Sprecherin: Heute: Maschine Stopp. Das Aus für Schwarz-Grün in Hamburg.
Peter Kapern: Samstags abends, da kann man ins Kino gehen oder ins Konzert oder ins Restaurant oder einfach auf der Couch liegen bleiben – oder eine Koalition beerdigen. Für die letzte Variante haben sich gestern zu später Stunde die Hamburger Grünen entschieden und das heute mitgeteilt. Paukenschlag an der Elbe, Maschinen auf Stopp. Schwarz-Grün in der Hansestadt ist am Ende.
Seit vor 100 Tagen Ole von Beust von Bord ging, wollte es mit der schwarz-grünen Landesregierung nicht mehr so recht klappen. Beide Parteien litten darunter, dass ihnen in einer Volksabstimmung ihr wichtigstes Projekt, die Schulreform, um die Ohren gehauen worden war. Seither herrschte politische Tristesse an der Elbe. Ein Senator nach dem anderen quittierte den Dienst, zuletzt Finanzsenator Carsten Frigge am vergangenen Mittwoch.
Einspieler Jens Kerstan: Deshalb hat die GAL-Fraktion gestern Nacht beschlossen, dass wir die schwarz-grüne Koalition beenden wollen und Neuwahlen anstreben. Für uns war das eine schwere Entscheidung, für Hamburg ist es aber die richtige.
Kapern: So Jens Kerstan, Fraktionschef der GAL, heute Mittag in Hamburg. Das Ende einer Koalition, die als Modellprojekt der Nachlagerzeit mit großen Hoffnungen verbunden worden war.
Verena Herb: Es ist keine Liebesheirat, die die Schwarzen mit den Grünen 2008 eingehen. Ole von Beust, damals Erster Bürgermeister der Hansestadt, erklärte einst, dass die Koalition:
Einspieler Ole von Beust: nicht nur eine Liebe zu den Grünen ist, sondern auch die simple Erkenntnis, dass die FDP in Hamburg heillos zerstritten ist und darum im Moment keine ernsthafte Option ist, eine große Koalition erst recht keine Wunschoption ist.
Herb: Damals lassen sich beide Seiten auf Kompromisse ein, um den Versuch des ersten schwarz-grünen Bündnisses auf Länderebene zu wagen.
Herb: Kaum verstehen kann es die grüne Basis. Als Ende September 2008 ihre grüne Umweltsenatorin Anja Hajduk das Kraftwerk Moorburg genehmigt, war doch die Verhinderung eben jenes Kohlekraftwerks eines der wichtigsten Wahlversprechen der Grünen. Hajduk kann nicht anders. Sie muss rein rechtlich, nicht ideologisch entscheiden. Die Grünen raufen sich zusammen, das Bündnis wird fortgesetzt, und fortan regiert es sich auf Augenhöhe mit großem Respekt voreinander. Das historische Gängeviertel im Zentrum der Hansestadt, das von Künstlern besetzt und so vor dem Abriss bewahrt wird, die immer wieder aufkommenden Querelen um die HSH Nordbank, die explorierenden Kosten bei der Elbphilharmonie – mit Harmonie und guter Laune umschifft Schwarz-Grün jede Kippe. Bei einzelnen lokalen Themen gehen zwar die Meinungen auseinander:
Einspieler von Beust: manche Dinge liefen nicht rund. – Was sagt der Engländer: Shit happens …
Herb: … mag sich Bürgermeister Ole von Beust wohl gedacht haben, gerade im Hinblick auf die Schulreform. Sechs Jahre längeres gemeinsames Lernen – die Primarschule spaltet die Stadt. Die Volksinitiative "Wir wollen lernen" sammelt Unterschriften gegen die Pläne des CDU-GAL-Senats und erzwingt einen Volksentscheid.
Einspieler Redner auf Demonstration: Können wir das schaffen? Ja, wir schaffen das! Noch mal!
Herb: Die Gegner gewinnen, die Schulreform scheitert. Doch der Tag des Volksentscheids wird überlagert von einem ganz anderen Thema. 18. Juli, 17:42 Uhr:
Einspieler von Beust: Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen mitteilen, dass ich heute dem Präsidenten der Hamburgischen Bürgerschaft meinen Rücktritt vom Amt des Ersten Bürgermeisters der Freien Hansestadt Hamburg mit Wirkung zum 25. August 2010 mitgeteilt habe. Die biblische Erkenntnis, alles hat seine Zeit, gilt auch für Politiker.
Herb: Ole von Beust geht. Nach 32 Jahren zieht er sich aus der Politik zurück. Sein Nachfolger soll CDU-Innensenator Christoph Ahlhaus werden. Der Neue gibt noch am selben Abend ein Statement ab: Es klingt wie ein Appell an den grünen Partner.
Einspieler Christoph Ahlhaus: Schwarz-Grün hat in den vergangenen gut zwei Jahren eine engagierte Arbeit für Hamburg geleistet. Diese möchte ich fortsetzen.
Herb: 25. August 2010.
Einspieler Lutz Mohaupt: Es wurden abgegeben 121 Stimmen. Von diesen waren Ja-Stimmen 70.
Herb: Der Jubel bei der CDU ist groß, als Bürgerschaftspräsident Lutz Mohaupt das Ergebnis verkündet. 70 Ja-Stimmen für Christoph Ahlhaus, das sind zwei Stimmen mehr als die schwarz-grüne Koalition aus sich vereinen kann.
Herb: Christoph Ahlhaus will ein Bürgermeister zum Anfassen sein und die Herzen der Hamburger gewinnen, schließlich ist er …
Einspieler Ahlhaus: … ein Mensch wie du und ich mit Stärken und mit Schwächen, …
Herb: … der die Ärmel hochkrempelt, zupackt und zuhört. Doch scheint er auf niemanden gehört zu haben, als es um die Berufung seiner Senatoren geht. Die zwei Neuen in der Regierungsriege sind alles andere als unumstritten. Der neue Wirtschaftssenator, Ian Karan, ein Unternehmer mit Spitznamen "Containerkönig", frisiert seinen Lebenslauf; und der neue Kultursenator Reinhard Stuth wurde just ein Jahr vorher vom damaligen Regierungschef gefeuert, um dann als Chef an die Spitze der Behörde zurückzukehren. Das macht es nicht besser, denn als vor knapp sechs Wochen die CDU-GAL-Regierungsmannschaft ihre Sparbeschlüsse vorlegt, steht besonders Stuth in der Kritik.
Herb: Christoph Ahlhaus greift ein, macht die Kultur zur Chefsache. Doch so langsam wird deutlich: Beim Bündnis bröckelt es. Letzten Mittwoch dann der Höhepunkt der Pannenserie: In der Bürgerschaftssitzung gibt Finanzsenator Carsten Frigge überraschend seinen Rücktritt bekannt. Gegen den Christdemokraten läuft in Rheinland-Pfalz ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts auf illegale Parteienfinanzierung. Vom Rücktritt des Finanzsenators hat die GAL übrigens 15 Minuten vor Beginn der Bürgerschaftssitzung erfahren. So ähnlich dürften die Grünen es heute auch mit dem Bündnispartner CDU gehandhabt haben. Die Entscheidung, die Koalition aufzukündigen und Neuwahlen zu forcieren, dürfte Bürgermeister Christoph Ahlhaus und seinen Parteivorsitzenden Frank Schira wohl am Morgen ziemlich überrascht haben.
Kapern: Verena Herb aus Hamburg über das Ende einer wundervollen Freundschaft. Für die SPD wird Olaf Scholz in Hamburg als Spitzenkandidat antreten, er will Rot-Grün. Für die CDU zieht Christoph Ahlhaus in den Wahlkampf, er will im Amt bleiben. Das Ende des schwarz-grünen Honeymoons hatte sich angekündigt, nicht nur in Hamburg. Vor einigen Wochen hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel ihren schwarz-grünen Schmusekurs beendet und zur Attacke auf die Grünen geblasen. Seither vergeht kein Tag mehr, ohne dass Unionspolitiker bissige Bemerkungen über die Grünen in die Mikrofone giften. Der Herbst der Entscheidungen wurde so auch zum Herbst der Scheidungen.
Frank Capellan: Ganz offensichtlich geht Angela Merkel aufs Ganze. Die CDU-Vorsitzende setzt auf Lagerwahlkampf, Schwarz-Gelb gegen Rot-Grün. Spätestens seit sie sich entschloss, die Laufzeiten für Deutschlands Atomkraftwerke mit durchschnittlich zwölf Jahren deutlicher zu verlängern, als manchen in ihrer Partei lieb ist, dürfte ihr klar geworden sein, dass für schwarz-grüne Flirtereien künftig kein Platz mehr sein wird. Das Aufkündigen des Atomkonsenses war nicht zuletzt ein Affront gegen den eigenen Umweltminister, denn Norbert Röttgen gilt bis heute als Christdemokrat, der für schwarz-grüne Gedankenspiele durchaus zu haben ist. Der Mann, der inzwischen zum Chef des mächtigen Landesverbandes Nordrhein-Westfalen aufgestiegen ist und der als ambitionierter Anwärter auf die Nachfolge von Angela Merkel gilt, weiß sehr wohl, dass sich die Christdemokraten im sich etablierenden Fünf-Parteien-System alle Machtoptionen offenhalten müssen. Zwar hatte er in der Castor-Debatte auch seinen grünen Vorgänger Jürgen Trittin scharf attackiert, doch anders als die Kanzlerin meidet er Generalangriffe auf den möglichen Partner der Zukunft. Die Grünen sind vom Gegner zum Konkurrenten geworden, erklärte Röttgen kürzlich, wohl wissend, wie sehr die von der SPD manchmal als Latte-Macchiato-Partei verspotteten Grünen längst auch in der bürgerlichen Mitte wildern. Es ist ja nicht so, dass die Union nur noch eine Koalitionsoption hat, betont Röttgen. – Eine Reaktion auf Angela Merkel, die Mitte des Monats auf dem CDU-Parteitag in Karlsruhe auffallend deutlich geworden war.
Einspieler Angela Merkel: Die Alternative zur christlich-liberalen Bundesregierung ist keine erneute große Koalition. Die Alternative ist auch keine schwarz-grüne Koalition oder Jamaika. Das sind Illusionen, das sind Hirngespinste!
Capellan: Hirngespinste. Mit Blick auf ihren an der Fünf-Prozent-Hürde dahinsiechenden Koalitionspartner sind das überaus mutige Worte. Die immer wieder vorsichtig moderierende und strategisch taktierende Kanzlerin scheint sich aus der Reserve locken zu lassen. Ihr Kalkül: Angriffe auf die Grünen könnten im bürgerlichen Lager verfangen und auch den jetzigen Partner, die FDP wieder stärken. Seit die Grünen in den Umfragen mitunter sogar die SPD übertrumpfen, wird Merkels Ton von Woche zu Woche schärfer. Hörbeispiel aus dem Bundestag, Generaldebatte am vergangenen Mittwoch:
Einspieler Merkel: Und Sie sind natürlich für den Sport, wer wollte das nicht, wahrscheinlich auch für Sport ins Grundgesetz, aber wenn es um Olympische Spiele in Deutschland geht, dann sind Sie natürlich dagegen!
Capellan: Die Sozialdemokraten finden als Gegner kaum noch statt, Merkel schießt sich allein auf die Dagegen-Partei ein. Die Grünen behindern den Fortschritt in Deutschland, es geht um die Zukunftsfähigkeit unseres Landes, erklärt die Regierungschefin, als sie im September im Bundestag Stuttgart 21 und das Nein der Grünen zum unterirdischen Bahnhof zum Entsetzen mancher Parteifreunde in Berlin auch zu ihrem Thema macht und der Diskussion damit zu bundespolitischer Bedeutung verhilft.
Einspieler Merkel: Die Landtagswahl im nächsten Jahr, die wird genau die Befragung der Bürger über die Zukunft Baden-Württembergs sein, über Stuttgart 21 und viele andere Projekte mehr, die für die Zukunft dieses Landes gelten.
Capellan: Merkel unterlässt nichts, um das konservative Profil der Union zu schärfen. Mit den Grünen scheint sie nun ihr Ventil gefunden zu haben. Und die Sozialdemokraten frohlocken: Sie sehen die Grünen wieder fest an ihrer Seite. Schwarz-Grün ist tot, erklärt SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles.
Einspieler Andrea Nahles: Die Weichen sind jetzt auf Rot-Grün gestellt, nicht nur in Hamburg.
Capellan: Auffällig die Schärfe in Merkels Abgrenzung: Das ausschließliche Ja zu Schwarz-Gelb wird zum Va-banque-Spiel für Angela Merkel.
Kapern: Frank Capellan aus Berlin. Das nächste Jahr: ein Superwahljahr. Sieben neue Landesparlamente werden gewählt, die Umfragen blasen derzeit den Grünen-Rückenwind in die Segel. In Berlin und Baden-Württemberg könnte die Partei sogar erstmals den Regierungschef stellen. Kurzum, auch wenn die SPD derzeit nicht glänzt – gemeinsam mit den starken Grünen könnte es mancherorts durchaus für klare rot-grüne Mehrheiten reichen. Stichwort klare Mehrheiten: Da war doch noch was? Genau, Nordrhein-Westfalen. Seit dem Sommer rot-grün-regiert, aber nur von einer Minderheitsregierung. Die scheint es sich in ihrer Malaise gemütlich eingerichtet zu haben. Regiert wird nicht besonders viel, aber gestützt auf willfährige Mehrheitsbeschaffer der Linken wurde das Ganze flugs zur Tugend erklärt. Ob Rot-Grün an Rhein und Ruhr jetzt Morgenluft wittert und sich einreiht in den Wahlreigen? Leicht, meint Jürgen Zurheide, ist der Weg von der Minderheits- zur Mehrheitsregierung jedenfalls nicht.
Jürgen Zurheide: Egal, mit wem man zurzeit in Düsseldorf redet, stets gibt es mehr als eine Wahrheit. Spricht man zum Beispiel mit Vertretern von CDU, FDP oder der Linken – offiziell schimpfen sie auf die rot-grüne Minderheitsregierung und wenig später verlangen sie lautstark Neuwahlen. Wenn sie diese Pflichtübung absolviert haben und man etwas vertraulicher miteinander diskutiert, heißt es unisono: Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass wir in unseren jeweiligen Fraktionen keine Mehrheit für diesen Schritt haben. Bei der Regierung ist es ähnlich, allerdings mit umgekehrten Vorzeichen: Weder Ministerpräsidentin Hannelore Kraft noch ihre grüne Kopilotin Sylvia Löhrmann nehmen das Wort Neuwahlen gerne in den Mund, sie halten stattdessen wortreiche Vorträge über ihre Koalition der Einladung und zählen anschließend auf, dass ihr Bündnis noch keine wichtige Abstimmung verloren hat und sie bisher sogar erstaunlich unterschiedliche Mehrheiten im Parlament gefunden haben. Das ist zwar richtig, aber eben nur die halbe Wahrheit. Mindestens die Grünen lassen überall rasch durchblicken, dass sie sich Neuwahlen vorstellen können, und sind anschließend ehrlich genug zuzugeben, dass das natürlich auch mit den blendenden Umfragewerten zu tun hat, die ihnen an Rhein und Ruhr noch einmal einen satten Zuwachs gegenüber ihren zwölf Prozentpunkten vom 9. Mai versprechen. Die Sozialdemokraten sperren sich auch nicht grundsätzlich gegen ein erneutes Votum der Wähler, sind allerdings zurückhaltender als die Grünen. Wer das alles auf sich wirken lässt, kommt zu dem Schluss: Neuwahlen in Nordrhein-Westfalen könnten aus einer Minderheitsregierung durchaus eine Mehrheitsregierung machen. Und trotzdem ist ein baldiger Urnengang unwahrscheinlich, denn den Weg dahin müsste der Landtag freimachen mit 91 Stimmen. Aber wer gibt schon gerne seinen soeben eingestrichenen Lottogewinn, nämlich das Landtagsmandat mit seinen prächtigen Diäten, freiwillig wieder ab? In fast allen Fraktionen sitzen viele Neuparlamentarier, die sich inzwischen gut im Landtag eingerichtet haben. Die stimmen selbst in einer offenen Abstimmung nicht ohne Not für die Aufgabe ihres Mandates, dazu braucht es gewichtige politische Gründe, und die sehen viele Landtagsmitglieder im Moment eben nicht. Die Minderheitsregierung wird für den Nachtragshaushalt noch im Dezember eine Mehrheit bekommen, das scheint festzustehen. Die politisch spannende Frage wird danach sein, ob man auch den Haushalt für 2011 durch das Parlament bringt. Bisher spricht allerdings mehr dafür als dagegen.
Kapern: So weit Jürgen Zurheide. Und bei uns im Studio Frank Decker, Politikwissenschaftler von der Uni Bonn. Herr Decker, lesen Sie für uns doch die Zeichen der Zeit! Hat sich Schwarz-Grün erledigt?
Frank Decker: Schwarz-Grün hat sich überhaupt nicht erledigt, weder in den Bundesländern noch auf der Bundesebene. Denn im Fünf-Parteien-System gibt es keine sicheren Mehrheiten mehr für die beiden Wunschkoalitionen, Schwarz-Gelb oder Rot-Grün. Und da bleibt dann eben Schwarz-Grün als Alternative zu einer großen Koalition, die ja von Union und SPD gerade nicht als Wunschbündnis betrachtet wird. Und gerade für die Union ist es eine komfortable Situation, wenn Sie sich dann möglicherweise den Koalitionspartner aussuchen kann.
Kapern: Aber was will Angela Merkel dann erreichen mit ihrem brachialen Kurs gegen die Grünen, den wir seit einigen Wochen beobachten?
Decker: Die Kräfteverhältnisse haben sich ja geändert. Nicht mehr nur die SPD, sondern auch die Grünen avancieren zum Hauptgegner der Union. Sie gewinnen Wähler aus dem Unionslager, und die möchte die Union natürlich zurückgewinnen. Eine stärkere Polarisierung gegenüber den Grünen schließt aber nicht aus, dass man trotzdem am Ende, wenn es keine anderen Möglichkeiten gibt, mit den Grünen koaliert.
Kapern: Das kann aber doch nur gehen, wenn jetzt über Sachfragen hinaus nicht unheimlich viel Porzellan zerschlagen wird? Denn Koalitionen sind ja auch immer angewiesen auf Stimmung und Atmosphäre. Wie weit kann die Union da gegen die Grünen noch gehen mit solchen Brandmarkungen wie "Dagegen-Partei", wie lange können sich die Grünen das noch gefallen lassen und trotzdem zur Verfügung stehen?
Decker: Das ist sicherlich ein richtiger Punkt. Aber nehmen wir mal folgendes Beispiel: Atompolitik, Verlängerung der Laufzeiten. Natürlich weiß die Union: Wenn sie mit den Grünen regiert, wird sie das wieder zurücknehmen müssen, das wird der Preis sein, den die Grünen verlangen. Aber die SPD in einer möglichen großen Koalition wird denselben Preis verlangen. Darauf muss sich die Union einstellen. Richtig ist allerdings auch: Es darf keine übertriebene Polemik geben und es darf insbesondere nicht unter die Gürtellinie geschlagen werden. Also eine Koalition muss immer auch personell verträglich möglich sein. Darauf wird Angela Merkel allerdings achten, ich bin mir ziemlich sicher, dass die Union förmlich eine Koalition mit den Grünen vor der nächsten Bundestagswahl nicht ausschließen wird.
Kapern: Nun haben sich besonders erfreut gezeigt heute FDP-Politiker wie der Wirtschaftsminister Brüderle und Generalsekretär Lindner. Sie freuen sich über das Ende von Schwarz-Grün in Hamburg. Zu Recht?
Decker: Ich denke, der FDP bleibt in der aktuellen Situation gar nichts anderes übrig. Jetzt müssen ja die Reihen geschlossen werden auf beiden Seiten, aber die FDP ist der Hauptverlierer in diesem Spiel. Denn sie könnte in eine Situation kommen, wo sie am Ende gar nicht mehr benötigt wird. Und das geben die aktuellen Umfragen ja her. Also für eine neue schwarz-gelbe Mehrheit gibt es keine Anzeichen. Es ist auch nicht sehr wahrscheinlich, dass sich die Union darauf einlassen wird, eine Jamaika-Koalition zu bilden, gerade nach den Erfahrungen jetzt im Saarland. Es könnte also dann am Ende eine Regierung herauskommen ohne die FDP.
Kapern: Letzte Frage, ich sagte es vorhin, Superwahljahr 2011: Wie viele Niederlagen kann Angela Merkel eigentlich politisch überleben?
Decker: Sie hat ja jetzt schon die Mehrheit im Bundesrat verloren, also von daher wird sich gar nicht mehr so viel verändern können. Aber ich denke, dass die Wahl in Baden-Württemberg, das ist ja ein Stammland der Union, wird eine Schlüsselwahl sein. Wenn es dort eine rot-grüne Mehrheit gibt, könnte es auch eine Führungsdiskussion in der Union geben.
Kapern: Schwarz-Grün ist am Ende, aber nicht erledigt. Frank Decker war das, Politikwissenschaftler von der Universität Bonn. Danke für den Abstecher in unser Studio!
Peter Kapern: Samstags abends, da kann man ins Kino gehen oder ins Konzert oder ins Restaurant oder einfach auf der Couch liegen bleiben – oder eine Koalition beerdigen. Für die letzte Variante haben sich gestern zu später Stunde die Hamburger Grünen entschieden und das heute mitgeteilt. Paukenschlag an der Elbe, Maschinen auf Stopp. Schwarz-Grün in der Hansestadt ist am Ende.
Seit vor 100 Tagen Ole von Beust von Bord ging, wollte es mit der schwarz-grünen Landesregierung nicht mehr so recht klappen. Beide Parteien litten darunter, dass ihnen in einer Volksabstimmung ihr wichtigstes Projekt, die Schulreform, um die Ohren gehauen worden war. Seither herrschte politische Tristesse an der Elbe. Ein Senator nach dem anderen quittierte den Dienst, zuletzt Finanzsenator Carsten Frigge am vergangenen Mittwoch.
Einspieler Jens Kerstan: Deshalb hat die GAL-Fraktion gestern Nacht beschlossen, dass wir die schwarz-grüne Koalition beenden wollen und Neuwahlen anstreben. Für uns war das eine schwere Entscheidung, für Hamburg ist es aber die richtige.
Kapern: So Jens Kerstan, Fraktionschef der GAL, heute Mittag in Hamburg. Das Ende einer Koalition, die als Modellprojekt der Nachlagerzeit mit großen Hoffnungen verbunden worden war.
Verena Herb: Es ist keine Liebesheirat, die die Schwarzen mit den Grünen 2008 eingehen. Ole von Beust, damals Erster Bürgermeister der Hansestadt, erklärte einst, dass die Koalition:
Einspieler Ole von Beust: nicht nur eine Liebe zu den Grünen ist, sondern auch die simple Erkenntnis, dass die FDP in Hamburg heillos zerstritten ist und darum im Moment keine ernsthafte Option ist, eine große Koalition erst recht keine Wunschoption ist.
Herb: Damals lassen sich beide Seiten auf Kompromisse ein, um den Versuch des ersten schwarz-grünen Bündnisses auf Länderebene zu wagen.
Herb: Kaum verstehen kann es die grüne Basis. Als Ende September 2008 ihre grüne Umweltsenatorin Anja Hajduk das Kraftwerk Moorburg genehmigt, war doch die Verhinderung eben jenes Kohlekraftwerks eines der wichtigsten Wahlversprechen der Grünen. Hajduk kann nicht anders. Sie muss rein rechtlich, nicht ideologisch entscheiden. Die Grünen raufen sich zusammen, das Bündnis wird fortgesetzt, und fortan regiert es sich auf Augenhöhe mit großem Respekt voreinander. Das historische Gängeviertel im Zentrum der Hansestadt, das von Künstlern besetzt und so vor dem Abriss bewahrt wird, die immer wieder aufkommenden Querelen um die HSH Nordbank, die explorierenden Kosten bei der Elbphilharmonie – mit Harmonie und guter Laune umschifft Schwarz-Grün jede Kippe. Bei einzelnen lokalen Themen gehen zwar die Meinungen auseinander:
Einspieler von Beust: manche Dinge liefen nicht rund. – Was sagt der Engländer: Shit happens …
Herb: … mag sich Bürgermeister Ole von Beust wohl gedacht haben, gerade im Hinblick auf die Schulreform. Sechs Jahre längeres gemeinsames Lernen – die Primarschule spaltet die Stadt. Die Volksinitiative "Wir wollen lernen" sammelt Unterschriften gegen die Pläne des CDU-GAL-Senats und erzwingt einen Volksentscheid.
Einspieler Redner auf Demonstration: Können wir das schaffen? Ja, wir schaffen das! Noch mal!
Herb: Die Gegner gewinnen, die Schulreform scheitert. Doch der Tag des Volksentscheids wird überlagert von einem ganz anderen Thema. 18. Juli, 17:42 Uhr:
Einspieler von Beust: Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen mitteilen, dass ich heute dem Präsidenten der Hamburgischen Bürgerschaft meinen Rücktritt vom Amt des Ersten Bürgermeisters der Freien Hansestadt Hamburg mit Wirkung zum 25. August 2010 mitgeteilt habe. Die biblische Erkenntnis, alles hat seine Zeit, gilt auch für Politiker.
Herb: Ole von Beust geht. Nach 32 Jahren zieht er sich aus der Politik zurück. Sein Nachfolger soll CDU-Innensenator Christoph Ahlhaus werden. Der Neue gibt noch am selben Abend ein Statement ab: Es klingt wie ein Appell an den grünen Partner.
Einspieler Christoph Ahlhaus: Schwarz-Grün hat in den vergangenen gut zwei Jahren eine engagierte Arbeit für Hamburg geleistet. Diese möchte ich fortsetzen.
Herb: 25. August 2010.
Einspieler Lutz Mohaupt: Es wurden abgegeben 121 Stimmen. Von diesen waren Ja-Stimmen 70.
Herb: Der Jubel bei der CDU ist groß, als Bürgerschaftspräsident Lutz Mohaupt das Ergebnis verkündet. 70 Ja-Stimmen für Christoph Ahlhaus, das sind zwei Stimmen mehr als die schwarz-grüne Koalition aus sich vereinen kann.
Herb: Christoph Ahlhaus will ein Bürgermeister zum Anfassen sein und die Herzen der Hamburger gewinnen, schließlich ist er …
Einspieler Ahlhaus: … ein Mensch wie du und ich mit Stärken und mit Schwächen, …
Herb: … der die Ärmel hochkrempelt, zupackt und zuhört. Doch scheint er auf niemanden gehört zu haben, als es um die Berufung seiner Senatoren geht. Die zwei Neuen in der Regierungsriege sind alles andere als unumstritten. Der neue Wirtschaftssenator, Ian Karan, ein Unternehmer mit Spitznamen "Containerkönig", frisiert seinen Lebenslauf; und der neue Kultursenator Reinhard Stuth wurde just ein Jahr vorher vom damaligen Regierungschef gefeuert, um dann als Chef an die Spitze der Behörde zurückzukehren. Das macht es nicht besser, denn als vor knapp sechs Wochen die CDU-GAL-Regierungsmannschaft ihre Sparbeschlüsse vorlegt, steht besonders Stuth in der Kritik.
Herb: Christoph Ahlhaus greift ein, macht die Kultur zur Chefsache. Doch so langsam wird deutlich: Beim Bündnis bröckelt es. Letzten Mittwoch dann der Höhepunkt der Pannenserie: In der Bürgerschaftssitzung gibt Finanzsenator Carsten Frigge überraschend seinen Rücktritt bekannt. Gegen den Christdemokraten läuft in Rheinland-Pfalz ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts auf illegale Parteienfinanzierung. Vom Rücktritt des Finanzsenators hat die GAL übrigens 15 Minuten vor Beginn der Bürgerschaftssitzung erfahren. So ähnlich dürften die Grünen es heute auch mit dem Bündnispartner CDU gehandhabt haben. Die Entscheidung, die Koalition aufzukündigen und Neuwahlen zu forcieren, dürfte Bürgermeister Christoph Ahlhaus und seinen Parteivorsitzenden Frank Schira wohl am Morgen ziemlich überrascht haben.
Kapern: Verena Herb aus Hamburg über das Ende einer wundervollen Freundschaft. Für die SPD wird Olaf Scholz in Hamburg als Spitzenkandidat antreten, er will Rot-Grün. Für die CDU zieht Christoph Ahlhaus in den Wahlkampf, er will im Amt bleiben. Das Ende des schwarz-grünen Honeymoons hatte sich angekündigt, nicht nur in Hamburg. Vor einigen Wochen hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel ihren schwarz-grünen Schmusekurs beendet und zur Attacke auf die Grünen geblasen. Seither vergeht kein Tag mehr, ohne dass Unionspolitiker bissige Bemerkungen über die Grünen in die Mikrofone giften. Der Herbst der Entscheidungen wurde so auch zum Herbst der Scheidungen.
Frank Capellan: Ganz offensichtlich geht Angela Merkel aufs Ganze. Die CDU-Vorsitzende setzt auf Lagerwahlkampf, Schwarz-Gelb gegen Rot-Grün. Spätestens seit sie sich entschloss, die Laufzeiten für Deutschlands Atomkraftwerke mit durchschnittlich zwölf Jahren deutlicher zu verlängern, als manchen in ihrer Partei lieb ist, dürfte ihr klar geworden sein, dass für schwarz-grüne Flirtereien künftig kein Platz mehr sein wird. Das Aufkündigen des Atomkonsenses war nicht zuletzt ein Affront gegen den eigenen Umweltminister, denn Norbert Röttgen gilt bis heute als Christdemokrat, der für schwarz-grüne Gedankenspiele durchaus zu haben ist. Der Mann, der inzwischen zum Chef des mächtigen Landesverbandes Nordrhein-Westfalen aufgestiegen ist und der als ambitionierter Anwärter auf die Nachfolge von Angela Merkel gilt, weiß sehr wohl, dass sich die Christdemokraten im sich etablierenden Fünf-Parteien-System alle Machtoptionen offenhalten müssen. Zwar hatte er in der Castor-Debatte auch seinen grünen Vorgänger Jürgen Trittin scharf attackiert, doch anders als die Kanzlerin meidet er Generalangriffe auf den möglichen Partner der Zukunft. Die Grünen sind vom Gegner zum Konkurrenten geworden, erklärte Röttgen kürzlich, wohl wissend, wie sehr die von der SPD manchmal als Latte-Macchiato-Partei verspotteten Grünen längst auch in der bürgerlichen Mitte wildern. Es ist ja nicht so, dass die Union nur noch eine Koalitionsoption hat, betont Röttgen. – Eine Reaktion auf Angela Merkel, die Mitte des Monats auf dem CDU-Parteitag in Karlsruhe auffallend deutlich geworden war.
Einspieler Angela Merkel: Die Alternative zur christlich-liberalen Bundesregierung ist keine erneute große Koalition. Die Alternative ist auch keine schwarz-grüne Koalition oder Jamaika. Das sind Illusionen, das sind Hirngespinste!
Capellan: Hirngespinste. Mit Blick auf ihren an der Fünf-Prozent-Hürde dahinsiechenden Koalitionspartner sind das überaus mutige Worte. Die immer wieder vorsichtig moderierende und strategisch taktierende Kanzlerin scheint sich aus der Reserve locken zu lassen. Ihr Kalkül: Angriffe auf die Grünen könnten im bürgerlichen Lager verfangen und auch den jetzigen Partner, die FDP wieder stärken. Seit die Grünen in den Umfragen mitunter sogar die SPD übertrumpfen, wird Merkels Ton von Woche zu Woche schärfer. Hörbeispiel aus dem Bundestag, Generaldebatte am vergangenen Mittwoch:
Einspieler Merkel: Und Sie sind natürlich für den Sport, wer wollte das nicht, wahrscheinlich auch für Sport ins Grundgesetz, aber wenn es um Olympische Spiele in Deutschland geht, dann sind Sie natürlich dagegen!
Capellan: Die Sozialdemokraten finden als Gegner kaum noch statt, Merkel schießt sich allein auf die Dagegen-Partei ein. Die Grünen behindern den Fortschritt in Deutschland, es geht um die Zukunftsfähigkeit unseres Landes, erklärt die Regierungschefin, als sie im September im Bundestag Stuttgart 21 und das Nein der Grünen zum unterirdischen Bahnhof zum Entsetzen mancher Parteifreunde in Berlin auch zu ihrem Thema macht und der Diskussion damit zu bundespolitischer Bedeutung verhilft.
Einspieler Merkel: Die Landtagswahl im nächsten Jahr, die wird genau die Befragung der Bürger über die Zukunft Baden-Württembergs sein, über Stuttgart 21 und viele andere Projekte mehr, die für die Zukunft dieses Landes gelten.
Capellan: Merkel unterlässt nichts, um das konservative Profil der Union zu schärfen. Mit den Grünen scheint sie nun ihr Ventil gefunden zu haben. Und die Sozialdemokraten frohlocken: Sie sehen die Grünen wieder fest an ihrer Seite. Schwarz-Grün ist tot, erklärt SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles.
Einspieler Andrea Nahles: Die Weichen sind jetzt auf Rot-Grün gestellt, nicht nur in Hamburg.
Capellan: Auffällig die Schärfe in Merkels Abgrenzung: Das ausschließliche Ja zu Schwarz-Gelb wird zum Va-banque-Spiel für Angela Merkel.
Kapern: Frank Capellan aus Berlin. Das nächste Jahr: ein Superwahljahr. Sieben neue Landesparlamente werden gewählt, die Umfragen blasen derzeit den Grünen-Rückenwind in die Segel. In Berlin und Baden-Württemberg könnte die Partei sogar erstmals den Regierungschef stellen. Kurzum, auch wenn die SPD derzeit nicht glänzt – gemeinsam mit den starken Grünen könnte es mancherorts durchaus für klare rot-grüne Mehrheiten reichen. Stichwort klare Mehrheiten: Da war doch noch was? Genau, Nordrhein-Westfalen. Seit dem Sommer rot-grün-regiert, aber nur von einer Minderheitsregierung. Die scheint es sich in ihrer Malaise gemütlich eingerichtet zu haben. Regiert wird nicht besonders viel, aber gestützt auf willfährige Mehrheitsbeschaffer der Linken wurde das Ganze flugs zur Tugend erklärt. Ob Rot-Grün an Rhein und Ruhr jetzt Morgenluft wittert und sich einreiht in den Wahlreigen? Leicht, meint Jürgen Zurheide, ist der Weg von der Minderheits- zur Mehrheitsregierung jedenfalls nicht.
Jürgen Zurheide: Egal, mit wem man zurzeit in Düsseldorf redet, stets gibt es mehr als eine Wahrheit. Spricht man zum Beispiel mit Vertretern von CDU, FDP oder der Linken – offiziell schimpfen sie auf die rot-grüne Minderheitsregierung und wenig später verlangen sie lautstark Neuwahlen. Wenn sie diese Pflichtübung absolviert haben und man etwas vertraulicher miteinander diskutiert, heißt es unisono: Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass wir in unseren jeweiligen Fraktionen keine Mehrheit für diesen Schritt haben. Bei der Regierung ist es ähnlich, allerdings mit umgekehrten Vorzeichen: Weder Ministerpräsidentin Hannelore Kraft noch ihre grüne Kopilotin Sylvia Löhrmann nehmen das Wort Neuwahlen gerne in den Mund, sie halten stattdessen wortreiche Vorträge über ihre Koalition der Einladung und zählen anschließend auf, dass ihr Bündnis noch keine wichtige Abstimmung verloren hat und sie bisher sogar erstaunlich unterschiedliche Mehrheiten im Parlament gefunden haben. Das ist zwar richtig, aber eben nur die halbe Wahrheit. Mindestens die Grünen lassen überall rasch durchblicken, dass sie sich Neuwahlen vorstellen können, und sind anschließend ehrlich genug zuzugeben, dass das natürlich auch mit den blendenden Umfragewerten zu tun hat, die ihnen an Rhein und Ruhr noch einmal einen satten Zuwachs gegenüber ihren zwölf Prozentpunkten vom 9. Mai versprechen. Die Sozialdemokraten sperren sich auch nicht grundsätzlich gegen ein erneutes Votum der Wähler, sind allerdings zurückhaltender als die Grünen. Wer das alles auf sich wirken lässt, kommt zu dem Schluss: Neuwahlen in Nordrhein-Westfalen könnten aus einer Minderheitsregierung durchaus eine Mehrheitsregierung machen. Und trotzdem ist ein baldiger Urnengang unwahrscheinlich, denn den Weg dahin müsste der Landtag freimachen mit 91 Stimmen. Aber wer gibt schon gerne seinen soeben eingestrichenen Lottogewinn, nämlich das Landtagsmandat mit seinen prächtigen Diäten, freiwillig wieder ab? In fast allen Fraktionen sitzen viele Neuparlamentarier, die sich inzwischen gut im Landtag eingerichtet haben. Die stimmen selbst in einer offenen Abstimmung nicht ohne Not für die Aufgabe ihres Mandates, dazu braucht es gewichtige politische Gründe, und die sehen viele Landtagsmitglieder im Moment eben nicht. Die Minderheitsregierung wird für den Nachtragshaushalt noch im Dezember eine Mehrheit bekommen, das scheint festzustehen. Die politisch spannende Frage wird danach sein, ob man auch den Haushalt für 2011 durch das Parlament bringt. Bisher spricht allerdings mehr dafür als dagegen.
Kapern: So weit Jürgen Zurheide. Und bei uns im Studio Frank Decker, Politikwissenschaftler von der Uni Bonn. Herr Decker, lesen Sie für uns doch die Zeichen der Zeit! Hat sich Schwarz-Grün erledigt?
Frank Decker: Schwarz-Grün hat sich überhaupt nicht erledigt, weder in den Bundesländern noch auf der Bundesebene. Denn im Fünf-Parteien-System gibt es keine sicheren Mehrheiten mehr für die beiden Wunschkoalitionen, Schwarz-Gelb oder Rot-Grün. Und da bleibt dann eben Schwarz-Grün als Alternative zu einer großen Koalition, die ja von Union und SPD gerade nicht als Wunschbündnis betrachtet wird. Und gerade für die Union ist es eine komfortable Situation, wenn Sie sich dann möglicherweise den Koalitionspartner aussuchen kann.
Kapern: Aber was will Angela Merkel dann erreichen mit ihrem brachialen Kurs gegen die Grünen, den wir seit einigen Wochen beobachten?
Decker: Die Kräfteverhältnisse haben sich ja geändert. Nicht mehr nur die SPD, sondern auch die Grünen avancieren zum Hauptgegner der Union. Sie gewinnen Wähler aus dem Unionslager, und die möchte die Union natürlich zurückgewinnen. Eine stärkere Polarisierung gegenüber den Grünen schließt aber nicht aus, dass man trotzdem am Ende, wenn es keine anderen Möglichkeiten gibt, mit den Grünen koaliert.
Kapern: Das kann aber doch nur gehen, wenn jetzt über Sachfragen hinaus nicht unheimlich viel Porzellan zerschlagen wird? Denn Koalitionen sind ja auch immer angewiesen auf Stimmung und Atmosphäre. Wie weit kann die Union da gegen die Grünen noch gehen mit solchen Brandmarkungen wie "Dagegen-Partei", wie lange können sich die Grünen das noch gefallen lassen und trotzdem zur Verfügung stehen?
Decker: Das ist sicherlich ein richtiger Punkt. Aber nehmen wir mal folgendes Beispiel: Atompolitik, Verlängerung der Laufzeiten. Natürlich weiß die Union: Wenn sie mit den Grünen regiert, wird sie das wieder zurücknehmen müssen, das wird der Preis sein, den die Grünen verlangen. Aber die SPD in einer möglichen großen Koalition wird denselben Preis verlangen. Darauf muss sich die Union einstellen. Richtig ist allerdings auch: Es darf keine übertriebene Polemik geben und es darf insbesondere nicht unter die Gürtellinie geschlagen werden. Also eine Koalition muss immer auch personell verträglich möglich sein. Darauf wird Angela Merkel allerdings achten, ich bin mir ziemlich sicher, dass die Union förmlich eine Koalition mit den Grünen vor der nächsten Bundestagswahl nicht ausschließen wird.
Kapern: Nun haben sich besonders erfreut gezeigt heute FDP-Politiker wie der Wirtschaftsminister Brüderle und Generalsekretär Lindner. Sie freuen sich über das Ende von Schwarz-Grün in Hamburg. Zu Recht?
Decker: Ich denke, der FDP bleibt in der aktuellen Situation gar nichts anderes übrig. Jetzt müssen ja die Reihen geschlossen werden auf beiden Seiten, aber die FDP ist der Hauptverlierer in diesem Spiel. Denn sie könnte in eine Situation kommen, wo sie am Ende gar nicht mehr benötigt wird. Und das geben die aktuellen Umfragen ja her. Also für eine neue schwarz-gelbe Mehrheit gibt es keine Anzeichen. Es ist auch nicht sehr wahrscheinlich, dass sich die Union darauf einlassen wird, eine Jamaika-Koalition zu bilden, gerade nach den Erfahrungen jetzt im Saarland. Es könnte also dann am Ende eine Regierung herauskommen ohne die FDP.
Kapern: Letzte Frage, ich sagte es vorhin, Superwahljahr 2011: Wie viele Niederlagen kann Angela Merkel eigentlich politisch überleben?
Decker: Sie hat ja jetzt schon die Mehrheit im Bundesrat verloren, also von daher wird sich gar nicht mehr so viel verändern können. Aber ich denke, dass die Wahl in Baden-Württemberg, das ist ja ein Stammland der Union, wird eine Schlüsselwahl sein. Wenn es dort eine rot-grüne Mehrheit gibt, könnte es auch eine Führungsdiskussion in der Union geben.
Kapern: Schwarz-Grün ist am Ende, aber nicht erledigt. Frank Decker war das, Politikwissenschaftler von der Universität Bonn. Danke für den Abstecher in unser Studio!