausgesetzt waren. Über diese gesamte Gruppe hinweg sahen wir bei der Leukämie eine statistisch relevante Verbindung zur Gammastrahlung: Die Chance, dass das Zufall ist, liegt nur bei 100:1."
Der Effekt sei nicht groß: Gammastrahlung und Radon zusammen sorgten für eine Dosis von einem Millisievert pro Jahr - und das wiederum entspreche einem Zusatzrisiko von 0,1 Prozent, rechnet Jerry Kendall. Wenn alle Kinder in den Gebieten mit der geringsten Strahlung leben würden, machte das pro Jahr zehn Leukämien weniger aus. Kendall:
"Die große Lehre unserer Studie ist, dass die Annahme im Strahlenschutz stimmt, die einen einfachen Zusammenhang zwischen Dosis und Risiko sieht. Sehr kleine Dosen geben sehr kleine Risiken, aber es gibt keinen Grenzwert."
Wir treffen Yoshimoto Shigihara in Nagadoro, einem Weiler in der Nähe des Dorfs Iitate, 40 Kilometer von Fukushima Daiichi entfernt. Bis zur Katastrophe hatte er einen Job in einem metallverarbeitenden Betrieb, war Nebenerwerbsbauer und Ortsvorsteher von Nagadoro:
"Man hat uns gesagt, dass wir mehr als 30 Kilometer vom Kernkraftwerk entfernt lebten und dass uns nichts passieren kann. Wir hätten nie gedacht, dass wir evakuiert werden müssten und dass wir verstrahlt werden könnten. Davon, welche Krankheiten wir bekommen könnten, war kaum die Rede. Deswegen hatte bei uns zunächst auch niemand große Angst. Wir ahnten nichts davon, als hier 91 Mikrosievert pro Stunde gemessen wurden. Wir trugen einfache Arbeitskleidung, als Männer mit Masken und in weißen Schutzanzügen hierher kamen. Sie haben gemessen und nichts gesagt, sind einfach weggegangen. Mitte März 2011 sei sogar ein Wissenschaftler aus Nagasaki gekommen, um ihnen zu erklären, es sei jetzt wieder alles in Ordnung. Wir sollten nur im Haus bleiben."
Dann kam der Befehl zur Evakuierung. Nun steht Yoshimoto Shigihara verloren vor seinem Haus und hält das Ergebnis seines Ganzkörper-Screenings hoch: Dort stehe, dass seine Dosis unter einem Mikrosievert gelegen haben soll, übersetzt der Dolmetscher. So recht glauben mag das Yoshimoto Shigihara nicht. Nach all' den Lügen, Halbwahrheiten und Vertuschungsversuchen, wie könne er da noch vertrauen? Mit dieser Haltung ist Yoshimoto Shigihara nicht allein.
"Wenn Sie in die höher betroffenen Gebiete gehen, wie Iitate, dann finden Sie dort junge Frauen, 16,18 Jahre, die erzählen Ihnen, wir werden nie geheiratet werden, denn wir sind Mitglieder einer Gemeinde, die kontaminiert ist. Diese Gemeinde ist stigmatisiert. Wir werden nie Kinder kriegen können, weil wir eben von dieser Radioaktivität so geschädigt sind, dass das nicht geht."
Gerechtfertigt sei diese Angst angesichts der Messwerte nicht, erläutert Wolfgang Weiss von der Unscear - nur diese wissenschaftliche Erkenntnis nütze nichts:
"Die Leute empfinden das. Und die Schwangeren fragen, ob sie denn abtreiben sollen, was überhaupt nicht indiziert ist. Aber es gibt selbst Ärzte, die sagen, besser abtreiben, als ein missgebildetes Kind zu haben. Und es gibt anhand unserer fachlichen Erkenntnis überhaupt keinen Grund, eine solche Empfehlung zu geben, aber die wird gegeben."
Wie groß die Verunsicherung ist, belegen erste Untersuchungsergebnisse des Medical Health Survey, mit dem die japanische Regierung die Gesundheitsfolgen des Unfalls bei einer Million Menschen verfolgen lässt. Weiss:
"Was wir wissen ist, dass etwa 50 Prozent einer Kohorte von Tepco-Arbeitern sehr starke Symptome der Depression, der Zukunftslosigkeit, der Verzagtheit haben, und das nach einem Jahr und obwohl diese Leute ja wirklich professionell mit Strahlung ständig umgegangen sind. In der Bevölkerung gibt es ähnliche Hinweise."
Die Auswertung eines Fragebogens, den 90.000 Evakuierte zurücksandten, belegt nicht nur Stress-Symptome, sondern bei einem Fünftel der Betroffenen auch eine Traumatisierung. Die Daten ähneln denen von Überlebenden der Terror-Anschläge vom 11. September. Die Angst vor den Folgen der Strahlung begleitet die Menschen. Beispiel: Jod-131. Fünf Jahre nach der Reaktorhavarie von Tschernobyl stiegen in der Ukraine und Weißrussland die Schilddrüsenkrebsfälle bei Kindern sprunghaft an. Deshalb ließen die japanischen Behörden die Schilddrüsendosen von 1080 Kindern aus den höher belasteten Dörfern messen. Die Werte zeigen, dass das Risiko gering ist - aber das wurde kaum kommuniziert. Statt dessen passierte etwas anderes. Wolfgang Weiss:
"Nun kommt aber das Medical Health Survey und untersucht 360.000 Kinder, und jetzt nicht auf die Radioaktivität von Jod-131 in der Schilddrüse, sondern, da die inzwischen längst den radioaktiven Zerfall gestorben ist, mit Ultraschallmessungen Abnormalitäten der Schilddrüse. Das Ganze wird veröffentlicht: 40 Prozent der Kinder haben abnormale, winzig kleine Quasteln, von denen kein Mensch weiß, ob sie überhaupt eine Gesundheitsrelevanz haben. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung hatte man Null Ahnung, ob dies nicht im ganzen Land der Fall ist. Inzwischen weiß man das, dass das an anderer Stelle genauso ist."
Dabei gehöre es zu den Grundregeln der Epidemiologie, immer auch Vergleichsuntersuchungen in einem nicht betroffenen Gebiet zu machen, um die Basis zu kennen. Zu diesem handwerkliche Fehler der Behörden kommen dann auch noch Meldungen, dass in den vom Fall-out betroffenen Gebieten drei Kinder an Schilddrüsenkrebs erkrankt sind. Die öffentliche Diskussion läuft, ob einer dieser Fälle auf Fukushima zurückzuführen ist. Dem bisherigen Wissensstand zufolge wäre das zu früh, der Schilddrüsenkrebs sollte länger brauchen, um sich zu entwickeln - aber welche Eltern beruhigt das?
Gerade hat die Weltgesundheitsorganisation WHO ihren ersten Risikobericht veröffentlicht. Demnach erhöht sich das Krebsrisiko für das Gros der zwei Millionen Betroffenen nicht - wohl aber für ein Drittel der 23.000 Arbeiter, die die havarierten Blöcke aufräumen, und für die Bevölkerung zweier Orte, die erst Wochen nach der Havarie evakuiert worden waren: die 20.000 Einwohner zählende Kleinstadt Namie und das 6000-Einwohner-Dorf Iitate. In diesen Orten trifft es vor allem die Kinder, die während des Fall-outs jünger als ein Jahr waren, in dieser Gruppe wiederum vor allem die Mädchen. In Iitate zum Beispiel, rechnet die WHO vor, könnte sich das Schilddrüsenkrebsrisiko von etwa 0,8 Prozent auf 1,2 Prozent erhöhen. Doch was heißt das bei einem Dorf? Angesichts dieser kleinen Gruppe droht ihr Schicksal in der Statistik unterzugehen. Umweltschützer gehen jedoch von sehr viel höheren Zahlen aus - und so bleiben Unsicherheit, Frustration und Angst. An die Schulkinder sind Dosimeter verteilt worden. Aber niemand erklärt ihnen, was die aufleuchtenden Zahlen bedeuten. Wolfgang Weiss:
"Diese Kinder, ihre Eltern, haben das Recht, nicht nur ein technisches Spielzeug zu bekommen, sondern auch das Recht, geklärt zu bekommen, was dies bedeutet. Und wenn man das Ganze nur auf einer technischen Ebene sozusagen abfährt, wird man scheitern."
Auch weil plötzlich ein kontaminierter Kinderspielplatz gefunden wurde, in der Stadt Fukushima, die außerhalb des Evakuierungsgebiets liegt. Oder ein Haus, erbaut für die Flüchtlinge, für das der Beton mit belastetem Sand angemischt wurde. Die Regierung jedenfalls hat beschlossen, dass die Folgen der Fukushima-Havarie nun überwunden werden sollten. Die großräumige Dekontaminierung der Gebiete ist verfügt. Böden sollen abgetragen, ganze Wälder abgeholzt werden, die Ökologie eines ganzes Landstrichs vernichtet. Aber der strahlende Müll darf nicht transportiert werden. So wird er einfach in Plastiksäcken verpackt und vor Ort vergraben. Viele Menschen wollen nicht mehr zurück, möchten sich lieber in unbelasteten Gebieten ihr Leben einrichten - aber auch dort wird die Angst bleiben. Yoshimoto Shigihara, der ehemalige Ortsvorsteher von Nagadoro:
"Die Tsunami-Opfer hatten nichts mehr. Ihre Häuser waren zertrümmert und weggespült. Es war schrecklich, als wir die Tsunami-Gebiete so sahen. Aber wir wissen nicht, wie lange unser radioaktiver Tsunami dauert, von dem wir überschwemmt werden."
Radioaktivität. Sie entsteht, wenn instabile Atomkerne zerfallen, dabei ionisierende Strahlung aussenden - in Form von Alpha-, Beta-, Gamma- und Neutronenstrahlen. Strahlung ist weder zu sehen, noch zu riechen, zu fühlen oder zu schmecken: eine unsichtbare Gefahr, die sich nur mit technischen Hilfsmitteln wahrnehmen lässt. Der radioaktive Fall-out der Fukushima-Havarie belastet acht Prozent Japans, mehr als 30.000 Quadratkilometer, schätzt das Wissenschaftsministerium MEXT.
"Die Expositionsabschätzungen, die uns jetzt vorliegen, sind alle sehr verlässlich, und wir wissen, dass die Expositionen aller Bevölkerungsgruppen sehr niedrig waren."
Wolfgang Weiss ist Vorsitzender von Unscear, des Wissenschaftlichen Ausschusses der Vereinten Nationen zur Untersuchung der Auswirkungen der atomaren Strahlung. Im schlimmsten ersten Jahr lag - den verfügbaren Zahlen zufolge - die Belastung der Bevölkerung bei höchstens zehn Millisievert. Das ist etwa das Vierfache der natürlichen Hintergrundstrahlung in Deutschland:
"Daher wissen wir, dass diese ganzen Befürchtungen, in der Bevölkerung, dass es dort gesundheitliche Schäden geben wird, unbegründet sind."
Am 11. März 2011 begann für Japan ein Albtraum. Ein Seebeben der Stärke 9 erschütterte Honshu, löste einen Tsunami aus, der bis zu zehn Kilometer tief ins Landesinnere eindrang und sich in manchen Buchten hochhaushoch auftürmte. 20.000 Menschen starben. Hunderttausende wurden obdachlos. Die Naturkatastrophe zerstörte auch wichtige Teile des Kernkraftwerks Fukushima Daiichi: In drei Reaktoren kam es zu Kernschmelzen und Explosionen. Die Hülle eines vierten Blocks in dem ein bis zum letzten Platz gefülltes Abklingbecken außer Kontrolle geriet, flog in die Luft. In den Stunden und Tagen nach dem Unfall mussten die Menschen im Umkreis von bis zu 30 Kilometern fliehen, ein paar Wochen später auch die Bewohner von Iitate, einem 40 Kilometer entfernten Dorf. 210.000 Evakuierte suchten in den Flüchtlingslagern und bei Verwandten Zuflucht. Doch sie sind nicht die einzigen, die die Atomkatastrophe traf: Vor allem in den Präfekturen Fukushima und Ibaraki leben Millionen Menschen seitdem mit dem radioaktiven Fall-out, der sich in den ersten Tagen nach der Havarie auf die Landschaft legte - und damit auch mit der Angst, dass sie oder ihre Kinder eines Tages wegen der Strahlung an Krebs erkranken.
Messungen und Analysen legen nahe, dass sich durch die schnelle Evakuierung die Strahlendosen für die Bevölkerung rund um den Reaktor in sicheren Grenzen halten, ebenso die dauerhafte Belastung in den weniger kontaminierten Gebieten, aus denen die Menschen nicht evakuiert wurden. Nur - was genau sind sichere Grenzen?
"Im Moment weiß niemand, ob wirklich ein gesundheitliches Risiko besteht. Was wir wissen: Wenn ein solches bestehen sollte, ist es so klein, dass wir es nicht nachweisen können."
Unterhalb von etwa 100 Millisievert können die Epidemiologen in ihren Statistiken keine Strahlungseffekte erkennen. 100 Millisievert sind ungefähr das 40fache der natürlichen Durchschnitts-Strahlenbelastung pro Jahr in Deutschland, erläutert Wolfgang-Ulrich Müller, Strahlenbiologe am Universitätsklinikum Essen und Vorsitzender der Strahlenschutzkommission:
"Es gibt durchaus einige Gebiete in Indien, in Brasilien, dort haben wir als natürliche Strahlenexposition 100 Millisievert im Jahr. Auch dort hat man sehr groß angelegte Untersuchungsserien gestartet, aber selbst dort hat man bis heute nicht nachweisen können, dass eine Erhöhung des Tumorrisikos vorhanden ist."
Das Problem, das die Epidemiologen mit den Folgen niedriger Strahlendosen haben, ist, dass spontane Krebserkrankungen so häufig sind. Ungefähr 40 Prozent der Bevölkerung erkranken im Laufe ihres Lebens an Krebs, ein Viertel bis ein Drittel stirbt daran, erläutert Anna Friedl, Strahlenbiologin am Klinikum der Universität München und Mitglied der Strahlenschutzkommission. Da gilt dann für Dosen wie sie auch in Fukushima gemessen wurden:
"Gegenüber diesem hohen, normalen, spontanen Risiko noch ein paar zusätzliche Fälle, die durch eine zusätzliche Strahlung dazu kommen, das kann man überhaupt nicht statistisch herausfiltern."
Wolfgang Weiss: "In der Anfangsphase kam die Dosis über drei Pfade. Der eine Pfad war das, was auf dem Boden deponiert worden ist, also externe Bestrahlung. Der zweite Pfad ist Inhalation, nämlich das, was in der Wolke, die vorbei zog, an Radionukliden war. Da war es speziell das Jod, und da haben wir auch gewisse Defizite, das alles im Detail zu verstehen. Und der dritte war über die Aufnahme von Nahrung."
Das radioaktive Jod ist längst zerfallen. Was noch wirkt, sind vor allem die Radionuklide Cäsium-134 und -137. Sie liegen auf den Häusern, den Dächern, der Straße, auf der Erde, den Pflanzen, im Kompost, überall. Dazu kommt die Aufnahme von Radioaktivität mit der Nahrung. Sie bereitet allen Japanern Sorge, den niedrigen Grenzwerten zum Trotz. Die Menschen glauben nicht, dass sie sicher sind.
Auch Ayachan Ayako Watanabe musste am 12. März ihr Haus verlassen. Erst kam die 82jährige bei ihrer Schwester unter, jetzt lebt sie in einem winzigen Übergangshaus. Sie möchte nicht hier sterben, erklärt sie, aber ob sich ihr Wunsch erfüllt, da ist sich Ayachan Ayako Watanabe nicht so sicher. Unterkriegen lassen will sie sich aber nicht: Sie fahre Auto, erzählt sie stolz, erteile Go-Unterricht. Ihr Sohn sei wieder nach Hause gegangen: Jemand müsse doch auf den Hund aufpassen, das Haus. Ein japanisches Holzhaus, das der Strahlung nicht viel entgegensetzt.
Strahlenschäden beginnen immer auf Zell-Ebene - wenn die Strahlung auf die DNA im Zellkern trifft und weil sich - entlang der Spur, die sie durch die Zelle zieht - Radikale bilden, die chemische Reaktionen auslösen. Die können die Schäden an der Erbsubstanz vergrößern. Dabei lässt sich die Dosis, die die Zelle trifft, nicht beliebig "verdünnen". Wolfgang-Ulrich Müller:
"Es gibt so eine untere Grenze, das sind die Strahlenquanten, die nicht unterschritten werden können. Das bedeutet, dass im niedrigen Dosisbereich nicht mehr jede Zelle getroffen wird, aber alle Zellen, die getroffen werden, erhalten dieselbe Energie."
Nach langer Diskussion gehen Strahlenschützer heute davon aus, dass die Beziehung zwischen Dosis und Wirkung linear ist - ohne eine Schwellendosis. Müller:
"Das heißt, man geht so vor, dass man von der Stelle, bis zu der man noch einen Nachweis erbringen kann, also die 100 Millisievert etwa bei Erwachsenen, dass man von da aus einfach bis zur Dosis Null linear herunter rechnet."
Dieses kurz LNT genannte Modell steht also für eine einfache Beziehung: Je geringer die Strahlendosen, umso geringer ihre biologischen Folgen:
"Diese Annahme ist so oft wiederholt worden, dass jeder glaubt, das sei nachgewiesen, aber das stimmt einfach nicht. Man macht diese Annahme im Strahlenschutz vor allen Dingen aus praktischen Gründen, weil auf diese Art und Weise kann man nämlich Strahlendosen einfach aufaddieren."
2005 veröffentlichte die National Academy of Sciences in Washington eine Metastudie, nach der eine klare Mehrheit aller Forschungsergebnisse für diesen linearen Zusammenhang spricht. Peter O‘Neill ist Strahlenbiologe am Gray Institute for Radiation Oncology and Biology in Oxford:
"Die Hauptarbeit auf diesem Gebiet hat ein Darmstädter Forscher namens Markus Löbrich geleistet, als er nach einer Bestrahlung mit Hilfe hübscher, bunt-fluoreszierender Flecken Brüche in der DNA sichtbar gemacht hat. Er konnte Schäden bis hinab zur Nachweisgrenze erkennen, und die liegt im unteren Bereich der natürlichen Hintergrundstrahlung. Er sah - wie dann andere Forschergruppen auch -, dass in den Experimenten der Zusammenhang zwischen Strahlung und Schaden linear war."
Allerdings sind nicht alle Forscher davon überzeugt, dass die Sache wirklich so einfach ist: Es gibt Diskussionen, ob bei diesem linearen Modell im niedrigen Dosisbereich unter 100 Millisievert das Risiko über- oder unterschätzt wird. Der Grund: Es ist unklar, wie sich die DNA-Schäden auf dem weiten Weg zum Tumor fortpflanzen. Um genau diese Debatte geht es auch angesichts der Messwerte von Fukushima, die im ersten Jahr für die Bevölkerung eine zusätzliche Belastung von höchstens zehn Millisievert anzeigen: Epidemiologisch ist das nicht mehr zu packen:
"Man erhofft sich aus den biologischen Studien, aus der Aufklärung der biologischen Mechanismen, weitere Abschätzungen machen zu können, in welche Richtung die Risikoentwicklung bei den niedrigen Dosen geht."
"These are quite old, but they are still very useful. These have been around for a while, but what we have been doing we have been updating…"
Das Gray Institute an der Universität Oxford. Hier wird an den Auswirkungen niedriger Strahlendosen geforscht. Unter anderem mit diesem Gerät, das sehr weiche, energiearme Röntgenstrahlen produziert.
"We get the cells growing in our dishes, we put them into the slide ontop of the mask, and place them in there…."
Der Strahlenbiophysiker Marc Hill arbeitet mit Zellkulturen. Sie werden für eine vorher festgelegte Zeitspanne der ausgewählten Dosis ausgesetzt, erklärt er. Diesmal bei einer Temperatur von nur fünf Grad, damit die Zellen regelrecht "erstarren" und nicht schon während der Bestrahlung Reparaturprozesse starten. Die sollen erst nebenan unter dem Mikroskop anlaufen, wenn die Temperatur wieder steigt:
"Wir setzen diese weiche Röntgenstrahlung ein, um die Effekte von niedrig dosierter Röntgen- oder Gammastrahlung zu erforschen."
Eine mit Gold beschichtete Maske sorgt dafür, dass in den Zellkernen nur eine mikrometerfeine Spur von Strahlenschäden entsteht: Der Rest bleibt intakt. So simuliert Marc Hill die Schäden durch niedrige Dosen - und er kann genau beobachten, was in den getroffenen Zellen passiert, wie sie Reparaturproteine zur gestörten Stelle schaffen. Es geht darum, was mit der DNA passiert, der Erbsubstanz. Wie schnell die Reparaturmechanismen ablaufen und ob sie erfolgreich sind. Ob die Zellen ihr Selbstmordprogramm starten, die Apoptose. Kommt es zu Mutationen? Denn sitzen die in wichtigen Genen, könnte aus dieser Zelle Jahre oder Jahrzehnte später eine Tumorzelle werden. Peter O‘Neill:
"Noch immer ist unklar, ob die Schäden an der DNA der wichtigste Mechanismus sind, um Krebs auszulösen. Es könnten auch Effekte eine Rolle spielen, die in jüngster Zeit in die Diskussion gekommen sind: der Bystander-Effekt etwa, bei dem bestrahlte Zellen den nicht bestrahlten Signale senden und es so zu einer Art Gewebeantwort kommt."
Dieser Bystander-Effekt tritt vor allem im niedrigen Dosisbereich auf. Die bestrahlten Zellen setzen Botenstoffe frei, die den Nachbarzellen mitteilen, dass nun auch sie geschädigt sind - und schon laufen auch hier die gleichen Prozesse ab wie in den getroffenen Zellen. Ein anderer Effekt, der anscheinend bei niedrigen Dosen auftritt, ist die "genomische Instabilität", erklärt Marc Hill:
"Häufig reparieren bestrahlte Zellen den Schaden und sehen ganz OK aus. Aber später, wenn sie sich ein paar Mal geteilt haben, erkennt man Veränderungen in den Chromosomen."
Untersuchungen an Lymphozyten deuten darauf hin, dass diese zeitverzögerten Reaktionen bei höheren Dosen fehlen. Vielleicht, weil die Zellen zuvor absterben. Hill:
"Vielleicht sorgen aber auch epigenetische Effekte dafür, dass nach einigen Zellgenerationen Schäden sichtbar werden. Die Effekte könnten die Stabilität der Chromosomen verändern, so dass sie mit der Zeit immer anfälliger werden."
Eine Fülle interessanter Hinweise, denen die Forscher nachgehen. Allerdings enthüllen die in-vitro-Experimente nicht die ganze Wahrheit. Marc Hill:
"In Geweben mit Blutgefäßen und Nervenzellen und erst recht in einem Körper gibt es eine ganze Reihe natürlicher Mechanismen, um mit diesen Effekten klar zu kommen."
Das ist wahrscheinlich der Grund, warum Phänomene wie der Bystander-Effekt zwar in Zellkulturen beobachtet werden, aber nur selten in Tierversuchen. Dieser Effekt mag in der Zellkultur die Wirkung niedriger Strahlendosen verstärken, in einem lebenden Körper scheint er das nicht unbedingt fertig zu bringen. Anna Friedl:
"Die Leute, die irgendwann Krebs entwickeln, die haben natürlich auch in irgendeiner Art und Weise diese Mechanismen in ihrer Antwortreaktion drin stecken gehabt. Die Frage ist nur bei den ganz kleinen Dosen, ob wir diese Effekte dann wirklich sehen können. Aber ich würde denken, wenn es jetzt Effekte wären, die zu einer sehr hohen Risikoerhöhung führen würden, dann würden wir die auch leichter sehen."
Wenn man die Effekte in einem menschlichen Organismus überhaupt entdecken kann, dann am ehesten bei Kindern, weil dort die statistische Basis am besten ist. Deshalb haben sich Jerry Kendall von der Childhood Cancer Research Group und seine Kollegen für ihre Studie auch das britische Kinderkrebsregister vorgenommen. Die Forscher suchten nach Verbindungen zur natürlichen Hintergrundstrahlung. Die Studie ist umstritten, weil sie nicht alle Faktoren berücksichtigt, erregte im vergangenen Jahr jedoch Aufsehen:
"In unserer Studie haben wir den Alphastrahler Radon betrachtet und die Gamma-Strahlung, zu der neben der Strahlung aus dem Untergrund auch die kosmische Strahlung gehört. Das war die eine Seite. Die andere waren alle rund 27.000 Kinderkrebsfälle in Großbritannien, die zwischen 1980 und 2006 aufgetreten sind. Dann haben wir untersucht, welcher Strahlung diese erkrankten Kinder und die rund 38.000 Kinder einer Kontrollgruppe ausgesetzt waren. Über diese gesamte Gruppe hinweg sahen wir bei der Leukämie eine statistisch relevante Verbindung zur Gammastrahlung: Die Chance, dass das Zufall ist, liegt nur bei 100:1."
Der Effekt sei nicht groß: Gammastrahlung und Radon zusammen sorgten für eine Dosis von einem Millisievert pro Jahr - und das wiederum entspreche einem Zusatzrisiko von 0,1 Prozent, rechnet Jerry Kendall. Wenn alle Kinder in den Gebieten mit der geringsten Strahlung leben würden, machte das pro Jahr zehn Leukämien weniger aus. Kendall:
"Die große Lehre unserer Studie ist, dass die Annahme im Strahlenschutz stimmt, die einen einfachen Zusammenhang zwischen Dosis und Risiko sieht. Sehr kleine Dosen geben sehr kleine Risiken, aber es gibt keinen Grenzwert."
Wir treffen Yoshimoto Shigihara in Nagadoro, einem Weiler in der Nähe des Dorfs Iitate, 40 Kilometer von Fukushima Daiichi entfernt. Bis zur Katastrophe hatte er einen Job in einem metallverarbeitenden Betrieb, war Nebenerwerbsbauer und Ortsvorsteher von Nagadoro:
"Man hat uns gesagt, dass wir mehr als 30 Kilometer vom Kernkraftwerk entfernt lebten und dass uns nichts passieren kann. Wir hätten nie gedacht, dass wir evakuiert werden müssten und dass wir verstrahlt werden könnten. Davon, welche Krankheiten wir bekommen könnten, war kaum die Rede. Deswegen hatte bei uns zunächst auch niemand große Angst. Wir ahnten nichts davon, als hier 91 Mikrosievert pro Stunde gemessen wurden. Wir trugen einfache Arbeitskleidung, als Männer mit Masken und in weißen Schutzanzügen hierher kamen. Sie haben gemessen und nichts gesagt, sind einfach weggegangen. Mitte März 2011 sei sogar ein Wissenschaftler aus Nagasaki gekommen, um ihnen zu erklären, es sei jetzt wieder alles in Ordnung. Wir sollten nur im Haus bleiben."
Dann kam der Befehl zur Evakuierung. Nun steht Yoshimoto Shigihara verloren vor seinem Haus und hält das Ergebnis seines Ganzkörper-Screenings hoch: Dort stehe, dass seine Dosis unter einem Mikrosievert gelegen haben soll, übersetzt der Dolmetscher. So recht glauben mag das Yoshimoto Shigihara nicht. Nach all' den Lügen, Halbwahrheiten und Vertuschungsversuchen, wie könne er da noch vertrauen? Mit dieser Haltung ist Yoshimoto Shigihara nicht allein.
"Wenn Sie in die höher betroffenen Gebiete gehen, wie Iitate, dann finden Sie dort junge Frauen, 16,18 Jahre, die erzählen Ihnen, wir werden nie geheiratet werden, denn wir sind Mitglieder einer Gemeinde, die kontaminiert ist. Diese Gemeinde ist stigmatisiert. Wir werden nie Kinder kriegen können, weil wir eben von dieser Radioaktivität so geschädigt sind, dass das nicht geht."
Gerechtfertigt sei diese Angst angesichts der Messwerte nicht, erläutert Wolfgang Weiss von der Unscear - nur diese wissenschaftliche Erkenntnis nütze nichts:
"Die Leute empfinden das. Und die Schwangeren fragen, ob sie denn abtreiben sollen, was überhaupt nicht indiziert ist. Aber es gibt selbst Ärzte, die sagen, besser abtreiben, als ein missgebildetes Kind zu haben. Und es gibt anhand unserer fachlichen Erkenntnis überhaupt keinen Grund, eine solche Empfehlung zu geben, aber die wird gegeben."
Wie groß die Verunsicherung ist, belegen erste Untersuchungsergebnisse des Medical Health Survey, mit dem die japanische Regierung die Gesundheitsfolgen des Unfalls bei einer Million Menschen verfolgen lässt. Weiss:
"Was wir wissen ist, dass etwa 50 Prozent einer Kohorte von Tepco-Arbeitern sehr starke Symptome der Depression, der Zukunftslosigkeit, der Verzagtheit haben, und das nach einem Jahr und obwohl diese Leute ja wirklich professionell mit Strahlung ständig umgegangen sind. In der Bevölkerung gibt es ähnliche Hinweise."
Die Auswertung eines Fragebogens, den 90.000 Evakuierte zurücksandten, belegt nicht nur Stress-Symptome, sondern bei einem Fünftel der Betroffenen auch eine Traumatisierung. Die Daten ähneln denen von Überlebenden der Terror-Anschläge vom 11. September. Die Angst vor den Folgen der Strahlung begleitet die Menschen. Beispiel: Jod-131. Fünf Jahre nach der Reaktorhavarie von Tschernobyl stiegen in der Ukraine und Weißrussland die Schilddrüsenkrebsfälle bei Kindern sprunghaft an. Deshalb ließen die japanischen Behörden die Schilddrüsendosen von 1080 Kindern aus den höher belasteten Dörfern messen. Die Werte zeigen, dass das Risiko gering ist - aber das wurde kaum kommuniziert. Statt dessen passierte etwas anderes. Wolfgang Weiss:
"Nun kommt aber das Medical Health Survey und untersucht 360.000 Kinder, und jetzt nicht auf die Radioaktivität von Jod-131 in der Schilddrüse, sondern, da die inzwischen längst den radioaktiven Zerfall gestorben ist, mit Ultraschallmessungen Abnormalitäten der Schilddrüse. Das Ganze wird veröffentlicht: 40 Prozent der Kinder haben abnormale, winzig kleine Quasteln, von denen kein Mensch weiß, ob sie überhaupt eine Gesundheitsrelevanz haben. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung hatte man Null Ahnung, ob dies nicht im ganzen Land der Fall ist. Inzwischen weiß man das, dass das an anderer Stelle genauso ist."
Dabei gehöre es zu den Grundregeln der Epidemiologie, immer auch Vergleichsuntersuchungen in einem nicht betroffenen Gebiet zu machen, um die Basis zu kennen. Zu diesem handwerkliche Fehler der Behörden kommen dann auch noch Meldungen, dass in den vom Fall-out betroffenen Gebieten drei Kinder an Schilddrüsenkrebs erkrankt sind. Die öffentliche Diskussion läuft, ob einer dieser Fälle auf Fukushima zurückzuführen ist. Dem bisherigen Wissensstand zufolge wäre das zu früh, der Schilddrüsenkrebs sollte länger brauchen, um sich zu entwickeln - aber welche Eltern beruhigt das?
Gerade hat die Weltgesundheitsorganisation WHO ihren ersten Risikobericht veröffentlicht. Demnach erhöht sich das Krebsrisiko für das Gros der zwei Millionen Betroffenen nicht - wohl aber für ein Drittel der 23.000 Arbeiter, die die havarierten Blöcke aufräumen, und für die Bevölkerung zweier Orte, die erst Wochen nach der Havarie evakuiert worden waren: die 20.000 Einwohner zählende Kleinstadt Namie und das 6000-Einwohner-Dorf Iitate. In diesen Orten trifft es vor allem die Kinder, die während des Fall-outs jünger als ein Jahr waren, in dieser Gruppe wiederum vor allem die Mädchen. In Iitate zum Beispiel, rechnet die WHO vor, könnte sich das Schilddrüsenkrebsrisiko von etwa 0,8 Prozent auf 1,2 Prozent erhöhen. Doch was heißt das bei einem Dorf? Angesichts dieser kleinen Gruppe droht ihr Schicksal in der Statistik unterzugehen. Umweltschützer gehen jedoch von sehr viel höheren Zahlen aus - und so bleiben Unsicherheit, Frustration und Angst. An die Schulkinder sind Dosimeter verteilt worden. Aber niemand erklärt ihnen, was die aufleuchtenden Zahlen bedeuten. Wolfgang Weiss:
"Diese Kinder, ihre Eltern, haben das Recht, nicht nur ein technisches Spielzeug zu bekommen, sondern auch das Recht, geklärt zu bekommen, was dies bedeutet. Und wenn man das Ganze nur auf einer technischen Ebene sozusagen abfährt, wird man scheitern."
Auch weil plötzlich ein kontaminierter Kinderspielplatz gefunden wurde, in der Stadt Fukushima, die außerhalb des Evakuierungsgebiets liegt. Oder ein Haus, erbaut für die Flüchtlinge, für das der Beton mit belastetem Sand angemischt wurde. Die Regierung jedenfalls hat beschlossen, dass die Folgen der Fukushima-Havarie nun überwunden werden sollten. Die großräumige Dekontaminierung der Gebiete ist verfügt. Böden sollen abgetragen, ganze Wälder abgeholzt werden, die Ökologie eines ganzes Landstrichs vernichtet. Aber der strahlende Müll darf nicht transportiert werden. So wird er einfach in Plastiksäcken verpackt und vor Ort vergraben. Viele Menschen wollen nicht mehr zurück, möchten sich lieber in unbelasteten Gebieten ihr Leben einrichten - aber auch dort wird die Angst bleiben. Yoshimoto Shigihara, der ehemalige Ortsvorsteher von Nagadoro:
"Die Tsunami-Opfer hatten nichts mehr. Ihre Häuser waren zertrümmert und weggespült. Es war schrecklich, als wir die Tsunami-Gebiete so sahen. Aber wir wissen nicht, wie lange unser radioaktiver Tsunami dauert, von dem wir überschwemmt werden."