Sidi Moumen, ein Moloch am Rande der Millionenstadt Casablanca. Einst angelegt als Müllkippe. Heute leben geschätzt 500.000 Menschen hier. Die meisten in Sozialwohnungen, viele können sich noch nicht einmal das leisten. Sie hausen in Wellblechhütten ohne Strom und Wasser. Der Boden ist schmierig, Esel fressen schimmliges Brot, dazwischen spielen Kinder. Ein Ort, den viele lieber heute als morgen verlassen würden.
Die meisten träumen von Deutschland, erzählt Boubker Mazoz. Er leitet das "Sidi Moumen Kulturzentrum". Doch in Deutschland sind Marokkaner seit der Kölner Silvesternacht nicht mehr willkommen, weiß er. Viele der mutmaßlichen Täter, die vor dem Hauptbahnhof Frauen belästigt haben, kamen aus Casablanca. Ein Thema, auf das Mazoz nicht gut zu sprechen ist.
"Die Reaktion der Menschen hier? Sie haben sich einfach nur geschämt für das, was passiert ist. Sie haben sich geärgert über diese Leute. Einige der jungen Menschen hier haben ihren Plan, nach Europa zu gehen, verworfen. Denn sie haben sich gesagt: "Nein, wenn ich die schlechten Menschen, die ich hinter mir lassen will, dort wiedertreffe, dann bleibe ich lieber hier." Viele haben sich auch verletzt gefühlt, denn es geht um den Ruf unseres Landes. Und wir wollen nicht, dass eine Handvoll Krimineller den Ruf von 35 Millionen Menschen zerstört."
Verlockende Bilder von offenen Grenzen und Armen in Deutschland
Persönlich kenne er niemanden, der in Köln dabei war, erzählt Mazoz. Doch viele seiner Jungs, wie er sie nennt, hätten im Herbst 2015 die Bilder von offenen Grenzen und Armen in Deutschland im Fernsehen gesehen und sich auf den Weg gemacht – mit einer Strategie. "Zuerst lernen sie den syrischen Dialekt und viel über das Land. Wir hatten zu der Zeit einen Witz: Wenn die Jungs von der türkischen Polizei verhaftet werden, werden sie gefragt, woher kommst du? – Aus Marokko. – Und was machst du hier? – Ich bin syrischer Flüchtling."
Mazoz führt gern Gäste durch das Kulturzentrum, zeigt stolz, wen er schon alles um Geld angebettelt hat. Fotos von ihm mit Christine Lagarde oder Hillary Clinton hängen an der Wand. "Ich bin professioneller Bettler." Der schlichte Bau hat zwei Etagen, die Räume sind bunt gestaltet, jeder ist voll mit Kindern und Jugendlichen, die Mathe, Englisch oder Gesang lernen. Alles nach ihrem regulären Schultag. Sie wissen, sie haben wenig Chancen im Leben, ohne Bildung haben sie ganz verloren.
"Wenn du minderjährig bist, dann kümmern sie sich um dich"
Mazoz führt auf den Hof des Zentrums, auf dem ein ausrangierter gelber Schulbus steht. Ein Geschenk aus den USA. Mazoz begrüßt die zwei Jungs, die im Bus sitzen und mit ihren Handys spielen. "Das ist Abdeslam. Er ist nach Deutschland gegangen. Er war ein syrischer Flüchtling." (lacht) Abdeslam, der seinen Nachnamen nicht nennen will, schwört, dass er sich immer nur als Marokkaner ausgegeben hat: "Nein, immer nur Marokkaner!"
Sein Abenteuer begann im November 2015. Er hat seinen Roller verkauft, ist in die Türkei geflogen, mit dem Boot nach Griechenland übergesetzt, den Rest ist er Zug gefahren oder gelaufen. Der 21-Jährige hat es immerhin bis nach Frankfurt geschafft. "In Frankfurt habe ich gesagt, ich bin minderjährig. Wenn du minderjährig bist, dann kümmern sie sich um dich. Nicht wie bei Volljährigen. Sie haben mich ins Hotel gebracht, haben mich gefragt, ob ich Klamotten haben will. Dann haben sie mir gegeben, was ich brauchte. Ganz ehrlich, sie haben sich sehr um mich gekümmert. Ich bin jeden Tag in die Schule gegangen. Hab Fußball gespielt, sie haben mir Fußballschuhe und T-Shirts gegeben."
Überall freundlicher Empfang - bis zur Silvesternacht
Doch dann musste er in ein anderes Heim. Weil es ihm dort nicht gefallen hat, ist er abgehauen, ist durch ganz Europa gereist. Überall sei er freundlich empfangen worden. Bis zur Silvesternacht. "Als ich zurück in Deutschland war, ist die Polizei um vier Uhr morgens zu uns ins Heim gekommen. Ich hatte nie Handschellen um. Bis zu diesem Moment. Sie haben unsere Telefone durchsucht, Fingerabdrücke genommen, um zu checken, ob wir in Köln waren. Aber dann haben sie gesehen, dass ich Silvester in Brüssel verbracht habe."
Nun ist Abdeslam wieder zurück in Sidi Moumen. Seine Mutter sei schwer krank geworden, deswegen sei er wieder nach Marokko gekommen, so seine elegante Ausrede. Klingt besser als "Ich hab's nicht geschafft". Trotz solcher Geschichten träumen die jungen Menschen hier nach wie vor von Europa, erzählt Mazoz:
Visum für Deutschland nun in weiter Ferne
"Weil sie die Hoffnung hier verloren haben. Viele bemühen sich jetzt sehr um eine Ausbildung hier, weil sie gehört haben, wie schwer es ist in Europa. Von denen, die zurückkommen und die Wahrheit erzählen. Und ich sage es immer wieder: Wenn du hier keinen Erfolg hast, wirst du nirgendwo Erfolg haben. Du musst hier anfangen. Aber wenn die Leute hier rumsitzen und warten, dass was passiert, wird sich nichts ändern."
Auch Abdeslam will es noch einmal versuchen. Diesmal legal mit Papieren. Wie er das anstellen will, weiß er noch nicht. Als 21-jähriger lediger Marokkaner ohne Ausbildung ein Visum für Deutschland zu bekommen, ist seit der Kölner Silvesternacht nahezu unmöglich.