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Martina Renner (Die Linke)
"Flüchtlinge wollen weg aus dem Horror in Ungarn"

In Ungarn hat sich die Lage der Flüchtlinge am Abend wieder zugespitzt. Aus dem Lager Röszke an der Grenze zu Serbien brachen mehrere hundert Menschen aus und liefen zu einer Autobahn. Die Zustände in Röszke seien dramatisch, sagte die Linken-Politikerin Martina Renner im DLF nach einem Besuch dort. "Wegzugehen, ohne helfen zu können, war furchtbar."

Martina Renner im Gespräch mit Daniel Heinrich |
    Polizisten in Uniform und zum Teil mit Mundschutz stehen aufgebrachten Flüchtlingen gegenüber. Ein Mann schreit die Polizisten an, hält ein Kind auf dem Arm.
    Ungarische Polizisten stoppen Flüchtlinge außerhalb des Lagers Röszke. (AFP / CSABA SEGESVARI)
    Renner beschrieb die Situation der Flüchtlinge in dem Lager an der serbisch-unhaltbaren Grenze als "Horror". Die Menschen harrten dort seit Tagen unter freiem Himmel aus - ohne Zelte, ohne Decken, auch nachts, wenn es kalt werde. Für hunderte Menschen gebe es nur vier Toiletten. Versorgt würden die Flüchtlinge fast ausschließlich durch freiwillige Helfer, betonte die Linken-Bundestagsabgeordnete im Deutschlandfunk. Von den ungarischen Behörden bekämen sie morgens und abends jeweils nur ein belegtes Brötchen. "Die Menschen haben Hunger. Dort wegzugehen, ohne helfen zu können, war furchtbar", sagte Renner.
    Gestern Abend brachen dann mehrere hundert Flüchtlinge aus dem Lager aus und liefen zu einer Autobahn, um zu Fuß nach Budapest zu gelangen. Die Polizei ging laut Renner mit Schlagstöcken und Pfefferspray gegen die Menschen vor, um sie zurückzubringen. Viele Flüchtlinge schafften es dennoch bis zur Autobahn, die daraufhin vorübergehend gesperrt wurde. Manche Migranten ließen sich mit Bussen zurück ins Lager bringen, andere harrten am Rande der Fahrbahnen aus.
    Die Linken-Politikerin Renner forderte die Politik auf, mehr Druck auf die ungarische Regierung zu machen. "Ungarn gehört zur EU und hat sich an die Menschenrechte zu halten."

    Das Interview in voller Länge:
    Daniel Heinrich: Am Telefon bin ich jetzt verbunden mit Martina Renner, Mitglied im Innenausschuss des Bundestages, und sie war im Flüchtlingslager in Röszke an der ungarisch-serbischen Grenze. Frau Renner, das was die Orbán-Regierung da in den letzten Tagen losgelassen hat, das lässt ja nichts Gutes erahnen. Wie stellt sich denn die Situation vor Ort dar?
    Martina Renner: In der letzten Stunde hat sich die Situation dramatisch noch mal entwickelt. Mehrere hundert Flüchtlinge sind aus dem, man muss es Freiluftlager nennen, ausgebrochen. Sie harren dort schon seit Tagen aus, ohne Zelte, ohne Decken, müssen nachts unter Kälte übernachten, es gibt eine Versorgung lediglich durch Flüchtlingshelfer und Helferinnen, kein Arzt, kein Dolmetscher, und in dieser unerträglichen Situation haben sie versucht, Richtung Autobahn zu kommen, Richtung dann Budapest, Österreich, Deutschland. Das ist ihr Ziel, weg aus diesem Horror hier in Ungarn. Die Polizei hat massiv reagiert mit Schlagstockeinsatz, Pfefferspray, Straßensperren sind errichtet worden. Es waren unter denen, die sich auf den Weg gemacht haben, viele Familien, die Kinder haben geweint, das war wirklich dramatisch, aber wenn man die Situation in dem Lager dort gesehen hat durchaus verständlich.
    Heinrich: Jetzt beschreiben Sie die Zustände dort ja als dramatisch. Was für einen Sinn, was für einen Zweck soll dieses Lager denn eigentlich erfüllen?
    !Renner:!! Dieses Lager liegt an einer Stelle an der serbisch-ungarischen Grenze, an der ein kurzer Durchlass durch den Stacheldrahtzaun ist, der ansonsten die ungarische Grenze hermetisch abriegelt. Das ist NATO-Draht, den kann man nicht so einfach überwinden, der ist sehr stabil, man kann sich dort schwer verletzen, wenn man versucht, durch diesen NATO-Draht hindurchzukommen. Aber es gibt eine Stelle entlang einer Zugverbindung an den Gleisen, an der stündlich Menschen auf ungarisches Staatsgebiet kommen, und an diesem Durchlass befindet sich dieses Lager auf einem Acker, muss man sagen, unter freiem Himmel. Die Polizei hat dieses Lager abgesperrt. Dort gibt es für mehrere hundert Menschen vier Toiletten, wie gesagt kaum Zelte, das sind alles spenden, und immer wieder dann Hilfslieferungen von Privaten, die in ihren Pkw Essen, Brote, Babynahrung, Kleidung, Isomatten, aber auch Hygieneartikel und Ähnliches dort hinbringen. Viele Menschen haben Monate an Flucht hinter sich, aus Syrien, aus dem Irak, dem Iran, Afghanistan, und sie wollen so schnell wie möglich weg, dahin wo es eine humanitäre Flüchtlingsaufnahme gibt.
    "Familien werden getrennt"
    Heinrich: Sie haben gerade die Polizei schon angesprochen, die da gegen die Flüchtlinge vorgegangen ist. Was sagen die denn, warum die da sind?
    Renner: Viele Beamte, die dort ganz konkret an diesem Lager im Einsatz sind, wissen selbst nicht, was mit den Flüchtlingen weiter passiert. Sie können sich auch kaum verständigen mit den Flüchtlingen. Wenige der Polizisten sprechen Englisch. Sie versuchen, die Flüchtlinge dort davon abzuhalten, was dann heute passiert ist, sich alleine auf den Weg zu machen, und zum anderen verteilen sie immer wieder Flüchtlinge auf Busse, die dort ankommen nach einem sehr undurchsichtigen System, wer dort einsteigen kann. Familien werden getrennt, das ist sehr dramatisch dann auch für die Angehörigen, und man kommt in ein zweites Lager, in ein sogenanntes Zeltlager. Dort sind die Menschen dann mehrere Wochen und es heißt, dann ist das auch eine Durchgangsstation. Und ein drittes Lager in Röszke schließt sich an, wo schließlich die Registratur stattfinden soll. In diesem zweiten Lager war ich heute auch und wir standen an einem doppelten Zaun, auch wieder mit NATO-Draht, haben mit den Menschen gesprochen und die haben nur eines gesagt: Wir haben Hunger! Wir haben Hunger! Wir kriegen morgens ein Brötchen mit Belag und Abends ein Brötchen mit Belag, das ist alles. Wir brauchen Wasser, wir brauchen Obst, wir brauchen Medikamente für die Kinder, es gibt keinen Arzt. Dort wegzugehen, ohne helfen zu können war furchtbar!
    "Man muss Druck machen auf Ungarn"
    Heinrich: Wie kann man den Menschen denn am schnellsten helfen?
    Renner: Ich glaube, es gibt jetzt zwei Möglichkeiten. Zum einen ganz akut müssen Leute weiter hier herkommen. Es sind hier Helfer und Helferinnen, man koordiniert sich, man spricht sich ab über die sozialen Medien, über Twitter und Facebook, tauscht Telefonnummern aus, aus vielen Ländern, aus Ungarn selbst, und das ist hier für die Helfer besonders hart, weil hier drohen harte Strafen, wenn man Flüchtlingen hilft. Sie hören im Hintergrund vielleicht die Polizeisirenen, ich bin immer noch unweit des Ortes dort. Dann aber auch aus Österreich, Deutschland, wir haben auch Schweden heute getroffen, die hier waren, die ihr Auto ausgeladen haben mit Keksen, mit Säften, mit Obst. Das ist eine große Welle der Hilfsbereitschaft aus anderen europäischen Ländern, aber auch aus Ungarn selbst. Aber man kann auch Druck machen. Man muss Druck machen und deutlich sagen, Ungarn gehört zur EU. Ungarn hat sich an die europäische Konvention, aber auch an die UN-Regeln zur Aufnahme von Flüchtlingen, an die Menschenrechte zu halten. Da muss es auch Druck geben auf die Orbán-Regierung. Und zum zweiten: Wir müssen weiter den Menschen die Möglichkeit geben, hier rauszukommen Richtung Österreich, Richtung Deutschland, Richtung den skandinavischen Ländern, Belgien, Niederlande, da wo die Flüchtlinge eine menschenwürdige Aufnahme erwartet.
    Heinrich: Die Flüchtlinge sind jetzt ja offiziell in Europa. Haben Sie den Eindruck, dass die überhaupt in Ungarn bleiben wollen?
    Renner: Nein, die wollen nicht in Ungarn bleiben. Das ist klar. Ich meine, was haben sie denn erlebt? Sie haben die Grenze zu Europa überwunden, die wie gesagt hier mit Draht gesichert ist, und was finden sie vor? Zustände, die absolut unwürdig sind. Das sind Menschen, wir haben gesprochen heute, die kommen aus Syrien. Die haben in Damaskus gelebt, die haben studiert, sprechen mehrere Sprachen und hier ist eine Situation, dass sie quasi in einem Freiluftgewahrsam auf einem Acker auf Pappe nächtigen müssen. Die wollen eine Perspektive in Europa, deswegen sind sie hier. Sie haben ihr Land aus Gründen verlassen wegen der politischen Situation dort, dort gibt es Bürgerkrieg, dort gibt es politische Verfolgung, und niemand von denen will hier in Ungarn bleiben. Sie sagen alle, so schnell weg wie es geht, und deswegen nehmen sie zum Beispiel hier diese Repressionen in Kauf, wenn sie zum Beispiel versuchen, wie eben gerade das Lager zu verlassen, dass sie dann von der Polizei mit Gewalt daran gehindert werden.
    "Die Menschen lassen sich nicht durch einen Zaun aufhalten"
    Heinrich: Frau Renner, kurz zum Schluss. Sie haben das Loch in diesem Stacheldrahtzaun schon angesprochen. Gibt es denn da Pläne der ungarischen Behörden, das auch noch zu schließen?
    Begleitet von einem Polizeiauto sind zahlreiche Menschen zu Fuß auf der Autobahn unterwegs.
    Flüchtlinge auf der Autobahn nach Budapest (AFP/Csaba Segesvari)
    Renner: Wenn man nun den Verlautbarungen aus der Orbán-Regierung glaubt, dann soll wohl binnen der nächsten Zeit dieses Stelle geschlossen werden. Es gibt ja hier auch eine Gesetzesänderung, dass ab dann binnen sieben Tagen nicht mehr die Polizei, sondern das Militär eingesetzt wird, um diese Lager dann zu bewachen. Wir haben auch Militär vor Ort schon gesehen. Dann haben wir natürlich die Situation, dass auf serbischem Gebiet, wo weitere Hunderte von Flüchtlingen ja wohl warten auf ihre Weiterreise nach Europa, sich die Situation verschärfen wird. Aber zum anderen glaube ich auch, dass die Menschen sich nicht durch einen Zaun aufhalten lassen werden, so dass wir dann eine Situation haben, wo wir, glaube ich, noch mal deutlicher ein Signal brauchen auch von den Verantwortungsebenen in Europa, die sagen, so ein Grenzregime - möglicherweise ist hier sogar von Schießbefehl in Ungarn die Rede - das widerspricht unseren europäischen Werten, und dann muss man auch mit Ungarn an der Situation die Auseinandersetzung suchen.
    Heinrich: Martina Renner, Mitglied im Innenausschuss des Bundestages. Sie ist an der serbisch-ungarischen Grenze und berichtet über die dramatische Situation dort vor Ort. Frau Renner, vielen, vielen Dank für das Gespräch.