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Margaret Atwood: "Hexensaat"
Eine Trickmeisterin der Kunst

Aus dem Zauberer wird ein Theaterregisseur - aus der Insel ein Gefängnis: Die kanadische Autorin Margaret Atwood hat William Shakespeares letztes Stück "Der Sturm" neu erzählt und ihre ganz persönliche Lesart des über 400 Jahre alten Stoffes in ihren Roman "Hexensaat" hinein geschrieben.

Von Tanya Lieske | 17.05.2017
    Die kanadische Autorin Margaret Atwood
    Die kanadische Autorin Margaret Atwood hat das Shakespeare-Stück "Der Sturm" neu interpretiert. (picture alliance / dpa / Rolf Vennenbernd)
    Im dramatischen Werk von William Shakespeare wimmelt es von schattigen Figuren. Gemeint sind die, die nicht von vornherein als Bösewichte klassifiziert sind, die uns aber immer wieder einen Schauer über den Rücken jagen. Jäh tun sich bei ihnen Abgründe der menschlichen Seele auf. Wir stehen am Rand und blicken hinein.
    Kein Wunder also, dass sich Margaret Atwood den Zauberer Prospero zur Hauptfigur gewählt hat. Wer sonst als Prospero brächte es fertig, sowohl ein liebevoller Vater als auch ein eiskalter Manipulator, Kolonialherr einer Insel und begnadeter Illusionskünstler zu sein? Alles Themen, mit denen Atwood sich in ihren Romanen über viele Jahre hinweg beschäftigt hat. Hinzu kommt der reflexive Charakter ihres Werks. Gedanken über das Wesen der Kunst laufen immer mit.
    Ein Magier, aber auch eine Autorenfigur
    "Ich habe ein Buch geschrieben, das heißt: 'Negotiating with the Dead', mit den Toten verhandeln. Es ist ein Buch über das Schreiben. Also nicht darüber, wie man schreibt, sondern was es überhaupt bedeutet, zu schreiben. Wie sehen sich Schriftsteller selbst? Prospero ist auch so jemand, der sich diese Frage stellt. Ein Magier, aber auch eine Autorenfigur. Schriftsteller haben sich deshalb immer sehr für den Prospero interessiert."
    Wie viele Figuren bei Shakespeare tritt auch Prospero am Ende aus dem Stück heraus und wendet sich an die Zuschauer mit der Bitte um ihre Gunst. Bei Prospero klingt das flehend, er braucht nicht nur den Applaus. Er bittet um Freigabe, deutet an, dass er sonst in seinem eigenen Stück gefangen bliebe. In der Übersetzung Frank Günthers hört sich das so an:
    Laßt mich nicht,
    Da ich mein Reich hab und Verzicht
    Auf Rache übte, fortgebannt
    Durch euren Spruch auf ödem Land;
    Befreit mich aus der engen Welt
    Mit eurem Beifall, wenn’s gefällt.
    (William Shakespeare: Der Sturm. Roman. Dtv. 2001(2). Übersetzt von Frank Günther. S. 167)
    Der Zauberer wird zum Theaterregisseur
    Das Stück selbst als Gefängnis: Margaret Atwood hat diese Lesart für ihren Roman zu Ende gedacht. Ihr Prospero ist ein Theaterregisseur, er heißt Felix. Ort seines Wirkens ist ein Gefängnis. Hier inszeniert Felix mit den männlichen Insassen Shakespeares Stück "Der Sturm". Für die Welt da draußen ist Felix abgetaucht, quasi gestorben. Sein ehemaliger Assistent Tony hat ihn vom Thron, also von seinem Regiestuhl gestoßen. Zur Erinnerung: Shakespeares Prospero wurde von seinem ehrgeizigen Bruder Antonius aus seinem Königreich Mailand vertrieben.
    Von wegen vorübergehend, dachte Felix. Jetzt war ihm alles klar. Die Heimlichkeiten, die Sabotage. Die heimtückischen Ausflüchte. Der gewaltige Verrat. Tony war der Drahtzieher, er hatte von Anfang an die Strippen gezogen. Hatte gewartet, bis Felix am verletzlichsten war, und dann zugeschlagen.
    (Margaret Atwood: Hexensaat. Roman. Knaus. 320 Seiten. 20 Euro. S. 31)
    Das Stück im Stück
    Als zwölf Jahre vergangen sind, segelt Antonius mit einem irren Hofstaat an der Insel vorbei, auf der Prospero mit seiner Tochter Miranda lebt. Mit auf der Insel der wilde Caliban, der von Prospero als Sklave gehalten wird, und der Lufgeist Ariel. Mit seiner Hilfe beschwört der Magier einen Sturm herauf. Nun werden der Verräter Antonius samt seiner gesamten Entourage an Land gespült.
    Die vielen Anliegen, die die Schiffbrüchigen mit auf die Insel bringen - Machthunger, Heimtücke, Ränkespiele, politische Utopien, Genuss- und Liebessehnsucht - tragen zu dem schwankenden, vielgliedrigen Plot des Stücks bei. Prospero und auch seine Atwood-Verkörperung Felix sinnen auf Rache. Sie stiften aber, in einer schon bei Shakespeare nicht ganz erklärten Verschiebung der Paradigmen, eine Hochzeit und - wahrscheinlich - dauerhaften Frieden.
    "Prospero ist der Regisseur des Stücks im Stück. Am Ende tritt er aus dem Stück heraus und gibt sich als Regisseur und als Autor des Stücks zu erkennen."
    Eine Lektüre mit Unterhaltungswert
    Auch bei Atwood verstreichen zwölf Jahre. Der intrigante Tony ist zum Minister aufgestiegen und kündigt mit seinem Stab eine Visite des Gefängnisses an. Draußen kommt ein Schneesturm auf. Soweit die Parallele zum Schiffbruch und die technische Verstrebung des Romans. Das klingt ziemlich eins zu eins und auch nach einigem Realismus. Beides trifft zu.
    Um das gewaltige Personal des Romans zu bewerkstelligen, gibt die Autorin den Gefängnisinsassen Bühnennamen und ein knappe Täterbiografie mit. Das wirkt wie ein Blick in einen Zettelkasten, also eher aufgezählt statt elegant touchiert. Doch es bietet auch viel Raum für Kalauer, Hexensaat ist eine Lektüre mit einigem Unterhaltungswert.
    Antonius, usurpatorischer Bruder des Prospero: Snake Eye. Italienischer Herkunft. Schlank, macht Krafttraining. Hat einen Tic und blinzelt. Etwa fünfunddreißig. Juradiplom, das sich bei genauerer Überprüfung als gefälscht herausstellte. Verurteilung: Immobilien-Betrüger; Urkundenfälschung (...).
    (Margaret Atwood: Hexensaat. Roman. Knaus. 320 Seiten. 20 Euro. S. 147).
    Blinde Seelenwinkel und narrative Falltüren
    Viel Theater im Theater also, man merkt, dass Atwood sich auch hinter Bühnen und im Schauspielermilieu auskennt, und dass sie sich durchaus lustvoll selbst in die Rolle der Regisseurin ihres Romans hineingeschrieben hat. Wäre damit alles gesagt, dürfte man dieser Adaption des shakespearesche Sturms einen gewissen Hang zur Selbstbespiegelung bescheinigen.
    Doch zum Glück ist Margaret Atwood ja auch eine Autorin, die sich für blinde Seelenwinkel und für narrative Falltüren interessiert. Und so hat sie hat ihre ganz persönliche Lesart des Stücks "Der Sturm" mit in den Roman hineingeschrieben.
    Erste Erkenntnis: Wenn Prospero seine Tochter Miranda verheiratet, muss er sie freigeben. Ein großer Verlust säumt jeden Weg in die Freiheit. Zweite Erkenntnis: Caliban, Sohn der Hexe Sycorax, Prosperos Sklave, Holzsammler und Fischfänger, bleibt als einziger unerlöst auf der Insel zurück. Warum nur, warum? Caliban, der von Prospero ganz zu Anfang beschimpft wird mit dem wundersamen Wort der Hexensaat, der Hagseed, so auch der englische Titel des Romans. Genau diesen Caliban erkennt der Inselherr Prospero am Ende an als einen Teil seiner selbst.
    Zwei Kerle mußt du als
    Dein eigen kennen; dieses Ding der Finsternis,
    Erkenn ich an als meines
    (William Shakespeare: Der Sturm. Roman. Dtv. 2001(2). Übersetzt von Frank Günther. S. 163)
    Ein gewitzter, performativer, eigenwilliger Roman
    Prospero benennt das Schattenwesen jeder Kunst, den Caliban als Teil seiner eigenen Seele. Und das, zur Erinnerung, schrieb William Shakespeare rund 160 Jahre vor Goethes Faust, 300 Jahre vor Sigmund Freud, knapp 400 Jahre vor Harry Potter.
    "Viele Dinge, die wir als modern begreifen, sind tatsächlich sehr alt. Es passiert ja oft, dass Autoren den Rahmen des sozialen Realismus verlassen und sich zurückbesinnen auf alte Erzählformen, und dann rufen alle: Oh, ist das aber modern."
    Was bleibt hier zu sagen oder zu tun? Wenig. Man kann zum Beispiel den Hut ziehen vor Atwood alias Prospero alias Shakespeare. Man kann auch aufstehen und diesem gewitzten, performativen, eigenwilligen Roman applaudieren. Er ist gut gelungen, und er hat richtig viel zu tun mit diesem 400 Jahre alten Stück, genannt "Der Sturm". Bravo.
    Margaret Atwood: "Hexensaat"
    Knaus Verlag, 320 Seiten, 20 Euro.