Svjatohirsk ist ein idealer Rückzugsort für einen Austausch fernab des Alltags. Zumal die rund 300 Journalisten nur eine kurze Anreise hatten, denn bis auf die wenigen ausländischen Gäste stammten die meisten aus der Ostukraine.
Svjatohirsk liegt rund eine halbe Autostunde von Slovjansk beziehungsweise Kramatorsk entfernt, Städte, die die prorussischen Separatisten im Frühjahr 2014 besetzten und die später von den ukrainischen Kräften wieder zurückerobert worden sind. Svjatohirsk blieb von den Kriegswirren verschont. Auf der einen Fluss-Seite ragt das Höhlenkloster aus einem Kreidefelsen heraus. Am anderen Ufer stehen im Schatten eines dichten Mischwaldes Bungalows und kleine Hotels für Besucher bereit.
Nachts quaken die Frösche. Und doch: Das Idyll trügt. Die Urlauber bleiben aus, vor allem die Bergleute aus dem Donbass, sie waren die größte Touristen-Gruppe. Viele Gruben wurden wegen des Krieges im Osten geschlossen. Die Front ist keine 100 Kilometer entfernt.
Welche Rolle nehmen Journalisten ein?
Was geschieht innerhalb und außerhalb der von den prorussischen Separatisten besetzten Gebiete? Wie berichten die Medien der sogenannten Volksrepubliken und wie die in den von Kiew kontrollierten Gebieten? Welche Rolle nehmen Journalisten ein? Bleiben sie professionell? Verlangt die ukrainische Regierung von ihnen Patriotismus? Ist der vereinbar mit objektiver Berichterstattung? Ist Kritik in Kriegszeiten gleich Vaterlandsverrat? Heikle Themen. Organisator Oleksij Matsuka eröffnet die Diskussion.
Svitlana Yeremeko, deren Institut für Demokratie zu den Mitorganisatoren des Donbass-Media Forums gehört, hat die Frage für sich beantwortet, bevor sie überhaupt diskutiert wird.
"Ich finde es gut und richtig, wenn ein Journalist in Kriegszeiten ein Patriot seines Landes ist. Ich sehe darin keinen Widerspruch."
Jewgeni Fialko nickt. Fialko ist Chefredakteur des Lokalblattes "Nascha Druschkowka", das er selbst gegründet hat in seiner Heimatstadt Druschkowka, ein 70 000-Einwohner-Ort in der Ostukraine, unweit von Kramatorsk. Auch Druschkowka befand sich kurze Zeit in der Hand der Separatisten.
"Es findet ein Informationskrieg statt"
"Es findet ein Informationskrieg statt, zusätzlich zu dem eigentlichen Krieg. Als Redakteur verstehe ich meine Rolle deswegen als die eines Soldaten, der an einem bestimmten Frontabschnitt ausharrt, der mit den bloßen Händen kämpft, wenn ihm die Patronen ausgegangen sind, der bis zum Schluss seinen Mann steht."
Die Frage, ob ein Berichterstatter Patriot sein darf, wischt er beiseite, auch die Fragen, ob er jetzt ein Déjà-vu-Erlebnis hat, ob die Ukraine wie zu Sowjetzeiten zurückkehrt zu Zensur und Selbstzensur. Für den 65jährigen, der erst nach dem Ende der UdSSR in den Journalismus ging, sind das alles Überlegungen am grünen Tisch.
"Das kann man bezeichnen wie man will, ich nenne es Ideologie in Zeiten des Krieges. Ich musste aus der Stadt fliehen, denn ich stand auf der Schwarzen Liste, an der vierten Stelle. Zehn Tage nach der Befreiung der Stadt bin ich zurückgekehrt. Ich habe eine tote Stadt vorgefunden, völlig verängstigte Menschen. Meine Tochter musste in Donezk ihre Wohnung im Stich lassen, genau wie mein Sohn, er wohnte in Matjejewka. Mit Diskussionen kann man sich beschäftigen, wenn auf dem Dach die ukrainische Flagge wieder weht."
Für den halb so alten Internet-Journalisten Anton aus Mariupol ist der Fall weit weniger eindeutig. Der Dreißigjährige findet es fast unmöglich, unter Kriegsbedingungen die ethischen Standards des unabhängigen Journalismus einzuhalten, so ernsthaft er sich auch bemühe.
"Wenn du dich als Patriot positioniert, dann bist du von vornherein parteiisch und verhältst dich bei Informationen von der prorussischen Seite vielleicht nicht objektiv. Ein Journalist sollte nicht auf der einen oder auf der anderen Seite stehen, er muss beide Seiten hören. Das ist schwer, denn du weißt, dass die andere Position falsch ist und du mit ihr nicht einverstanden bist. "
Mehr als jeder vierte Artikel ist voller Hass auf Kiew
Jewgeni Fialko aus Druschkowka hat als erfahrener Chefredakteur stets den Gegner, also die von Russland gesteuerten Separatisten, im Blick. Und denen wie auch Moskau würde er keinesfalls freiwillig Munition liefern.
"Im Nachbardorf wollte ein Soldat, der eine Granate bei sich trug, in einem Geschäft Wodka kaufen. Als er den Wodka nicht bekam, wurde er ausfallend, es gab Verletzte. Solch eine Nachricht hätte sich natürlich sehr gut verkauft. Aber ich schreibe über so etwas nicht und ich werde es auch künftig nicht tun, denn das sind Einzelfälle, die für propagandistische Zwecke hochgekocht werden. Ich sehe über Satellit die russischen Sender und weiß, wie derartige Nachrichten benutzt und manipuliert werden, mit welchem Hass dort berichtet wird. Ich gönne ihnen nicht diesen Trumpf."
26 Prozent, mehr als jeder vierte Artikel, in den von den Separatisten gebilligten Zeitungen, seien voller Hass auf Kiew. In den Zeitungen der freien Ukraine müssten zwei Prozent der Artikel als Hasskommentare eingestuft werden. Diese Ergebnisse stammen vom Donezker Informationsinstitut. Das analysierte im Frühjahr die jeweils vier wichtigsten Zeitungen auf der einen beziehungsweise auf der anderen Seite der Front. Die Experten stießen auf ungeahnte Schwierigkeiten. Sie mussten die Zeitungen aus den sogenannten Volksrepubliken regelrecht herausschmuggeln, weil sie auf dem von Kiew kontrollierten Territorium verboten sind, erklärt Oleksij Matsuka seinen Journalistenkollegen auf dem Donbass Media Forum.
"Führend bei den Hasskommentaren ist die Zeitung "Noworossija", es geriert sich als Oppositionsblatt. Aber es bedient sich einer ganz besonders hasserfüllten Sprache gegenüber Kiew. Es ist die wichtigste Zeitung in den sogenannten Donezker und Luhansker Volksrepubliken. Wir hatten Probleme, die Zeitung für die Studie aus dem besetzten Gebiet herauszubekommen, weil schon der Besitz einer Ausgabe als feindliche Propaganda gilt. "Noworossija" hat sich in fast 60 Prozent der Artikel abfällig über die nichtbesetzte Ukraine geäußert."
Eine zweifache Okkupation
Die Journalistin und Institutsleiterin Svitlana Yeremenko spricht von einer zweifachen Okkupation. Die Ostukraine sei von prorussischen Separatisten besetzt, der dazugehörige Informationsraum von den russischen beziehungsweise vom Kreml diktierten Medien.
"Die ukrainischen Bürger im besetzten Gebiet befinden sich in der Isolation, denn die ukrainische Regierung tut zu wenig für die Ausstrahlung ukrainischer Fernsehsender dort. Stattdessen überlässt sie 30 russischen Fernsehkanälen das Feld, davon zehn ausschließlich für Nachrichten. Plus die Fernsehprogramme der Separatisten sowie deren Internetseiten und Zeitungen. 86 Prozent der Ukrainer informieren sich über das Fernsehen. Das Internet funktioniert in den besetzten Gebieten häufig nicht. Zudem sind über 40 ukrainische Internetseiten dort blockiert."
Die Abwesenheit der ukrainischen Medien hinterlasse Spuren bei den Bewohnern in den besetzten Gebieten.
"Wenn diese russische Propaganda ununterbrochen läuft, wirkt sie sich auf den Verstand unserer Bürger aus. Einige von ihnen, die noch 2014 und 2015 als gebildete, kluge Leute sehr genau verstanden haben, dass es sich um einen Krieg handelt, der von Russland ausging, dass es kein Bürgerkrieg ist, haben inzwischen völlig andere Ansichten."
Jewgeni Fialko von der Lokalzeitung schreibt wenig über den Krieg, obwohl der vor seiner Haustür stattfindet. Zu selten könne er überprüfen, was er erfährt. Wenn er das Frontgeschehen thematisiert, dann nur in Form von Augenzeugenberichten, die in seiner Zeitung als solche ausgewiesen werden.
Oleksandr Gorochowskij lobt diese Zurückhaltung. Gorochowskij betreibt seit anderthalb Jahren ein Fakten-Check-Portal. Selbst er und seine Kollegen in Kiew lassen bei Frontmeldungen nicht nur allergrößte Vorsicht gelten, sie enthalten sich jeglicher Wertung.
"Die Verluste, also Tote, Verwundete und Vermisste von den ukrainischen Streitkräften und den Freiwilligenverbänden, werden nirgendwo zusammen erfasst. Die Armee und die Freiwilligen führen ihre eigenen Statistiken und da jeweils eine offizielle und eine inoffizielle. Solange in der Ukraine kein Rechenschaftssystem über die militärischen Operationen existiert, werden wir keine Faktenchecks durchführen und auch nicht einteilen was wahr, halbwahr oder was gelogen ist. Denn es geht um heikle Fragen, bei denen man sich schnell angreifbar macht. Und wir könnten der Gesellschaft mehr schaden als nutzen."
Wie kann man ausgewogen über den Krieg berichten?
Eine ausgewogene Berichterstattung über den Krieg in der Ostukraine ist schwer zu bewerkstelligen, weil die Separatisten ukrainischen und fast allen ausländischen Journalisten den Zutritt auf das von ihnen kontrollierte Gebiet verwehren. Jeta Xhara, eine renommierte Korrespondentin aus dem Kosovo, zeigt den ukrainischen Kollegen Möglichkeiten, die für Berichterstattung bleiben, auch wenn man nicht auf die Seite des Gegners gelangen kann.
"Gibt es dort normale Leute? Kann man sie anrufen, ihre Geschichte bringen? Dann sollte man das tun! Wenn es keine offiziellen Stellen mehr gibt, die mit einem reden, wenn die Nichtregierungsorganisationen rausgeworfen wurden, aber durchaus noch Kontakte dorthin haben, dann muss man diese Kontakte nutzen, sie anrufen und berichten. Und Vorschläge machen in Richtung Washington, Kiew und Brüssel."
Juri Kostjutschenko von der Akademie der Wissenschaften der Ukraine warnt davor, sich bei der Berichterstattung auf die sozialen Medien zu stützen. Für ihn besteht das größte Problem der Kriegsberichterstattung und des ukrainischen Journalismus überhaupt in der Glaubwürdigkeit der Information, denn nur die wenigsten Artikel enthielten tatsächlich welche.
"Nur 20 Prozent der Medien generieren tatsächlich Inhalte, Informationen. Das geschieht durch die eigenen Korrespondenten, Journalisten. Über die Glaubwürdigkeit sagt das allerdings auch noch nichts. Um die Informationen zu überprüfen, kann man aber bei diesen Kollegen nachfragen. 60 bis 73 Prozent der Medien bedienen sich einfach nur dieser Informationen, sie schreiben sie ab. Und bei zehn Prozent der Information ist die Quelle völlig unklar; auch, ob es überhaupt eine gibt, oder ob man sich auf etwas in den sozialen Netzwerken beruft. Letzteres ist äußerst beliebt. Weil das Inhalte sind, die das Handeln ganzer Gruppen beeinflussen, ist es so wichtig herauszufinden, worum es dabei ganz genau geht."
Von gleichgeschalteten Medien kann in der Ukraine keine Rede sein. Die vielen Fernsehsender befinden sich im Besitz ganz verschiedener Oligarchen, die einander aus wirtschaftlichen und politischen Gründen spinnefeind sind. Daraus entsteht zwar eine Meinungsvielfalt, die allerdings ist freilich nicht selten äußerst fragwürdig, sagt der Fakten-Checker Oleksandr Gorochowskij.
"Das ist ein großes Problem unserer Medien. Sie gehören alle irgendjemandem, dessen Interessen sie zu dienen haben. Die unabhängige Presse kann kaum überleben. Der Westen gibt zwar Projektgelder, aber die Summen, die die Oligarchen für die Fernsehprogramme oder Internet-Portale ausgeben, sind ungleich höher. Hinzu kommt, dass es zwar sehr viele Journalisten gibt, die Qualifikation jedoch sehr niedrig ist, besonders was die Überprüfung von Informationen angeht."
Die Journalisten stehen zwischen den Seiten
Nur wenige Medien in der ehemaligen Sowjetrepublik gelten als wirklich unabhängig, müssen also nicht die Interessen ihrer Oligarchen erfüllen. Auch wenn keine Zensurbehörde in Kiew die Inhalte diktiert, gibt es - zumal in Kriegszeiten - die Schere im Kopf.
Zu einem unabhängigen und professionellen Fernsehsender hat sich Gromadske TV, Bürger-Fernsehen übersetzt, entwickelt. Es ging aus der Oppositionsbewegung im Winter 2013/14 hervor. Rund um die Uhr richtete es Kameras auf das Protest-Zeltlager und die Demonstrationen in der Hauptstadt Kiew. Mit der russischen Okkupation der Krim und dem Krieg in der Ostukraine trat an die Stelle des Live-Streamings die Berichterstattung aus den Konfliktgebieten, erinnert die Gromadske-Reporterin Annastassia Stanko.
In den Kriegsberichten war anfangs immer von "unseren Jungs" in der Armee die Rede, aber keiner hat sich überlegt, was das für die Menschen in den besetzten Gebieten bedeutet. Für die waren das nicht "unsere Jungs", sondern die Armee, deren Geschosse in ihre Häuser einschlugen. Wir als Journalisten standen dazwischen. Wir sagen jetzt nicht mehr "unsere Armee", wir finden das über-patriotisch. Wir sagen ja schließlich auch nicht unser Präsident, sondern einfach nur Präsident."
Auch bei Formulierungen, die die Bevölkerung auf der einen wie auf der anderen Seite pauschal diffamieren, sei Vorsicht geboten. Severodonzezk, Slovjansk oder Kramatorsk wurden zum Beispiel, als sie kurzzeitig besetzt waren, "Separatisten-Städte" genannt, die prorussischen Aufständischen hießen oft "Russisten", "Moskauer Kollaborateure" oder "Assistenten russischer Terroristen", beziehungsweise "russische terroristische Streitkräfte", wie auf Kanal 5, der dem ukrainischen Präsidenten Poroschenko gehört.
Anastassia Stanko vom Internet-Bürger-Fernsehen wird hellhörig, wenn von Journalisten Patriotismus erwartet wird, denn damit solle nicht selten Kritik an der Kiewer Regierung verhindert werden. Doch auch in Kriegszeiten müsse über Fehler, wie die grassierende Korruption, informiert werden. Svitlana Yeremenko vom Kiewer Demokratie-Institut, das von US-amerikanischen Energiekonzernen und Ukrainern in der Diaspora finanziert wird, sieht das anders. Ein wenig mehr Stolz auf die Leistungen der Ukraine wäre schließlich nicht zu viel verlangt.
"Natürlich ist es wichtig, dass sich in der Ukraine die freien Medien weiterentwickeln, die die Regierung kritisieren und investigativ recherchieren. Aber gleichzeitig ist es notwendig, dass die Medien - die ukrainischen aber auch die ausländischen - über das berichten, was sich in der Ukraine positiv entwickelt, über die Reformen."
Die Zivilgesellschaft muss kritisieren
Über den eingeforderten Patriotismus entbrennt ein heftiger Streit. Kriegsreporterin Jeta Xhara redet der ukrainischen Patriotin schwer ins Gewissen.
"Es ruiniert die Reputation Ihres Landes, wenn Sie zu den gleichen Methoden greifen wie Russland und auf Propaganda setzen. Das ist das schrecklichste, was Sie tun können. Deswegen bitte: Erlauben sie der Zivilgesellschaft zu kritisieren und da zu sein."
Dem Moderator Olekseij Matsuka ist die Eskalation, der - so wörtlich - "sehr emotionale Beitrag" peinlich, die Angegriffene darf sich verteidigen.
"Es kränkt mich sehr, dass Sie mich nicht verstanden haben. Ich habe nicht gesagt, dass es schlecht ist, über Korruption zu berichten. Aber man muss gleichzeitig über das informieren, was vorangeht. Ich meinte auch nicht, dass die Ukraine einen Propaganda-Kanal wie "Russia Today" betreiben sollte. Aber neben den vielen russischen Sendern, die man im Ausland sehen kann, findet sich kein einziger ukrainischer."
An eine Medienkonferenz mitten im Krieg wäre auf dem Balkan nicht zu denken gewesen, konstatiert Jeta Xhara aus dem Kosovo durchaus bewundernd.
"Wir kamen direkt vom Sozialismus in den Krieg. Im Sozialismus waren Journalisten nichts als Werkezuge der Regimes. Das ist ein großer Unterschied zwischen der Ukraine und unseren Balkanländern: Die Ukraine hatte bereits 20 Jahre Kommunismus hinter sich, bis es zu diesem Konflikt kam."
So verschlafen Svjatohirsk als Kurort erscheinen mag - die ukrainischen Medien, die Zivilgesellschaft insgesamt, sind hellwach auf ihrem Weg zur Demokratie und wissen, was die Stunde geschlagen hat.