Die Schüler der Klasse 1c der Tübinger Dorfackerschule denken angestrengt nach: Teils sitzen, teils brüten sie über den Mathe-Arbeitsblättern, die sie in dieser Stunde lösen sollen. Rechnen im Zahlenraum bis 20 ist angesagt.
"Das ist halt schwer, das hier zu rechnen, weil ganz schön kompliziert ist das halt!" findet Janosch. Und damit ist er nicht allein: Joel hat seine liebe Not mit der Aufgabe: Drei plus wie viel ist zehn?
Er nimmt drei Finger zu Hilfe.
Joel zählt ab, wie viele Finger ihm noch auf zwei volle Hände fehlen - nämlich sieben – und schreibt sein Ergebnis hin.
"Geht das mit den Fingern einfacher? - "Ja."
Jule ist schon einen Schritt weiter. Sie kennt die Zahlen und Rechnungen bis zehn so gut, dass sie das Ergebnis auswendig weiß:
"Ich mach’s auch manchmal mit den Händen, aber grade, da wusste ich es wegen den Zehnerfreunden. Wir mussten die Zehnerfreunde auswendig lernen und dann hab ich einfach eine sieben hingeschrieben, weil ich die Zehnerfreunde noch auswendig kann."
Über den Zehner hinaus braucht es neue Strategien
Die meisten Kinder nehmen am Anfang die Finger ganz automatisch beim Rechnen zu Hilfe, sagt Lehrerin Sabine Lenz.
"Ich glaube, Finger sind schon so ein bisschen immer verpönt. Ich finde es jetzt überhaupt nicht schlimm, wenn die Finger nehmen, weil sie haben sie immer bei sich. Und sie zeigen ja von Anfang an ihr Alter zum Beispiel mit den Fingern und wenn man es ihnen verbietet, dann sind sie auch immer ganz beschämt, wenn sie sie dann doch nehmen – und das finde ich dann eher schlecht, wenn sie das dann so versteckt machen. Dann sollen sie die Finger nehmen, aber wir zeigen schon dann auch immer nochmal eine andere Methode, also grade auch eine Rechenmaschine, wie man damit umgehen kann, damit man einfach den Überblick hat bis zur 20 oder bis zur 100."
Spätestens wenn die Rechnung über zehn und damit über die zehn Finger hinaus geht, brauchen die Kinder neue Strategien.
Dieser Schritt vom bloßen Abzählen mit den Fingern zum Beherrschen einer abstrakten Menge, ist für Erstklässler ein großer und wichtiger Schritt. Die Voraussetzung für vieles, was in der Mathematik später kommt.
Deshalb sei es natürlich das Ziel, irgendwann ohne Finger auszukommen, betont Sabine Lenz:
"Also wir gucken schon, dass wir irgendwann die Finger wegkriegen irgendwie. Dass sie das auch im Kopf einfach ein bisschen haben. Wir sagen auch oft, die Kinder sollen sich die Hände einfach vorstellen im Kopf, dass sie das so mitrechnen oder sehen."
Sabine Lenz, die seit zwölf Jahren Grundschul-Fachlehrerin für Mathematik ist, hat weder im Studium noch im Seminar Anleitung dazu bekommen, wie mit den Fingern umgegangen werden soll. Genau wie ihr Kollege Michael Mühleisen, der erst seit diesem Schuljahr Mathe-Unterricht gibt.
"Also da wurde mit gar nichts beigebracht – ist es gut oder schlecht."
Lenz:
Lenz:
"Man kann immer sich nur Meinungen holen – wie machst du’s denn? – und letztendlich muss man sich sein eigenes zusammenbrauen, wie man das den Kindern beibringen möchte."
In der Wissenschaft ist man sich uneinig darüber, ob Kinder mit den Fingern rechnen sollten oder nicht, sagt Korbinian Möller. Er ist Professor am Tübinger Leibniz-Institut für Wissensmedien und erforscht die Grundlagen von numerischen Fertigkeiten.
"Es gibt zwei Standpunkte, die relativ unterschiedlich sind und sich auch widersprechen: zum einen die Mathe-Didaktik, die weitgehend noch immer argumentiert, dass Finger und grade, dass der zählende Einsatz von Fingern im Mathe-Unterricht kritisch zu sehen ist, weil er – kurz gesagt – den Kindern im Weg steht, wenn es darum geht, abstraktere Repräsentationen von Zahlen zu entwickeln. Auf der anderen Seite steht so ein bisschen die neuropsychologische, die psychologische, die kognitive Forschung, die in verschiedensten Studien zeigen konnte, dass es positive Assoziationen zwischen dem Einsatz von Fingern und der Rechenleistung, also den numerischen Fähigkeiten gibt."
Aus eigenen Studien weiß Möller: Die Kinder suchen von ganz allein nach der besten Strategie für eine Rechenaufgabe – und lösen sich irgendwann von den Fingern, die eben auf 10 begrenzt sind.
Sind Finger-Rechner die besseren Rechner?
Wenn sie es nicht tun, sei das nicht die Schuld der Finger, sondern ein Anzeichen für eine Rechenschwäche. Auch in anderen Ländern sprächen die Ergebnisse der Wahrnehmungs-Forschung eindeutig für den Einsatz der Finger:
"Es gibt Kollegen aus Australien, die gezeigt haben, dass die Kinder, die fingerbasierte Strategien zum initialen Rechnen einsetzen, auch die besseren Rechner sind."
Im angelsächsischen Raum gebe es gar keine aufgeregten Debatten um Mathe und Finger. Finger seien gut, erklärt Möller, weil sie weit mehr seien als nur ein technisches Hilfsmittel. Kinder, die mit den Fingern rechnen, Fingerspiele machen, laut abzählen oder Zahlen zeigen, lernen Mathematik über verschiedene Kanäle: sie sehen, hören und spüren die Zahlen – so prägen sie sich besser ein.
Das sei vermutlich so, weil Zahlen eine relativ neue Erfindung des Menschen sind – und es im Gehirn keine Bereiche gibt, die dafür zuständig sind.
"Und darum gibt es verschiedene theoretische Überlegungen, die dahin gehen, dass Zahlenverarbeitung bestimmte Bereiche im Gehirn überschreibt sozusagen oder mit nutzt, die im Ursprung eigentlich für was anderes zuständig waren."
In MRT-Untersuchungen sieht man laut Möller, dass beim Rechnen Hirn-Areale aktiv sind, die für die Fingermotorik zuständig sind.
Für Möller alles klare Argumente für den Einsatz der Finger bei den ersten kindlichen Rechenschritten. Und dafür, die Finger-Übungen im Mathe-Unterricht sogar gezielt auszubauen und regelmäßig Fingerspiele mit den Kindern zu machen.