Mit diesem Ausschnitt aus dem Gedicht "Genosse Walter Ulbricht" von Horst Salomon eröffnet Mario Frank seine Biographie des mächtigsten Mannes in der jungen DDR. Derart hagiographische Lyrik wird vor allem dann in Auftrag gegeben, wenn es dem Volk am Glauben an die Weisheit seiner Führer mangelt. Das war in der DDR sicher nicht nur 1953 der Fall. Doch als Ulbricht am 1. August 1973 starb und die sowjetische Regierung ein Staatsbegräbnis erster Klasse erzwang, nahm die Bevölkerung, so Mario Frank, "überraschend großen Anteil an der Verabschiedung von Walter Ulbricht."
Schon um 8.00 Uhr, lange vor Beginn des offiziellen Staatsaktes, standen vor dem Gebäude des Staatsrates so viele Menschen, dass die Schlangen der Wartenden sich kilometerlang in einem großen Bogen vom Marx-Engels-Platz bis zum Lustgarten dehnte. Auch wenn viele der anstehenden Menschen delegiert worden waren wie die Kinder in den Uniformen der Roten Pioniere, so fand sich doch eine hohe Zahl von Menschen ein, die aus eigenem Antrieb Abschied von ihrem langjährigen Parteichef und Staatsführer nehmen wollten.
Der Wert der neuen Ulbricht-Biographie, schreibt Carola Stern, liege darin, dass sie erklärlich mache, wie dieser unbeliebte, verschlossene, verkrampfte und ganz und gar unsympathische Funktionär der erste Mann der DDR werden konnte.
Eine Biographie Walter Ulbrichts zu schreiben, ist noch immer eine schwierige, ja undankbare Aufgabe. Denn der Mann scheint, obwohl sein Tod mehr als ein Vierteljahrhundert zurückliegt, in mehrfachem Sinne "unfassbar". Niemand hat bisher eine plausible Erklärung dafür gefunden, wieso ein biederer Funktionär ohne jegliches Charisma die Macht gewinnen und vor allem jahrzehntelang behaupten konnte. Noch weniger lässt sich "der Mensch" Ulbricht fassen. Streicht man den Politiker, bleibt nichts übrig. Darin sind sich die Zeitzeugen einig, ganz gleich, ob sie den führenden Kopf hassten oder bewunderten, ob sie vor ihm kuschten oder auch gelegentlich - erfolglos - gegen ihn aufbegehrten. Ulbricht führte kein Doppelleben, nicht ein einziges klitzekleines Hobby kann ihm nachgesagt werden, kein Skandälchen im sogenannten persönlichen Bereich trübte seinen Anspruch, ein Vorbild zu sein. Kurzum, der Mann war - alles in allem - ein freilich gefährlicher Langweiler.
Mario Franks Buch trägt zwar den Untertitel "Eine deutsche Biographie", in Wahrheit liefert er jedoch eine Geschichte der SED und der DDR, fokussiert auf die Zentralfigur Ulbricht und mit Kapiteln über die Vorgeschichte bis zum Jahre 1945. So eröffnet er das Buch mit einer nach Tagen geordneten Chronik über die Junikrise 1953, in der Ulbricht es mit viel Glück und wegen der Schwäche seiner Kontrahenten schaffte, den Volksaufstand siegreich zu überstehen. Erst danach beschreibt er die Wege und Umwege seines Helden chronologisch. Mittendrin, im Jahre 1958, unterbricht der Autor unmotiviert seine historisierende Darstellung und schiebt ein Kapitel von nur 25 Seiten ein, das er "Der Privatmann" betitelt. Mehr gibt das Material nicht her. "Das ist der Fakt", hätte Ulbricht gesagt.
Man erfährt wenig mehr, als dass Ulbricht ein militanter Nichtraucher und ein leidenschaftlicher Turner war, der auf Sportfesten demonstrativ vorturnte. Niemals kompensierte er politische Frustrationen, etwa durch Parteidisziplin erzwungene Anpassungen, mit alkoholischen Eskapaden. Der führende Genosse war ungesellig und misstrauisch. Dass sein Leibarzt sich Notizen machte, erregte schon Verdacht. Ob er sich die Details nicht merken könne, ohne sie aufzuschreiben, wurde der Doktor aggressiv gefragt.
Mario Frank nutzte die ihm offenstehenden Möglichkeiten optimal. Carola Stern, deren Buch aus dem Jahre 1964 ihm ein Maßstab war, hatte es seinerzeit leichter. Sie durfte spekulieren, denn Partei-, Staats- und Stasi-Archive waren unzugänglich. Ihre Ulbricht-Biographie bezog - trotz aller Sachlichkeit - ihre Spannung auch daraus, dass es sich um eine antistalinistische Streitschrift handelte.
Frank, der Nachgeborene mit westlicher Sozialisation, Jahrgang 1958, nutzt die Freiheit im Umgang mit den Quellen ohne Vorurteile. Seine Leistung besteht darin, dass er komplizierte Sachverhalte präzise und kompakt darzustellen vermag. Nur selten unterläuft es ihm, den Duktus der Akten in die eigene Sprache eindringen zu lassen.
Die Ulbricht zugeschriebenen Attribute sind mehrheitlich negativ. Er war kalt, abweisend, unbeliebt, verbissen, heimtückisch, selbstherrlich, linkisch, unbeholfen, verkrampft, angestrengt, skrupellos, nachtragend, herrisch und diktatorisch. Die KPD-Reichstagsabgeordnete Clara Zetkin nannte ihren Kollegen verschlagen und unaufrichtig. Niemals hat sich irgendjemand als persönlicher Freund Walter Ulbrichts geoutet. Als positive Eigenschaften werden genannt seine rasche Auffassungsgabe, sein enormer Fleiß, seine Neugier und sein leistungsfähiges Gedächtnis. Das diente freilich auch seiner Rachsucht. Wer ihm einmal dumm gekommen war, den bestrafte er bei passender Gelegenheit nachhaltig.
Aufgewachsen in einem eher kleinbürgerlichen als proletarischen Milieu, wurde Ulbricht kulturell von den Standards der Arbeiterbildungsvereine geprägt. Er hatte stets einschlägige Zitate von Goethe und Schiller parat, und er hörte im Silvesterkonzert gern Beethovens "Neunte", erfreute sich aber ebenso am Rennsteiglied des Suhler Volksmusikanten Herbert Roth. Als in Leipzig die anonymen Gräber seiner Eltern aufgefunden wurden, ließ er Goethes Mahnung "Edel sei der Mensch, hilfreich und gut" auf den Grabstein meißeln. Das hinderte ihn nicht daran, von den Gerichten der DDR per Weisung mit der Unterschrift "WU" Todesurteile gegen vermeintliche Klassenfeinde zu verlangen.
Zwischentöne kannte er nicht, diplomatisches Vorgehen war ihm fremd. Mario Frank meint, er habe den schweren Säbel dem feinen Florett vorgezogen. Treffender scheint mir, er habe in Diskussionen den Holzhammer und bei Aktionen die Streitaxt und das Hackebeil genommen.
In Fragebögen der Partei teilte Ulbricht nicht nur mit, er habe im Alter von vier Jahren jeder religiösen Überzeugung abgeschworen, er offenbarte dort auch als körperliche Schwäche ein Kehlkopfleiden, die Folge einer schweren Rachendiphterie, die den Achtzehnjährigen ereilte. Kein Wunder, dass der Reichstagsabgeordnete der KPD in Rededuellen mit dem Nazidemagogen Joseph Goebbels den Kürzeren zog. Auch in der DDR lachten die meisten über den ungelenken Redner mit der Fistelstimme, der sich verhaspelte, falsch betonte und, so oft es ging, ein rhetorisch fragendes "Ja" an seine Sätze dran hing. Den Jüngeren, in der telegenen Mediendemokratie Aufgewachsenen dürfte es schwerfallen, den dauerhaften Erfolg dieses komischen, eher unscheinbaren Politikers zu verstehen.
Ulbricht besaß jedoch einen untrüglichen Machtinstinkt. Er orientierte sich auf Stalin und die Kommunistische Internationale, ohne Zweifel, ohne Schwankungen. So wurde er aus der Sicht der Besatzungsmacht zum idealen Verwalter der sowjetischen Interessen in der Ostzone, die 1949 zur DDR umgestaltet wurde. Er sorgte dafür, dass kommunistische Westemigranten und Überlebende der Konzentrationslager nicht an die Schaltstellen gelangten. Dem fleißigen Virtuosen der Macht mit der robusten Konstitution konnte keiner an den Karren fahren. Seinen parteiinternen Kritikern fehlte der Mut, aufs Ganze zu gehen. Sogar den Ministerpräsidenten Grotewohl, den einstigen Sozialdemokraten, überwachte Mielkes Kontrollorgan. An ihn gerichtete Briefe wurden vor der Zustellung abgelichtet und Ulbricht zunächst zur Kenntnis gebracht.
Der Autor vertritt die These, dass Ulbrichts erfolgreichste Zeit zwischen 1958 und 1965 liegt. Er überschreibt das Kapitel "Der Diktator". Jetzt musste Ulbricht sich nicht mehr dem unberechenbar gefährlichen Stalin unterordnen. Mit Chruschtschow ließ sich diskutieren, ihn konnte man überreden und überzeugen, z.B. von der Notwendigkeit, die Mauer in Berlin zu bauen. Ulbricht versuchte Wirtschaftsreformen und computergesteuerte Modernisierungen - auf der Basis einer totalen Abhängigkeit von Rohstofflieferungen aus der Sowjetunion. Er täuschte sich über seine Möglichkeiten und wollte nicht wahrhaben, dass die Russen es nicht ertrugen, dass die einst besiegten Deutschen einen weit höheren Lebensstandard haben sollten als sie selbst. Leonid Breshnew, der neue Mann im Kreml, vertrug sich überhaupt nicht mehr mit dem altersstarrsinnigen Besserwisser in Ostberlin, der von einer "sozialistischen Menschengemeinschaft" schwafelte und sich damit brüstete, Lenin noch persönlich gekannt zu haben. Seine kleine DDR sollte ein Sozialismusmodell sein. Der Deutsche musste den Verstand verloren haben, wenn er glaubte, sein Ländchen sei lebensfähig ohne die Moskauer Basis. Als er eine eigensinnige, auf Verständigung mit Bonn zielende Deutschlandpolitik begann, manövrierte er sich endgültig ins Abseits. Erich Honecker intrigierte immer offener und stürzte mit Moskauer Rückendeckung den unberechenbaren Greis, der sich auch mit 80 Jahren kein Leben ohne aktive Politik vorstellen konnte. Der Nachfolger hatte von seinem Ziehvater gelernt, wie man skrupellos zum Zuge kommt.
Eine klassische Biographie hat Mario Frank nicht geschrieben, wohl auch nicht schreiben können. Geliefert hat er - im wesentlichen - eine detailgenau geschriebene politische Geschichte der DDR, zentriert um eine Hauptfigur, von der der Verfasser meint, sie sei immerhin der mächtigste Deutsche seiner Zeit gewesen.
Mario Frank: "Walter Ulbricht. Eine deutsche Biographie", Siedler Verlag, Berlin, 536 Seiten, DM 48,--. Am Ende ihrer Rezension in der "Zeit" schreibt Carola Stern:
Mag sein, dass ein Leser, der bisher wenig oder gar nichts über das Leben Walter Ulbrichts weiß ... mit Verwunderung und Erstaunen in jene fremde, kalte Apparatwelt blickt, die es heute in Europa nicht mehr gibt. Um sie ihm weit lebendiger vor Augen zu führen, als das bisher geschieht, sollten Autoren von Ulbricht-Biographien und ähnlichen Projekten vielleicht ab und an die Akten aus Parteiarchiven beiseite legen und zum Beispiel Shakespeare, Brecht und vielleicht auch Heiner Müller lesen.
Und bei Heiner Müller könnte er dann folgende fabelhafte Funktionsbestimmung des stalinistischen Funktionärs finden:
Du kannst von keinem Tiger verlangen, dass er mit der Gazelle Mitleid hat, die er frisst, weil er Hunger hat. Das ist die Entwicklung jetzt. Und dazwischen geschaltet, also zwischen dem Hunger des Tiers und dem Fressen der Gazelle, dazwischen geschaltet war der stalinistische Funktionär. Diese Zwischenschaltung ist jetzt weg. Jetzt bleibt nur noch der Hunger des Tigers und das schmackhafte Fleisch der Gazelle. Es ist eigentlich ein Zurückschrauben in die Tierwelt, also eine Vertierung, also eine Zurücknahme des Humanismus.
Schon um 8.00 Uhr, lange vor Beginn des offiziellen Staatsaktes, standen vor dem Gebäude des Staatsrates so viele Menschen, dass die Schlangen der Wartenden sich kilometerlang in einem großen Bogen vom Marx-Engels-Platz bis zum Lustgarten dehnte. Auch wenn viele der anstehenden Menschen delegiert worden waren wie die Kinder in den Uniformen der Roten Pioniere, so fand sich doch eine hohe Zahl von Menschen ein, die aus eigenem Antrieb Abschied von ihrem langjährigen Parteichef und Staatsführer nehmen wollten.
Der Wert der neuen Ulbricht-Biographie, schreibt Carola Stern, liege darin, dass sie erklärlich mache, wie dieser unbeliebte, verschlossene, verkrampfte und ganz und gar unsympathische Funktionär der erste Mann der DDR werden konnte.
Eine Biographie Walter Ulbrichts zu schreiben, ist noch immer eine schwierige, ja undankbare Aufgabe. Denn der Mann scheint, obwohl sein Tod mehr als ein Vierteljahrhundert zurückliegt, in mehrfachem Sinne "unfassbar". Niemand hat bisher eine plausible Erklärung dafür gefunden, wieso ein biederer Funktionär ohne jegliches Charisma die Macht gewinnen und vor allem jahrzehntelang behaupten konnte. Noch weniger lässt sich "der Mensch" Ulbricht fassen. Streicht man den Politiker, bleibt nichts übrig. Darin sind sich die Zeitzeugen einig, ganz gleich, ob sie den führenden Kopf hassten oder bewunderten, ob sie vor ihm kuschten oder auch gelegentlich - erfolglos - gegen ihn aufbegehrten. Ulbricht führte kein Doppelleben, nicht ein einziges klitzekleines Hobby kann ihm nachgesagt werden, kein Skandälchen im sogenannten persönlichen Bereich trübte seinen Anspruch, ein Vorbild zu sein. Kurzum, der Mann war - alles in allem - ein freilich gefährlicher Langweiler.
Mario Franks Buch trägt zwar den Untertitel "Eine deutsche Biographie", in Wahrheit liefert er jedoch eine Geschichte der SED und der DDR, fokussiert auf die Zentralfigur Ulbricht und mit Kapiteln über die Vorgeschichte bis zum Jahre 1945. So eröffnet er das Buch mit einer nach Tagen geordneten Chronik über die Junikrise 1953, in der Ulbricht es mit viel Glück und wegen der Schwäche seiner Kontrahenten schaffte, den Volksaufstand siegreich zu überstehen. Erst danach beschreibt er die Wege und Umwege seines Helden chronologisch. Mittendrin, im Jahre 1958, unterbricht der Autor unmotiviert seine historisierende Darstellung und schiebt ein Kapitel von nur 25 Seiten ein, das er "Der Privatmann" betitelt. Mehr gibt das Material nicht her. "Das ist der Fakt", hätte Ulbricht gesagt.
Man erfährt wenig mehr, als dass Ulbricht ein militanter Nichtraucher und ein leidenschaftlicher Turner war, der auf Sportfesten demonstrativ vorturnte. Niemals kompensierte er politische Frustrationen, etwa durch Parteidisziplin erzwungene Anpassungen, mit alkoholischen Eskapaden. Der führende Genosse war ungesellig und misstrauisch. Dass sein Leibarzt sich Notizen machte, erregte schon Verdacht. Ob er sich die Details nicht merken könne, ohne sie aufzuschreiben, wurde der Doktor aggressiv gefragt.
Mario Frank nutzte die ihm offenstehenden Möglichkeiten optimal. Carola Stern, deren Buch aus dem Jahre 1964 ihm ein Maßstab war, hatte es seinerzeit leichter. Sie durfte spekulieren, denn Partei-, Staats- und Stasi-Archive waren unzugänglich. Ihre Ulbricht-Biographie bezog - trotz aller Sachlichkeit - ihre Spannung auch daraus, dass es sich um eine antistalinistische Streitschrift handelte.
Frank, der Nachgeborene mit westlicher Sozialisation, Jahrgang 1958, nutzt die Freiheit im Umgang mit den Quellen ohne Vorurteile. Seine Leistung besteht darin, dass er komplizierte Sachverhalte präzise und kompakt darzustellen vermag. Nur selten unterläuft es ihm, den Duktus der Akten in die eigene Sprache eindringen zu lassen.
Die Ulbricht zugeschriebenen Attribute sind mehrheitlich negativ. Er war kalt, abweisend, unbeliebt, verbissen, heimtückisch, selbstherrlich, linkisch, unbeholfen, verkrampft, angestrengt, skrupellos, nachtragend, herrisch und diktatorisch. Die KPD-Reichstagsabgeordnete Clara Zetkin nannte ihren Kollegen verschlagen und unaufrichtig. Niemals hat sich irgendjemand als persönlicher Freund Walter Ulbrichts geoutet. Als positive Eigenschaften werden genannt seine rasche Auffassungsgabe, sein enormer Fleiß, seine Neugier und sein leistungsfähiges Gedächtnis. Das diente freilich auch seiner Rachsucht. Wer ihm einmal dumm gekommen war, den bestrafte er bei passender Gelegenheit nachhaltig.
Aufgewachsen in einem eher kleinbürgerlichen als proletarischen Milieu, wurde Ulbricht kulturell von den Standards der Arbeiterbildungsvereine geprägt. Er hatte stets einschlägige Zitate von Goethe und Schiller parat, und er hörte im Silvesterkonzert gern Beethovens "Neunte", erfreute sich aber ebenso am Rennsteiglied des Suhler Volksmusikanten Herbert Roth. Als in Leipzig die anonymen Gräber seiner Eltern aufgefunden wurden, ließ er Goethes Mahnung "Edel sei der Mensch, hilfreich und gut" auf den Grabstein meißeln. Das hinderte ihn nicht daran, von den Gerichten der DDR per Weisung mit der Unterschrift "WU" Todesurteile gegen vermeintliche Klassenfeinde zu verlangen.
Zwischentöne kannte er nicht, diplomatisches Vorgehen war ihm fremd. Mario Frank meint, er habe den schweren Säbel dem feinen Florett vorgezogen. Treffender scheint mir, er habe in Diskussionen den Holzhammer und bei Aktionen die Streitaxt und das Hackebeil genommen.
In Fragebögen der Partei teilte Ulbricht nicht nur mit, er habe im Alter von vier Jahren jeder religiösen Überzeugung abgeschworen, er offenbarte dort auch als körperliche Schwäche ein Kehlkopfleiden, die Folge einer schweren Rachendiphterie, die den Achtzehnjährigen ereilte. Kein Wunder, dass der Reichstagsabgeordnete der KPD in Rededuellen mit dem Nazidemagogen Joseph Goebbels den Kürzeren zog. Auch in der DDR lachten die meisten über den ungelenken Redner mit der Fistelstimme, der sich verhaspelte, falsch betonte und, so oft es ging, ein rhetorisch fragendes "Ja" an seine Sätze dran hing. Den Jüngeren, in der telegenen Mediendemokratie Aufgewachsenen dürfte es schwerfallen, den dauerhaften Erfolg dieses komischen, eher unscheinbaren Politikers zu verstehen.
Ulbricht besaß jedoch einen untrüglichen Machtinstinkt. Er orientierte sich auf Stalin und die Kommunistische Internationale, ohne Zweifel, ohne Schwankungen. So wurde er aus der Sicht der Besatzungsmacht zum idealen Verwalter der sowjetischen Interessen in der Ostzone, die 1949 zur DDR umgestaltet wurde. Er sorgte dafür, dass kommunistische Westemigranten und Überlebende der Konzentrationslager nicht an die Schaltstellen gelangten. Dem fleißigen Virtuosen der Macht mit der robusten Konstitution konnte keiner an den Karren fahren. Seinen parteiinternen Kritikern fehlte der Mut, aufs Ganze zu gehen. Sogar den Ministerpräsidenten Grotewohl, den einstigen Sozialdemokraten, überwachte Mielkes Kontrollorgan. An ihn gerichtete Briefe wurden vor der Zustellung abgelichtet und Ulbricht zunächst zur Kenntnis gebracht.
Der Autor vertritt die These, dass Ulbrichts erfolgreichste Zeit zwischen 1958 und 1965 liegt. Er überschreibt das Kapitel "Der Diktator". Jetzt musste Ulbricht sich nicht mehr dem unberechenbar gefährlichen Stalin unterordnen. Mit Chruschtschow ließ sich diskutieren, ihn konnte man überreden und überzeugen, z.B. von der Notwendigkeit, die Mauer in Berlin zu bauen. Ulbricht versuchte Wirtschaftsreformen und computergesteuerte Modernisierungen - auf der Basis einer totalen Abhängigkeit von Rohstofflieferungen aus der Sowjetunion. Er täuschte sich über seine Möglichkeiten und wollte nicht wahrhaben, dass die Russen es nicht ertrugen, dass die einst besiegten Deutschen einen weit höheren Lebensstandard haben sollten als sie selbst. Leonid Breshnew, der neue Mann im Kreml, vertrug sich überhaupt nicht mehr mit dem altersstarrsinnigen Besserwisser in Ostberlin, der von einer "sozialistischen Menschengemeinschaft" schwafelte und sich damit brüstete, Lenin noch persönlich gekannt zu haben. Seine kleine DDR sollte ein Sozialismusmodell sein. Der Deutsche musste den Verstand verloren haben, wenn er glaubte, sein Ländchen sei lebensfähig ohne die Moskauer Basis. Als er eine eigensinnige, auf Verständigung mit Bonn zielende Deutschlandpolitik begann, manövrierte er sich endgültig ins Abseits. Erich Honecker intrigierte immer offener und stürzte mit Moskauer Rückendeckung den unberechenbaren Greis, der sich auch mit 80 Jahren kein Leben ohne aktive Politik vorstellen konnte. Der Nachfolger hatte von seinem Ziehvater gelernt, wie man skrupellos zum Zuge kommt.
Eine klassische Biographie hat Mario Frank nicht geschrieben, wohl auch nicht schreiben können. Geliefert hat er - im wesentlichen - eine detailgenau geschriebene politische Geschichte der DDR, zentriert um eine Hauptfigur, von der der Verfasser meint, sie sei immerhin der mächtigste Deutsche seiner Zeit gewesen.
Mario Frank: "Walter Ulbricht. Eine deutsche Biographie", Siedler Verlag, Berlin, 536 Seiten, DM 48,--. Am Ende ihrer Rezension in der "Zeit" schreibt Carola Stern:
Mag sein, dass ein Leser, der bisher wenig oder gar nichts über das Leben Walter Ulbrichts weiß ... mit Verwunderung und Erstaunen in jene fremde, kalte Apparatwelt blickt, die es heute in Europa nicht mehr gibt. Um sie ihm weit lebendiger vor Augen zu führen, als das bisher geschieht, sollten Autoren von Ulbricht-Biographien und ähnlichen Projekten vielleicht ab und an die Akten aus Parteiarchiven beiseite legen und zum Beispiel Shakespeare, Brecht und vielleicht auch Heiner Müller lesen.
Und bei Heiner Müller könnte er dann folgende fabelhafte Funktionsbestimmung des stalinistischen Funktionärs finden:
Du kannst von keinem Tiger verlangen, dass er mit der Gazelle Mitleid hat, die er frisst, weil er Hunger hat. Das ist die Entwicklung jetzt. Und dazwischen geschaltet, also zwischen dem Hunger des Tiers und dem Fressen der Gazelle, dazwischen geschaltet war der stalinistische Funktionär. Diese Zwischenschaltung ist jetzt weg. Jetzt bleibt nur noch der Hunger des Tigers und das schmackhafte Fleisch der Gazelle. Es ist eigentlich ein Zurückschrauben in die Tierwelt, also eine Vertierung, also eine Zurücknahme des Humanismus.