Es war der wohl spektakulärste Prominentenprozess der vergangenen Jahre. Das erstinstanzliche Verfahren gegen den Wettermoderator Jörg Kachelmann geht zu Ende, ob zugunsten oder zu Lasten des Angeklagten, wird Anfang kommender Woche das Landgericht Mannheim entscheiden. Die Beweislage ist nicht eindeutig.
"In dem Fall Kachelmann wissen es die beiden Beteiligten, das mutmaßliche Opfer und der mutmaßliche Täter, was da abgelaufen ist."
Sagt Marianne Wichert-Quoirin, seit über 30 Jahren Gerichtsreporterin, unter anderem für den Kölner Stadtanzeiger.
"Das Andere sind ja alles Hilfskonstruktionen. Es gibt keine eindeutigen Spuren, an denen nicht herumgerüttelt werden kann, keine eindeutig forensischen Spuren. Daher kommen die ganzen Glaubwürdigkeitsgutachten ins Spiel, mit denen man versucht, sich der Wahrheit zu nähern."
Hat Jörg Kachelmann eine langjährige Freundin mit einem Messer bedroht und vergewaltigt? Eine schwerwiegende und schwierige Frage, auf die das Landgericht Mannheim nun eine Antwort finden soll. Wem glaubt es eher: dem prominenten Fernsehmann, der in seinem Privatleben nach Zeugenaussagen Frauen offenbar regelmäßig belogen und betrogen hat?
Oder seiner langjährigen Freundin, dem möglichen Opfer, die - wie ebenfalls vor Gericht erklärt wurde - gegenüber der Polizei mehrfach die Unwahrheit gesagt hat? Reichen die Beweise für eine Verurteilung überhaupt aus? Kachelmanns Verteidigerin Andrea Combé hält die Aussage, die die Nebenklägerin geleistet hat, für nicht überzeugend und plädierte deshalb gemeinsam mit ihrem Kollegen Johann Schwenn auf Freispruch:
"Die Erfordernisse der höchstrichterlichen Rechtsprechung an eine belastende Aussage, wenn es die Aussage-gegen-Aussage-Konstellation gibt, sind: Aussagekonstanz, Detailreichtum, Widerspruchsfreiheit und vieles mehr. Wenn all diese Umstände nicht vorliegen, dann kann man auf diese belastende Aussage keinen Schuldspruch stützen."
Schwierig ist der "Fall Kachelmann" nicht nur aufgrund der unsicheren Beweislage, sondern auch, weil er schon vor Prozesseröffnung ein Medienspektakel ersten Ranges war. Einzelne Journalisten und Blätter positionierten sich für und gegen den Angeklagten, zitierten aus Ermittlungsakten, interviewten weitere Geliebte, die später als Zeuginnen vor Gericht erscheinen sollten. Kaum ein Aspekt aus dem Privatleben des prominenten Angeklagten blieb unbeleuchtet.
Beobachter sprachen bald von einem Nord-Süd-Gefälle. Die renommierten Gerichtsreporterinnen von "Spiegel" und "Zeit" aus Hamburg warfen Fragen nach der Glaubwürdigkeit des mutmaßlichen Opfers und nach möglichen Verfahrensfehlern auf, die Redaktion der Zeitschrift "Bunte" in München setzte Freundinnen des Wettermoderators auf den Titel und bezahlte sie für ihre Aussagen. Eine typische Schlagzeile: "Auch ich war ein Opfer von Jörg Kachelmann".
Auch die Bild-Zeitung mischte mit. Für sie berichtete die Feministin Alice Schwarzer aus dem Gerichtssaal. In ihren Kommentaren zum Prozess erklärte sie immer wieder, ein Urteil sei noch nicht gefällt. Gleichzeitig ließ ihre Wortwahl wenig Zweifel daran, dass ihre Sympathien der möglicherweise Vergewaltigten gehören. Alice Schwarzer konstatierte im September 2010 in der Bild-Zeitung eine ihrer Meinung nach einseitige Berichterstattung zuungunsten der Nebenklägerin. Sie schrieb wortspielerisch von den Kachelmann-Freundinnen in den Medien und meinte damit erkennbar andere Gerichtsreporterinnen. "Manche Blätter", so Zitat Schwarzer, "zögerten nicht zu suggerieren, die vielfach betrogene und frustrierte Ex-Freundin wolle sich nur rächen an dem Armen".
Thomas Leif, Chefreporter des SWR und Vorsitzender der Journalistenvereinigung Netzwerk Recherche, beanstandet die Prozessberichterstattung ebenfalls, bezieht Alice Schwarzer aber in seine Kritik mit ein. Für ihn haben viele Journalisten im "Fall Kachelmann" in einer historisch zu nennenden Weise eklatant versagt - und unter dem Deckmantel des öffentlichen Interesses die Persönlichkeitsrechte von Jörg Kachelmann verletzt:
"Man kann sagen, hier hat auch ein Kampf stattgefunden - zwischen der Bunten als People-Magazin und der sogenannten Qualitätspresse. Und wenn sie sehen, in welcher Weise Alice Schwarzer in der Bild-Zeitung alle journalistischen Grundsätze der vorsichtigen Berichterstattung, der begründeten Argumentation und der sorgfältig gestützten Analyse missachtet und verachtet hat, dann ist mir kaum ein Fall bekannt, der in diese Richtung geht. Und die Bunte hat sich ganz klar auf eine Seite geschlagen und im Grunde Informationen auch bezahlt und wollte damit eine große Story haben. Das ist in dieser Dimension einmalig, und durch die starke Position der Bild-Zeitung ist meiner Ansicht nach auch dieses Thema in die anderen, seriöseren Medien gewandert und hat da ebenfalls das Feld erobert."
In der ARD-Sendung Panorama betont Alice Schwarzer, sie halte sich stets an die Grundsätze journalistischer Objektivität.
Wird ein solcherart polarisiertes öffentliches Klima auch das Gerichtsurteil beeinflussen? Zu entscheiden haben drei Berufsrichter und zwei Schöffen. Doch wie auch immer der Richterspruch lauten wird - zwei Verlierer gibt es schon jetzt: Jörg Kachelmann, aber auch die ehemalige Freundin, das mögliche Opfer.
Denn nicht nur der Ruf des Wettermoderators ist irreparabel beschädigt, auch die Identität der Nebenklägerin ist für jeden über das Internet recherchierbar. Ihr Ansehen wird - egal wie der Prozess ausgeht - unter dem Verdacht leiden, sie habe ihren Ex-Geliebten aus Rache vor Gericht gezogen. Auch die Staatsanwaltschaft hat in ihrem Plädoyer die besonderen Umstände des Prozesses gewürdigt. Sie stellte für Kachelmann eine vergleichsweise milde Strafforderung. Ihr Sprecher Andreas Grossmann erläuterte:
"Wir sind aufgrund der Wirkungen, die die Person des Angeklagten, ob sie wollte oder nicht, eben verspüren musste, durch die monatelange intensive Berichterstattung in allen Medien, die zum Teil auch rechtswidrig war, zu dem Ergebnis gekommen, dass in der Gesamtschau dieser Regelstrafrahmen nicht mehr angemessen ist, sind zum minderschweren Fall Strafrahmen eins bis zehn Jahre gekommen und haben dann, unter Berücksichtigung natürlich auch erschwerender Umstände wie der Tatsache, dass das Opfer nach wie vor medizinisch behandelt werden muss, dass sie sich in Todesangst befand, sind wir dann zur mittleren Strafe von vier Jahren und drei Monaten in unserem Antrag gekommen."
Fast vier Monate hat Jörg Kachelmann im letzten Jahr schon in U-Haft verbracht. Die bekannte Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen vom Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" bezeichnete diese ungewöhnlich lange Zeit als Ergebnis eines Prominentenmalus, wie er sich schon zuvor bei den Ermittlungen gegen andere bekannte Persönlichkeiten gezeigt habe:
"Ich glaube, dass die Menschen, die in der Öffentlichkeit und auch von der Öffentlichkeit leben, den Preis, einen hohen Preis, bezahlen, dass eben ihr Privatleben nicht ihr Privatleben ist und man nicht sagen kann: Also bis hierher ja, soll die Öffentlichkeit oder muss die Öffentlichkeit teilnehmen, darf die Öffentlichkeit teilnehmen, aber bittschön hier einen Zentimeter, aber nicht weiter, das ist eine ganz schwierige Sache. Ich meine, denken Sie an den Fall Nadja Benaissa: Es war nicht nötig, dass die Staatsanwaltschaft praktisch diese junge Frau wie auf einer Bühne eines Frankfurter Nachtclubs hat verhaften lassen. Dass sofort mitgeteilt wurde, mit wie vielen Männern sie ungeschützten Geschlechtsverkehr hatte. Das sind alles Dinge, die mindestens zu diesem Zeitpunkt nie und nimmer in die Öffentlichkeit gehörten."
Der Sängerin der No Angels wurde vorgeworfen, trotz HIV-Infektion ungeschützten Geschlechtsverkehr gehabt zu haben. Die Staatsanwaltschaft verteidigte ihr offensives Vorgehen mit "Wiederholungsgefahr" - und gab damit nicht nur den Boulevardmedien wie dem RTL-Magazin Exclusiv den Aufhänger, sich das Privatleben der Verdächtigen im Namen des öffentlichen Interesses vorzunehmen:
"Es ist einer dieser merkwürdigen Zufälle. Ihr ganzes Leben wollte Nadja Benaissa etwas Besonderes sein: weg aus der hessischen Provinz, eine Berühmtheit werden. Wenn es ihr in Wirklichkeit nur darum ging, dann hat sie es geschafft. Die ganze Welt berichtet über ihren Fall. Die Internetforen explodieren förmlich. Jeder diskutiert mit. Von Frankfurt bis New York. Es geht aber nicht um ihre Musik. Die kennt in Übersee kaum jemand. Es geht vielmehr um eine Krankheit. Ein Tabu. Und eine Tat."
Grundsätzlich müssen Medien abwägen zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und dem öffentlichen Interesse. Eine volle Namensnennung bei der Berichterstattung über Ermittlungsverfahren ist eigentlich unzulässig. Es sei denn, es handelt sich um schwere Tatvorwürfe wie etwa Vergewaltigung und/oder um einen prominenten Täter. Laut Pressekodex dürfen Journalisten dabei nicht vorverurteilen. Eine schwierige Gratwanderung, zumal, wenn es sich um den Vorwurf eines Sexualdelikts handelt. Denn dann kann auch über intime Details aus dem Leben der Prominenten berichtet werden. Für Journalisten, die wirklich nur die Information der Öffentlichkeit im Sinn haben, eigentlich kein Problem, meint Thomas Leif von Netzwerk Recherche:
"Das kann man realisieren, indem man eine vorsichtige Sprache wählt, indem man im Konjunktiv berichtet, indem man sich konzentriert auf die Fakten, die wirklich gesichert sind und indem man auf alles verzichtet, was diesen Kriterien nicht entspricht. Also das, was man sozusagen plausibel erklären kann und was auch einer Überprüfung standhält. In den geschilderten Fällen ist es aber so, dass meiner Ansicht nach die Verdachtsberichterstattung und die Regularien, die im Presserat, aber auch in vielen ethischen Erklärungen von Zeitungen und Sendern enthalten sind, im Grunde missbraucht werden und ignoriert werden. Ich glaube, zunächst brauchen wir mal die Anwendung des Pressekodex."
Und auch die Staatsanwaltschaft, so meint Winfried Hassemer, der ehemalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, müsse sich vor einem Prozess mit öffentlichen Äußerungen zurückhalten. Dem Magazin "Kulturzeit" des Senders 3sat sagte er:
"Das Ermittlungsverfahren ist der Teil des gesamten Strafverfahrens, der am ehesten verletzlich ist. Das liegt einfach daran, dass man in diesem Teil des Verfahrens nur einen Verdacht hat. Selbst, wenn der Verdacht gut begründet ist: Es kann auch anders gewesen sein. Daraus folgt für unsere Rechtsordnung: Das Ermittlungsverfahren muss schonend sein. Es muss nach Möglichkeit heimlich ablaufen. Die Justiz muss darauf sehen, dass möglichst wenig frühzeitig an die Öffentlichkeit dringt. Denn das, was berichtet ist, ist berichtet. Die Bilder, die man sieht, sind gesendet. Und die Berichte und die Bilder gehen den Leuten - und übrigens auch den Betroffenen - nicht mehr aus dem Kopf. Wenn dann sich herausstellt: Der Verdacht hatte keine Grundlage - was ja sein kann, das ist der Witz eines Verdachtes - wenn sich das herausstellt, kann man das nicht mehr einfangen."
Winfried Hassemer sieht im Zusammenhang mit Kachelmann und ähnlichen Fällen mit prominenten Verdächtigen ein unrühmliches Zusammenspiel von Justiz und Medien. Doch auch die Staatsanwaltschaft hat es in der heutigen Mediengesellschaft nicht leicht: Sie unterliegt einer Auskunftspflicht, wenn sie ermittelt. Dass Staatsanwälte Informationen gezielt streuen, scheint immer noch eine Ausnahme zu sein. Im Fall Benaissa berichtete RTL-Exclusiv weiter:
"Nadja ist abgetaucht. Keine Interviews, teilte uns ihr Management mit. Vielleicht ist es nur die pure Angst vor dem Prozess und einer möglichen Gefängnisstrafe, die die 28-Jährige dazu bringt, sich zu verstecken, und das wäre verständlich. Denn Nadia hat auch eine zehnjährige Tochter, ist alleinerziehend, und der öffentliche Druck ist enorm. Im November sprach sie noch mit uns darüber: Meine Tochter kommt aus der Schule und wird jeden Tag gehänselt. Ich hab' die dann teilweise zur Schule gefahren und abgeholt, und da stehen wirklich Gruppen von Kindern und zeigen mit dem Finger auf uns und lachen uns aus und sagen: Iih, deine Mama hat Aids."
Die Medien übernehmen immer mehr die Rolle eines modernen Prangers. Der Grundsatz, dass jeder zunächst als unschuldig zu gelten hat, scheint in der Berichterstattung immer öfter in den Hintergrund zu rücken. Nadja Benaissa wurde zu einer Bewährungsstrafe wegen Körperverletzung verurteilt. In einem anderen spektakulären Fall wurde der Fernsehmoderator Andreas Türck von dem Vorwurf der Vergewaltigung freigesprochen. Die Bild-Zeitung titelte: "Sieger Türck. Aber wird er jemals wieder glücklich?" Andreas Türcks Karriere beim Fernsehen war - nach wochenlanger Berichterstattung über sein Sexualleben - beendet.
Kein Wunder, dass viele Prominente wie auch Jörg Kachelmann dazu übergehen, zusätzlich zu ihren Strafverteidigern einen Medienanwalt zu beschäftigen, um auch außerhalb des Gerichtssaales um ihren guten Ruf zu kämpfen - und mit einstweiligen Verfügungen gegen ehrabschneidende Berichterstattung vorzugehen.
"Gerade in spektakulären Fällen, glaub' ich, geht's heute gar nicht mehr anders, als dass Anwälte sich eine Strategie überlegen, wie sie mit Medien umgehen wollen oder ob sie nicht vielleicht noch 'nen Kollegen mit hinzu nehmen, der sich um die Medien kümmert, der immer in den Pausen rausgeht zum Beispiel und irgendwelche Statements in die Kamera erzählt oder wie auch immer. Oder für Hintergrundgespräche zur Verfügung steht usw. Strafjustiz ist heute ein Thema allerersten Ranges, also von hohem Interesse für die Medien."
Gisela Friedrichsen, Gerichtsreporterin des "Spiegel":
"Die Strategie: Wir reden überhaupt mit niemandem, und das interessiert uns alles nicht, wir verteidigen nur im Saal - die ist überaus gefährlich, weil die Medien sich von diesen Themen nicht mehr abhalten lassen. Dann wird halt spekuliert und dann wird aus allem Möglichen, dann guckt der Angeklagte zu Boden, dann wird gleich eine große Geschichte geschrieben, wie schuldbewusst der Angeklagte ist oder wie er grinst oder wie er frech grinst, oder so, nicht? Das sind die Dinge, die geben einer Geschichte dann die Farbe und die Tendenz. Da muss ein Anwalt aufpassen, dass ihm nicht die ganze Sache aus dem Ruder läuft."
Aus der Tagesschau:
"Dass einer ihrer populärsten Politiker hier, in der berüchtigten Haftanstalt Rikers Island, gelandet ist, für viele Franzosen ist es ein Schock. Besonders für die Sozialisten, die Dominique Strauss-Kahn als größten Hoffnungsträger für die Präsidentschaft wohl verloren haben."
Auch die Karriere von Dominique Strauss-Kahn scheint seit der Sekunde beendet, als in der Online-Ausgabe der New York Times seine Verhaftung gemeldet wird. In Windeseile verbreiteten Medien in der ganzen Welt die Nachricht von der mutmaßlichen Vergewaltigung einer Hotelangestellten. Dem "Sex-Banker", wie er sofort von der Bild-Zeitung tituliert wurde, wurde kurz nach Bekanntwerden der Vorwürfe auch in seriösen Medien bescheinigt, dass er als Direktor des IWF, gar als französischer Präsidentschaftskandidat, nicht mehr tragbar sei, selbst dann, wenn sich seine Unschuld erweise.
Das öffentlichkeitswirksame Vorführen des Verdächtigen in Handschellen durch die amerikanische Justiz tat sein Übriges: Eben noch einer der einflussreichsten Männer der Welt, wurde Strauss-Kahn über Nacht zum fast schon überführten Sexualstraftäter, wie sein sozialistischer Parteifreund Robert Badinter beklagt:
"Dies ist eine bewusste, organisierte mediale Hinrichtung von Dominique Strauss-Kahn. Ich klage diejenigen an, die diese Kampagne organisiert haben, die ganz klar gegen ihn gerichtet ist. Ich erinnere an die Unschuldsvermutung. Amerika sagt uns immer, wir würden sie nicht respektieren - was bleibt denn in diesem Fall davon in der Öffentlichkeit wirklich übrig?"
Im Zweifel für den Angeklagten - dieser juristische Grundsatz wird von einer weltweiten Medienöffentlichkeit nicht befolgt. Der Strafrechtler Winfried Hassemer ist besorgt, wie viel Porzellan durch die Berichterstattung schon im Vorfeld eines Prozesses zerschlagen wird:
"Porzellan ist vor allem, sind vor allem die Rechte des Beschuldigten. Es ist klar, dass die Medien Freiheit haben bei uns. Wir hätten keine Demokratie, wenn wir keine Medienfreiheit hätten. Daraus folgt aber nicht, dass in geschützten Verfahren, in problematischen Situationen, die Medien über solche Grenzen gehen. Ich bin manchmal erschüttert, wie weit das geht und wie intensiv das auf Kosten der Betroffenen geht."
Dabei geht es gar nicht darum, ob Dominique Strauss-Kahn oder Jörg Kachelmann schuldig sind oder nicht. Aber auch sie haben Rechte. Und man tut gleichwohl den möglichen Opfern keinen Gefallen damit, wenn sie wochenlang den Stoff für immer neue Spekulationen bieten müssen. Das schwere Verbrechen einer Vergewaltigung - ein Teil der lärmenden
Unterhaltungsindustrie, zu der die Medienlandschaft für viele heute geworden ist.
Thomas Leif von der Journalistenvereinigung Netzwerk Recherche spricht von einem Sieg des Boulevards und findet, dass längst eine öffentliche Diskussion über die Tendenz bei den Medien geführt werden müsste, sich über Gesetz und Recht zu stellen:
"Das ist eine Tendenz, die höchst problematisch ist, und ich bin sicher, dass selbst auch der Deutsche Richtertag und Justizvereinigungen sich damit beschäftigen müssen, und neben dem Presserat müssen auch die Landesmedienanstalten und zum Teil auch die Gremien der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten da auf verbindliche Regeln drängen, denn sonst bricht das weiter auf und wir haben da wirklich noch härtere Zustände. Diese Form sozusagen der entgrenzten Publizistik in diesem Bereich halte ich nach nüchterner Lageanalyse kaum mehr für aufhaltbar. Es sei denn, es gibt starke Sanktionen - Presserat und andere. Aber da haben eben die gleichen Medien auch ihre Wortführer drin, und die Bunte schickt natürlich ihre Top-Anwälte in den Presserat, wenn's um was geht. Das macht Bild ganz genauso. Und da schaut ja kaum jemand hin, was da überhaupt im Einzelnen passiert, und das ist leider eines der Defizite der deutschen Medienpublizistik."
Am 31. Mai will das Landgericht Mannheim sein Urteil in Sachen Kachelmann verkünden. Ob dieser Prozess auch ein Signal an die Medien sein wird, über die eigene Rolle nachzudenken, bleibt offen.
"In dem Fall Kachelmann wissen es die beiden Beteiligten, das mutmaßliche Opfer und der mutmaßliche Täter, was da abgelaufen ist."
Sagt Marianne Wichert-Quoirin, seit über 30 Jahren Gerichtsreporterin, unter anderem für den Kölner Stadtanzeiger.
"Das Andere sind ja alles Hilfskonstruktionen. Es gibt keine eindeutigen Spuren, an denen nicht herumgerüttelt werden kann, keine eindeutig forensischen Spuren. Daher kommen die ganzen Glaubwürdigkeitsgutachten ins Spiel, mit denen man versucht, sich der Wahrheit zu nähern."
Hat Jörg Kachelmann eine langjährige Freundin mit einem Messer bedroht und vergewaltigt? Eine schwerwiegende und schwierige Frage, auf die das Landgericht Mannheim nun eine Antwort finden soll. Wem glaubt es eher: dem prominenten Fernsehmann, der in seinem Privatleben nach Zeugenaussagen Frauen offenbar regelmäßig belogen und betrogen hat?
Oder seiner langjährigen Freundin, dem möglichen Opfer, die - wie ebenfalls vor Gericht erklärt wurde - gegenüber der Polizei mehrfach die Unwahrheit gesagt hat? Reichen die Beweise für eine Verurteilung überhaupt aus? Kachelmanns Verteidigerin Andrea Combé hält die Aussage, die die Nebenklägerin geleistet hat, für nicht überzeugend und plädierte deshalb gemeinsam mit ihrem Kollegen Johann Schwenn auf Freispruch:
"Die Erfordernisse der höchstrichterlichen Rechtsprechung an eine belastende Aussage, wenn es die Aussage-gegen-Aussage-Konstellation gibt, sind: Aussagekonstanz, Detailreichtum, Widerspruchsfreiheit und vieles mehr. Wenn all diese Umstände nicht vorliegen, dann kann man auf diese belastende Aussage keinen Schuldspruch stützen."
Schwierig ist der "Fall Kachelmann" nicht nur aufgrund der unsicheren Beweislage, sondern auch, weil er schon vor Prozesseröffnung ein Medienspektakel ersten Ranges war. Einzelne Journalisten und Blätter positionierten sich für und gegen den Angeklagten, zitierten aus Ermittlungsakten, interviewten weitere Geliebte, die später als Zeuginnen vor Gericht erscheinen sollten. Kaum ein Aspekt aus dem Privatleben des prominenten Angeklagten blieb unbeleuchtet.
Beobachter sprachen bald von einem Nord-Süd-Gefälle. Die renommierten Gerichtsreporterinnen von "Spiegel" und "Zeit" aus Hamburg warfen Fragen nach der Glaubwürdigkeit des mutmaßlichen Opfers und nach möglichen Verfahrensfehlern auf, die Redaktion der Zeitschrift "Bunte" in München setzte Freundinnen des Wettermoderators auf den Titel und bezahlte sie für ihre Aussagen. Eine typische Schlagzeile: "Auch ich war ein Opfer von Jörg Kachelmann".
Auch die Bild-Zeitung mischte mit. Für sie berichtete die Feministin Alice Schwarzer aus dem Gerichtssaal. In ihren Kommentaren zum Prozess erklärte sie immer wieder, ein Urteil sei noch nicht gefällt. Gleichzeitig ließ ihre Wortwahl wenig Zweifel daran, dass ihre Sympathien der möglicherweise Vergewaltigten gehören. Alice Schwarzer konstatierte im September 2010 in der Bild-Zeitung eine ihrer Meinung nach einseitige Berichterstattung zuungunsten der Nebenklägerin. Sie schrieb wortspielerisch von den Kachelmann-Freundinnen in den Medien und meinte damit erkennbar andere Gerichtsreporterinnen. "Manche Blätter", so Zitat Schwarzer, "zögerten nicht zu suggerieren, die vielfach betrogene und frustrierte Ex-Freundin wolle sich nur rächen an dem Armen".
Thomas Leif, Chefreporter des SWR und Vorsitzender der Journalistenvereinigung Netzwerk Recherche, beanstandet die Prozessberichterstattung ebenfalls, bezieht Alice Schwarzer aber in seine Kritik mit ein. Für ihn haben viele Journalisten im "Fall Kachelmann" in einer historisch zu nennenden Weise eklatant versagt - und unter dem Deckmantel des öffentlichen Interesses die Persönlichkeitsrechte von Jörg Kachelmann verletzt:
"Man kann sagen, hier hat auch ein Kampf stattgefunden - zwischen der Bunten als People-Magazin und der sogenannten Qualitätspresse. Und wenn sie sehen, in welcher Weise Alice Schwarzer in der Bild-Zeitung alle journalistischen Grundsätze der vorsichtigen Berichterstattung, der begründeten Argumentation und der sorgfältig gestützten Analyse missachtet und verachtet hat, dann ist mir kaum ein Fall bekannt, der in diese Richtung geht. Und die Bunte hat sich ganz klar auf eine Seite geschlagen und im Grunde Informationen auch bezahlt und wollte damit eine große Story haben. Das ist in dieser Dimension einmalig, und durch die starke Position der Bild-Zeitung ist meiner Ansicht nach auch dieses Thema in die anderen, seriöseren Medien gewandert und hat da ebenfalls das Feld erobert."
In der ARD-Sendung Panorama betont Alice Schwarzer, sie halte sich stets an die Grundsätze journalistischer Objektivität.
Wird ein solcherart polarisiertes öffentliches Klima auch das Gerichtsurteil beeinflussen? Zu entscheiden haben drei Berufsrichter und zwei Schöffen. Doch wie auch immer der Richterspruch lauten wird - zwei Verlierer gibt es schon jetzt: Jörg Kachelmann, aber auch die ehemalige Freundin, das mögliche Opfer.
Denn nicht nur der Ruf des Wettermoderators ist irreparabel beschädigt, auch die Identität der Nebenklägerin ist für jeden über das Internet recherchierbar. Ihr Ansehen wird - egal wie der Prozess ausgeht - unter dem Verdacht leiden, sie habe ihren Ex-Geliebten aus Rache vor Gericht gezogen. Auch die Staatsanwaltschaft hat in ihrem Plädoyer die besonderen Umstände des Prozesses gewürdigt. Sie stellte für Kachelmann eine vergleichsweise milde Strafforderung. Ihr Sprecher Andreas Grossmann erläuterte:
"Wir sind aufgrund der Wirkungen, die die Person des Angeklagten, ob sie wollte oder nicht, eben verspüren musste, durch die monatelange intensive Berichterstattung in allen Medien, die zum Teil auch rechtswidrig war, zu dem Ergebnis gekommen, dass in der Gesamtschau dieser Regelstrafrahmen nicht mehr angemessen ist, sind zum minderschweren Fall Strafrahmen eins bis zehn Jahre gekommen und haben dann, unter Berücksichtigung natürlich auch erschwerender Umstände wie der Tatsache, dass das Opfer nach wie vor medizinisch behandelt werden muss, dass sie sich in Todesangst befand, sind wir dann zur mittleren Strafe von vier Jahren und drei Monaten in unserem Antrag gekommen."
Fast vier Monate hat Jörg Kachelmann im letzten Jahr schon in U-Haft verbracht. Die bekannte Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen vom Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" bezeichnete diese ungewöhnlich lange Zeit als Ergebnis eines Prominentenmalus, wie er sich schon zuvor bei den Ermittlungen gegen andere bekannte Persönlichkeiten gezeigt habe:
"Ich glaube, dass die Menschen, die in der Öffentlichkeit und auch von der Öffentlichkeit leben, den Preis, einen hohen Preis, bezahlen, dass eben ihr Privatleben nicht ihr Privatleben ist und man nicht sagen kann: Also bis hierher ja, soll die Öffentlichkeit oder muss die Öffentlichkeit teilnehmen, darf die Öffentlichkeit teilnehmen, aber bittschön hier einen Zentimeter, aber nicht weiter, das ist eine ganz schwierige Sache. Ich meine, denken Sie an den Fall Nadja Benaissa: Es war nicht nötig, dass die Staatsanwaltschaft praktisch diese junge Frau wie auf einer Bühne eines Frankfurter Nachtclubs hat verhaften lassen. Dass sofort mitgeteilt wurde, mit wie vielen Männern sie ungeschützten Geschlechtsverkehr hatte. Das sind alles Dinge, die mindestens zu diesem Zeitpunkt nie und nimmer in die Öffentlichkeit gehörten."
Der Sängerin der No Angels wurde vorgeworfen, trotz HIV-Infektion ungeschützten Geschlechtsverkehr gehabt zu haben. Die Staatsanwaltschaft verteidigte ihr offensives Vorgehen mit "Wiederholungsgefahr" - und gab damit nicht nur den Boulevardmedien wie dem RTL-Magazin Exclusiv den Aufhänger, sich das Privatleben der Verdächtigen im Namen des öffentlichen Interesses vorzunehmen:
"Es ist einer dieser merkwürdigen Zufälle. Ihr ganzes Leben wollte Nadja Benaissa etwas Besonderes sein: weg aus der hessischen Provinz, eine Berühmtheit werden. Wenn es ihr in Wirklichkeit nur darum ging, dann hat sie es geschafft. Die ganze Welt berichtet über ihren Fall. Die Internetforen explodieren förmlich. Jeder diskutiert mit. Von Frankfurt bis New York. Es geht aber nicht um ihre Musik. Die kennt in Übersee kaum jemand. Es geht vielmehr um eine Krankheit. Ein Tabu. Und eine Tat."
Grundsätzlich müssen Medien abwägen zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und dem öffentlichen Interesse. Eine volle Namensnennung bei der Berichterstattung über Ermittlungsverfahren ist eigentlich unzulässig. Es sei denn, es handelt sich um schwere Tatvorwürfe wie etwa Vergewaltigung und/oder um einen prominenten Täter. Laut Pressekodex dürfen Journalisten dabei nicht vorverurteilen. Eine schwierige Gratwanderung, zumal, wenn es sich um den Vorwurf eines Sexualdelikts handelt. Denn dann kann auch über intime Details aus dem Leben der Prominenten berichtet werden. Für Journalisten, die wirklich nur die Information der Öffentlichkeit im Sinn haben, eigentlich kein Problem, meint Thomas Leif von Netzwerk Recherche:
"Das kann man realisieren, indem man eine vorsichtige Sprache wählt, indem man im Konjunktiv berichtet, indem man sich konzentriert auf die Fakten, die wirklich gesichert sind und indem man auf alles verzichtet, was diesen Kriterien nicht entspricht. Also das, was man sozusagen plausibel erklären kann und was auch einer Überprüfung standhält. In den geschilderten Fällen ist es aber so, dass meiner Ansicht nach die Verdachtsberichterstattung und die Regularien, die im Presserat, aber auch in vielen ethischen Erklärungen von Zeitungen und Sendern enthalten sind, im Grunde missbraucht werden und ignoriert werden. Ich glaube, zunächst brauchen wir mal die Anwendung des Pressekodex."
Und auch die Staatsanwaltschaft, so meint Winfried Hassemer, der ehemalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, müsse sich vor einem Prozess mit öffentlichen Äußerungen zurückhalten. Dem Magazin "Kulturzeit" des Senders 3sat sagte er:
"Das Ermittlungsverfahren ist der Teil des gesamten Strafverfahrens, der am ehesten verletzlich ist. Das liegt einfach daran, dass man in diesem Teil des Verfahrens nur einen Verdacht hat. Selbst, wenn der Verdacht gut begründet ist: Es kann auch anders gewesen sein. Daraus folgt für unsere Rechtsordnung: Das Ermittlungsverfahren muss schonend sein. Es muss nach Möglichkeit heimlich ablaufen. Die Justiz muss darauf sehen, dass möglichst wenig frühzeitig an die Öffentlichkeit dringt. Denn das, was berichtet ist, ist berichtet. Die Bilder, die man sieht, sind gesendet. Und die Berichte und die Bilder gehen den Leuten - und übrigens auch den Betroffenen - nicht mehr aus dem Kopf. Wenn dann sich herausstellt: Der Verdacht hatte keine Grundlage - was ja sein kann, das ist der Witz eines Verdachtes - wenn sich das herausstellt, kann man das nicht mehr einfangen."
Winfried Hassemer sieht im Zusammenhang mit Kachelmann und ähnlichen Fällen mit prominenten Verdächtigen ein unrühmliches Zusammenspiel von Justiz und Medien. Doch auch die Staatsanwaltschaft hat es in der heutigen Mediengesellschaft nicht leicht: Sie unterliegt einer Auskunftspflicht, wenn sie ermittelt. Dass Staatsanwälte Informationen gezielt streuen, scheint immer noch eine Ausnahme zu sein. Im Fall Benaissa berichtete RTL-Exclusiv weiter:
"Nadja ist abgetaucht. Keine Interviews, teilte uns ihr Management mit. Vielleicht ist es nur die pure Angst vor dem Prozess und einer möglichen Gefängnisstrafe, die die 28-Jährige dazu bringt, sich zu verstecken, und das wäre verständlich. Denn Nadia hat auch eine zehnjährige Tochter, ist alleinerziehend, und der öffentliche Druck ist enorm. Im November sprach sie noch mit uns darüber: Meine Tochter kommt aus der Schule und wird jeden Tag gehänselt. Ich hab' die dann teilweise zur Schule gefahren und abgeholt, und da stehen wirklich Gruppen von Kindern und zeigen mit dem Finger auf uns und lachen uns aus und sagen: Iih, deine Mama hat Aids."
Die Medien übernehmen immer mehr die Rolle eines modernen Prangers. Der Grundsatz, dass jeder zunächst als unschuldig zu gelten hat, scheint in der Berichterstattung immer öfter in den Hintergrund zu rücken. Nadja Benaissa wurde zu einer Bewährungsstrafe wegen Körperverletzung verurteilt. In einem anderen spektakulären Fall wurde der Fernsehmoderator Andreas Türck von dem Vorwurf der Vergewaltigung freigesprochen. Die Bild-Zeitung titelte: "Sieger Türck. Aber wird er jemals wieder glücklich?" Andreas Türcks Karriere beim Fernsehen war - nach wochenlanger Berichterstattung über sein Sexualleben - beendet.
Kein Wunder, dass viele Prominente wie auch Jörg Kachelmann dazu übergehen, zusätzlich zu ihren Strafverteidigern einen Medienanwalt zu beschäftigen, um auch außerhalb des Gerichtssaales um ihren guten Ruf zu kämpfen - und mit einstweiligen Verfügungen gegen ehrabschneidende Berichterstattung vorzugehen.
"Gerade in spektakulären Fällen, glaub' ich, geht's heute gar nicht mehr anders, als dass Anwälte sich eine Strategie überlegen, wie sie mit Medien umgehen wollen oder ob sie nicht vielleicht noch 'nen Kollegen mit hinzu nehmen, der sich um die Medien kümmert, der immer in den Pausen rausgeht zum Beispiel und irgendwelche Statements in die Kamera erzählt oder wie auch immer. Oder für Hintergrundgespräche zur Verfügung steht usw. Strafjustiz ist heute ein Thema allerersten Ranges, also von hohem Interesse für die Medien."
Gisela Friedrichsen, Gerichtsreporterin des "Spiegel":
"Die Strategie: Wir reden überhaupt mit niemandem, und das interessiert uns alles nicht, wir verteidigen nur im Saal - die ist überaus gefährlich, weil die Medien sich von diesen Themen nicht mehr abhalten lassen. Dann wird halt spekuliert und dann wird aus allem Möglichen, dann guckt der Angeklagte zu Boden, dann wird gleich eine große Geschichte geschrieben, wie schuldbewusst der Angeklagte ist oder wie er grinst oder wie er frech grinst, oder so, nicht? Das sind die Dinge, die geben einer Geschichte dann die Farbe und die Tendenz. Da muss ein Anwalt aufpassen, dass ihm nicht die ganze Sache aus dem Ruder läuft."
Aus der Tagesschau:
"Dass einer ihrer populärsten Politiker hier, in der berüchtigten Haftanstalt Rikers Island, gelandet ist, für viele Franzosen ist es ein Schock. Besonders für die Sozialisten, die Dominique Strauss-Kahn als größten Hoffnungsträger für die Präsidentschaft wohl verloren haben."
Auch die Karriere von Dominique Strauss-Kahn scheint seit der Sekunde beendet, als in der Online-Ausgabe der New York Times seine Verhaftung gemeldet wird. In Windeseile verbreiteten Medien in der ganzen Welt die Nachricht von der mutmaßlichen Vergewaltigung einer Hotelangestellten. Dem "Sex-Banker", wie er sofort von der Bild-Zeitung tituliert wurde, wurde kurz nach Bekanntwerden der Vorwürfe auch in seriösen Medien bescheinigt, dass er als Direktor des IWF, gar als französischer Präsidentschaftskandidat, nicht mehr tragbar sei, selbst dann, wenn sich seine Unschuld erweise.
Das öffentlichkeitswirksame Vorführen des Verdächtigen in Handschellen durch die amerikanische Justiz tat sein Übriges: Eben noch einer der einflussreichsten Männer der Welt, wurde Strauss-Kahn über Nacht zum fast schon überführten Sexualstraftäter, wie sein sozialistischer Parteifreund Robert Badinter beklagt:
"Dies ist eine bewusste, organisierte mediale Hinrichtung von Dominique Strauss-Kahn. Ich klage diejenigen an, die diese Kampagne organisiert haben, die ganz klar gegen ihn gerichtet ist. Ich erinnere an die Unschuldsvermutung. Amerika sagt uns immer, wir würden sie nicht respektieren - was bleibt denn in diesem Fall davon in der Öffentlichkeit wirklich übrig?"
Im Zweifel für den Angeklagten - dieser juristische Grundsatz wird von einer weltweiten Medienöffentlichkeit nicht befolgt. Der Strafrechtler Winfried Hassemer ist besorgt, wie viel Porzellan durch die Berichterstattung schon im Vorfeld eines Prozesses zerschlagen wird:
"Porzellan ist vor allem, sind vor allem die Rechte des Beschuldigten. Es ist klar, dass die Medien Freiheit haben bei uns. Wir hätten keine Demokratie, wenn wir keine Medienfreiheit hätten. Daraus folgt aber nicht, dass in geschützten Verfahren, in problematischen Situationen, die Medien über solche Grenzen gehen. Ich bin manchmal erschüttert, wie weit das geht und wie intensiv das auf Kosten der Betroffenen geht."
Dabei geht es gar nicht darum, ob Dominique Strauss-Kahn oder Jörg Kachelmann schuldig sind oder nicht. Aber auch sie haben Rechte. Und man tut gleichwohl den möglichen Opfern keinen Gefallen damit, wenn sie wochenlang den Stoff für immer neue Spekulationen bieten müssen. Das schwere Verbrechen einer Vergewaltigung - ein Teil der lärmenden
Unterhaltungsindustrie, zu der die Medienlandschaft für viele heute geworden ist.
Thomas Leif von der Journalistenvereinigung Netzwerk Recherche spricht von einem Sieg des Boulevards und findet, dass längst eine öffentliche Diskussion über die Tendenz bei den Medien geführt werden müsste, sich über Gesetz und Recht zu stellen:
"Das ist eine Tendenz, die höchst problematisch ist, und ich bin sicher, dass selbst auch der Deutsche Richtertag und Justizvereinigungen sich damit beschäftigen müssen, und neben dem Presserat müssen auch die Landesmedienanstalten und zum Teil auch die Gremien der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten da auf verbindliche Regeln drängen, denn sonst bricht das weiter auf und wir haben da wirklich noch härtere Zustände. Diese Form sozusagen der entgrenzten Publizistik in diesem Bereich halte ich nach nüchterner Lageanalyse kaum mehr für aufhaltbar. Es sei denn, es gibt starke Sanktionen - Presserat und andere. Aber da haben eben die gleichen Medien auch ihre Wortführer drin, und die Bunte schickt natürlich ihre Top-Anwälte in den Presserat, wenn's um was geht. Das macht Bild ganz genauso. Und da schaut ja kaum jemand hin, was da überhaupt im Einzelnen passiert, und das ist leider eines der Defizite der deutschen Medienpublizistik."
Am 31. Mai will das Landgericht Mannheim sein Urteil in Sachen Kachelmann verkünden. Ob dieser Prozess auch ein Signal an die Medien sein wird, über die eigene Rolle nachzudenken, bleibt offen.