Charlotte Niemeyer: "Wir können heute ja glücklicherweise Patienten heilen - heilen für immer. Die entscheidende Frage ist: wie geht es weiter für diese Patienten?"
Peter Borchmann: "Die sind einfach nicht ganz fit. Nicht so, wie sie es von sich erwarten, vorgealtert, sozusagen.
Peter Kaatsch: "Die Situation ist heute so, dass die Patienten alleine gelassen werden mit Fragen, mit Sorgen, mit Ängsten, die sie über ihren Gesundheitszustand haben.
Am frühen Morgen auf dem weitläufigen Campus der Uniklinik Münster. Ein sportlicher, junger Mann, nennen wir ihn Philipp Volkerts, sitzt auf einer niedrigen Mauer, hinter ihm ein roter Backsteinbau. Er wirkt angespannt.
"Da hat man immer so ein bisschen Bauchkribbeln, wenn man dann zum MRT muss oder zur Blutabnahme, das Kribbeln ist vielleicht heute ein bisschen geringer, aber ja, es ist auch da."
Heute kein MRT, keine Blutuntersuchung, Philipp Volkerts hat einen Termin in der Urologie.
"Weil ich heute auf meine Fruchtbarkeit getestet werden soll. Genau - deswegen sind wir heute in der Reproduktionsmedizin hier in Münster, damit das untersucht werden kann."
Dass er heute, mit 26 Jahren, noch am Leben ist, hat er einer guten Krebstherapie zu verdanken. Mit 19, mitten in den Abiturprüfungen bekam er schlagartig heftige Kopfschmerzen, ihm war übel, er sah Doppelbilder. Die Diagnose: ein Hirntumor, so groß wie ein Golfball, in der Nähe der Hypophyse, der Hirnanhangdrüse. Volkerts landete über Umwege bei Gabriele Calaminus, einer Kinderonkologin, weil der Krebs in seinem Kopf typisch für Kinder war. Nach einem Jahr war er geheilt. Das alles liegt weit hinter ihm. Er hat sein Abitur nachgeholt und studiert inzwischen an der Sporthochschule Köln. Das klingt gut – aber Philipp Volkerts ist nicht mehr in allem der Alte:
"Dass ich mich teilweise so fühle, als hätte ich ein Gedächtnis wie ein Goldfisch, also wenn es ums Kurzzeitgedächtnis geht, dass ich da Sachen sehr schnell vergesse und auch an viele Sachen einfach nicht mehr denke, die ich eigentlich auf dem Schirm haben müsste."
„Zur Reproduktionsmedizin...“
„Für Sie?“
„Ja, für mich.“
„Gradeaus, dann links die Treppe hoch, erste Tür rechts."
"Vielen Dank!"
Heute - in dem roten Backsteinbau - will er klären lassen, ob die Therapie ihm seine Fruchtbarkeit gelassen hat. Dass eine Krebstherapie nicht harmlos sein kann, ist offensichtlich. Chemotherapeutika sind Zellgifte, die Zellen töten, das ist die Idee der Therapie. Das gleiche gilt für die Bestrahlung. Jahrzehntelang waren Nebenwirkungen, ganz zu schweigen von Spätfolgen, Nebensache im Kampf gegen Krebs. Das ist bei vielen Krebsarten mit schlechter Prognose heute noch so, Bauchspeicheldrüsen- oder Lungenkrebs etwa. – Auch bei Morbus Hodgkin, einer bestimmten Form des Lymphdrüsenkrebses, war das einmal so.
"Das ist noch gar nicht so lange,…"
Peter Borchmann ist Professor an der Uniklinik Köln und leitet die deutsche Hodgkin-Studiengruppe.
"Wenn wir 50 Jahre zurückgehen, dann sind wir bei 1960, da war das allenfalls eine für sehr frühe Stadien heilbare Erkrankung. Sobald wir über einen Befall sprechen, der mehrere Lymphknotenstationen betrifft, der vielleicht sogar Organe betrifft, also die Lunge, die Leber, die Knochen, dann war das zu der Zeit eine zu 100 Prozent tödliche Erkrankung."
Langzeitfolgen der Therapie
Heute gilt das nicht mehr. Die Heilungschancen liegen bei 80 Prozent, das mediane Erkrankungsalter bei 32 Jahren. Ein Morbus-Hodgkin-Patient hat also, wenn er geheilt wird, noch viele Jahrzehnte vor sich. Peter Borchmann und seine Kollegen verfolgen in ihrer Studiengruppe die Lebenswege von 15.000 ehemaligen Hodgkin-Patienten. Sie sind die einzigen, die in Deutschland kontinuierlich Informationen über Überlebende nach Krebs im Erwachsenenalter sammeln, die nachfragen, wie es den Patienten fünf, zehn oder 20 Jahre nach ihrer Erkrankung geht.
"Viele haben Schwierigkeiten, es sind wirklich viele, das sind jetzt nicht drei Prozent oder zwei Prozent, sondern wir reden über 20, 30 Prozent, die Schwierigkeiten haben, langfristig."
15 Prozent leiden zehn bis 20 Jahre nach Therapieende an einer Herzschwäche. Jeder zweite Patient ist nach der Behandlung unfruchtbar, jeder fünfzigste entwickelt eine Leukämie. Viele Frauen kommen zu früh in die Menopause, 20 Prozent erkranken an Brustkrebs. 15 bis 25 Prozent klagen über schwere Fatigue, eine Art chronischer Erschöpfung, die den Alltag langfristig massiv beeinträchtigt. Und jeder fünfte Patient berichtet von kognitiven Einschränkungen. Doch die Zahlen, die Borchmann sammelt, haben bisher nur wenig Echo gefunden.
"Es ist nach wie vor, glaube ich, kein Thema, was in der Öffentlichkeit im Vordergrund steht und auch nicht in den Fachkreisen im Vordergrund steht. Das liegt daran, dass es, wenn man über Krebs spricht, nach wie vor sehr viele Krebsarten gibt, an denen die Patienten schnell sterben. Natürlich wird da eine größere Not gesehen, als für eine Erkrankung wie das Hodgkin-Lymphom, wo man sagen kann, na ja, die werden ja sowieso fast alle geheilt, die sollen sich mal jetzt nicht so haben."
Es gibt außer den Zahlen aus Köln noch weitere, allerdings zeichnen sie längst kein vollständiges Bild. Keiner in Deutschland befragt die Überlebenden nach Brustkrebs. Keiner jene, die Darmkrebs überstanden haben. Eine Studie existiert zu Überlebenden nach einer akuten lymphatischen Leukämie, kurz ALL. Demnach zeigen vier von zehn Patienten Symptome in einem oder mehr Organsystemen. Die Studie ist von 2008, sie soll allerdings aktualisiert werden. Auch bei ALL sind die Heilungschancen durch immer wirksamere Therapien von nahe Null auf immerhin 40 bis 45 Prozent gestiegen.
Ein Einfamilienhaus, davor ein Garten. Holger Bassarek öffnet die Tür. Schütteres, blondes Haar, extra kurz, Brille, ein Mann mit 46 Jahren. 16 Jahre zuvor schien sein Leben auseinanderzubrechen durch etwas, das Holger Bassarek erst für eine Zahnwurzelentzündung hielt, die nicht verschwinden wollte.
"Die wurde dann behandelt, und eine Woche später konnte ich nicht mehr laufen vor Schmerzen, und da kam dann der Hausarzt nach Hause und sagte, er weist mich ein in die onkologische Ambulanz. Und am Abend kam dann der Arzt zu mir und sagte: Ja, Sie sehen, wir sind alle sehr betroffen, bei ihnen besteht der Verdacht auf eine akute lymphatische Leukämie."
Ganzkörperbestrahlung, Chemotherapie. Im Verlauf der Behandlung wurde eine Knochenmarktransplantation notwendig. Als Monate später klar war, er würde überleben, fragte Holger Bassarek, ob er sein altes Leben würde wiederaufnehmen können.
"In der Anfangszeit hieß es immer: ‚Ja, Sie wissen schon, dass Sie maximal 80 Prozent ihrer vorherigen Leistungsfähigkeit erreichen.‘"
Maximal 80 Prozent, was heißt das? Bei jedem Patienten etwas anderes, für die Ärzte kaum vorherzusagen. Heute lebt Holger Bassarek mit einem Gehirn, das ihm fast immer gute Dienste leistet, aber es bringt Namen, Gesichter und die Geschichten dazu nicht mehr so zusammen wie früher.
"Wenn ich Leute sehe, weiß ich, ich kenn die irgendwoher, ich weiß aber nicht mehr woher. Ich muss versuchen, dann irgendwie die Geschichte dahinter rauszubekommen, das hat sich extrem verschlechtert."
Seiner Arbeit an der Hochschule Darmstadt kann Bassarek nachgehen, in Vollzeit. Und obwohl ihn die Therapie seine Fruchtbarkeit gekostet hat, hat er inzwischen zwei gesunde Kinder, denn er ließ vor Therapiebeginn Spermien konservieren, gegen den erklärten Willen der Ärzte, die sofort mit der Therapie beginnen wollten.
"Das war für mich so ein Brücken bauen, auch über die Krankheit hinaus: Ah, da gibt‘s so ein Leben nach der Erkrankung, ja, das war für mich so ein kleiner Hoffnungsschimmer, der für mich sehr wichtig war und der mich auch durch die Krankheit ein bisschen begleitet hat."
Einen erheblichen Teil der Kosten bezahlte er selbst, die Krankenkassen übernehmen sie nur zum Teil. Für Holger Bassarek im Alltag vielleicht am schwerwiegendsten ist die Fatigue.
"Bei mir äußert es sich so, dass es oft Tage gibt, da stehe ich morgens auf, und dann könnte ich eigentlich schon gleich liegen bleiben. Da ist die Batterie, also ich sag immer, man kann es so sagen wie eine Batterie, die ist leer, man müsste sie laden, aber der normale Ladezeitraum bei so einem Akku reicht nicht aus."
Die Liste an Spätfolgen ist damit noch nicht komplett. Seine Lunge hat Narben davon getragen, als Bassareks Körper die transplantierten Zellen abstieß, im Alltag kaum mehr spürbar, aber der Schaden ist da. In den Spitzen seiner Finger spürt er nur noch wenig, das fällt unter den Fachbegriff Polyneuropathie. Mehr zufällig fand sein Orthopäde 13 Jahre nach Therapieende, dass Teile seines Unterschenkelknochens krankhaft verändert sind, vermutlich Knocheninfarkte, also Folgen gestörter Durchblutung, wodurch das Knochengewebe abstirbt und am Ende verhärtet. Bassareks Knochen halten bisher, und er hofft, dass er nicht wie andere Patienten irgendwann Prothesen braucht. Unterm Strich, findet er, geht es ihm gut. Er hat kein künstliches Hüftgelenk, seine Lunge versorgt ihn gut mit Sauerstoff, auch sein Darm versieht selbstständig seinen Dienst.
"Bei unserer Erkrankung kann ja wirklich alles betroffen sein, und teilweise sehr, sehr schlimm betroffen sein, dass man wirklich sagen muss, das wird unglaublich eingeschränkt. Deswegen: ich bin ganz froh, dass es mir nicht so schlecht geht, aber ich weiß auch, dass es Leute gibt, denen geht es viel schlechter wie mir."
Zwei Patienten, zwei Geschichten, eine Gemeinsamkeit: beide haben dank der Fortschritte in der Krebstherapie überlebt, beide erleben jetzt, welchen Schaden die lebensrettende Therapie in ihrem Körper angerichtet hat. Holger Bassarek geht so oft sein Beruf und die private Krankenkasse es ihm erlauben, zur Reha in die Klinik. Philipp Volkerts besucht bis heute, obwohl er für die Kinderonkologie schon viel zu alt ist, seine Ärztin Gabriele Calaminus in Münster.
Den Termin in der Urologie hat der Student hinter sich gebracht. Tastuntersuchungen am Hoden, Ultraschall, Blutproben für die Hormonwerte, eine Samenprobe. Jetzt wartet er auf dem Flur von Stock 17 im Klinikturm West auf seinen Termin. Neben ihm spielen Kleinkinder Puzzle. Gabriele Calaminus holt ihn im Wartebereich ab und geht mit ihm in die Ambulanz.
Calaminus: "Hallo, Guten Tag."
Volkerts: "Hallo!"
Philipp Volkerts setzt sich auf die grüne Untersuchungsliege. Die Ärztin zieht einen Stuhl zu sich heran.
Calaminus: "War denn heute der Termin in der Reproduktion gut?"
Volkerts: "Ja!"
Calaminus: "Also haben die Dich entsprechend aufklärt, haben mit Dir zusammen überlegt…"
Volkerts: "Ja, alles. Hab ein längeres Gespräch gehabt, alles gesagt, dass das auch mit der Krankheit, mit der Nachsorge zusammenhängt. Da waren auch eigentlich keine Fragen mehr."
Calaminus: "OK, gut. Du hast so keine Beschwerden, auch Kopfschmerzen nicht…"
Volkerts: "Was ich hatte, ich hatte so ein bisschen, ich kenn mich damit nicht aus, wie so ein bisschen Depression, so ein bisschen, ja, wie soll ich sagen, also oft das Gefühl wie mit dem Selbstwertgefühl oder so allgemein mit der Stimmung so ein bisschen Schwankungen. Das war vor allen Dingen so einen Monat, bis zwei Monate nach der Operation sehr stark."
Im vergangenen Sommer hatte Volkerts plötzlich wieder Beschwerden bekommen, Kopfschmerzen wie vor sieben Jahren. Bald war klar, dass eine gutartige Zyste Gehirnflüssigkeit aufstaute. Es musste operiert, der Druck im Kopf reduziert werden, der Krebs aber war nicht zurückgekehrt. Trotzdem: es ging nicht spurlos an ihm vorüber.
Volkerts: "Es hat sich wieder verbessert, aber es ist nicht ganz weg."
Calaminus: "Also, was ja auf jeden Fall da war, Du hast ja über eine lange Zeit, ohne dass Du Symptome hattest, einen Aufstau, einen höheren Druck im Gehirn, nachdem dann der Druck behoben war, dann muss natürlich das Gehirn auch wieder in seinen Platz zurückfinden. Das kann natürlich eine Auswirkung haben. Und natürlich macht man sich ja auch Gedanken, Du hattest in dem Jahr so einige Überraschungen, und das steckst du auch nicht mal eben so weg."
Zwischen Ärztin und Patient ist über die Jahre eine große Vertrautheit gewachsen. Doch seit einiger Zeit spricht Calaminus bei jedem Termin immer wieder ein Thema an: Ihre Zuständigkeit hat Grenzen.
"Wir müssen dann irgendwann so eine Übergangssache machen, dass wir das hier auch abschließen können und dir aber alle Informationen mitgeben können, damit du einfach die Sache auch gut selbst in der Hand hast."
Volkerts: "Ja."
Philipp Volkerts Erkrankung liegt lange zurück, und die Regeln in Deutschland sind klar: die Nachsorge nach Krebs ist nach fünf, spätestens zehn Jahren zu Ende. Philipps Volkerts wird die Kinderonkologin als Vertrauensperson verlieren. Für den Besuch einer Reha-Klinik, wie Holger Bassarek ihn praktiziert, geht es Volkerts zu gut. Was ist die Alternative?
"Das mit einem Hausarzt zu besprechen, wo man eh das Gefühl hat, der hat ungefähr dreieinhalb Minuten für jemanden Zeit, weil er sonst nicht mehr hinterher kommt mit den anderen Patienten, das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, zumal die Hausärzte an sich meiner Meinung nach auch nicht das Verständnis und, ja, sagen wir mal, die Ahnung vom Thema haben."
Seine Onkologin hat dieses Wissen.
Volkerts: "Was ich kommen sehe, ist dieser Verlust der Sicherheit, OK da ist nichts."
Ende der Nachsorge
In Deutschland leben nach Schätzungen des Robert-Koch-Instituts rund 1,5 Millionen Menschen, deren Krebsdiagnose bereits fünf Jahre zurück liegt. Bei mehr als zwei Millionen Menschen sind es sogar zehn Jahre oder mehr. Rund 30.000 Menschen sind Überlebende einer Krebserkrankung im Kindes- und Jugendalter. Ist die reguläre Nachsorgezeit vorbei, fehlt jemand, der sich mit ihren Belangen auskennen würde und für sie zuständig wäre.
"Es sind Ärzte, die wir brauchen, die das Spezialwissen haben, welche möglichen Spätfolgen können auftreten."
Charlotte Niemeyer ist Kinderonkologin an der Uni-Klinik Freiburg. Sie hat dort eine Sprechstunde für Langzeitüberlebende etabliert. Finanziert durch Spenden. Die Patienten bekommen an einem Tag alle nötigen Untersuchungen. In einer Sprechstunde arbeiten eine Internistin, eine Endokrinologin und eine Psychologin zusammen, in der zweiten ein Onkologe mit einem Orthopäden. Das ist womöglich ein Konzept, das Nachahmer finden könnte.
"Ich stelle mir das so vor, dass wir das Angebot haben, an alle diese Menschen, einmal im Jahr in die Sprechstunde zu kommen und dort ihre Vorsorge/Nachsorge als Paket "One Stop, One Shop" zu bekommen und dort auch die entsprechenden Informationen zu ihrer Erkrankung zu bekommen."
Einige Länder in Europa sind Deutschland gleich mehrere Schritte voraus. In Norwegen bekommen Patienten eine Therapiezusammenfassung an die Hand, mit Checklisten, worauf sie mit ihrem Hausarzt zusammen achten müssen. In den Niederlanden existieren für ehemalige Kinder- und Jugendkrebspatienten so genannte „survivor-clinics“-Ambulanzen. Dort treffen die Patienten auf Experten, die Zugriff auf die Details ihrer Therapie haben und die wissen, was sie bedeuten.
Das National Cancer Institute NKI ist in einem moderner Bau aus Glas, Stahl und Beton im Süden Amsterdams untergebracht. Im vierten Stock mit weitem Blick auf grüne Stadtviertel hat die Epidemiologin Flora van Leeuwen ihr Büro. Sie leitet die nächste Initiative der Niederlande zur Versorgung ehemaliger Krebspatienten. Ein weiteres Ambulanz-Netz entsteht für Menschen, die als Erwachsene Morbus Hodgkin überlebt haben. In diesen Wochen nehmen die ersten Ambulanzen ihre Arbeit auf.
"Sie fangen mit den Patienten an, die noch in der klinischen Nachsorge sind, denn die sind leichter zu erreichen."
Dann werden jene Patienten kontaktiert, die schon lange aus der Nachsorge heraus sind. Van Leeuwen schätzt ihre Zahl auf 7000. Die Niederlande haben – anders als Deutschland - ein nationales, klinisches Krebsregister, daher können sie auch Patienten wiederfinden, die ihre Therapie lange hinter sich haben. Informationen über die ursprüngliche Therapie tragen die Mediziner zusammen aus Krankenakten oder erfragen sie bei den Ärzten.
Van Leeuwen: "Wir brauchen gar nicht so viele Details. Zum einen ist entscheidend, welche Bereiche des Körpers bestrahlt wurden. War es der Brustkorb, bedeutet das, dass das Herz im Bestrahlungsfeld lag, und bei Frauen könnte die Strahlung Brustkrebs ausgelöst haben. War es der Nacken, müssen wir auf die Schilddrüse achten. Was die Chemotherapie angeht, sind nach allem, was wir wissen, die Anthracycline besonders wichtig. Sie können den Herzmuskel schädigen, was mit der Zeit zu einer Herzschwäche führen kann. Diese Information tragen wir zusammen, so dass dann, wenn der Patient in der Survivor-Ambulanz vor seinem Arzt sitzt, der Arzt diese Information vor sich liegen hat."
Die Experten bekommen das Geld für ihre Arbeit von der holländischen Krebsgesellschaft. Wenn ihr Projekt gut läuft wollen sie ein ähnliches Angebot für ehemalige Brustkrebs- und Prostatakrebspatienten entwickeln. Da wären die Patientenzahlen natürlich viel höher, aber van Leeuwen ist zuversichtlich, dass so ein Projekt in den Niederlanden durchaus Chancen auf Fördergelder hätte.
Umfassende Studien laufen an
Flora van Leeuwen begann als eine der Ersten in den 1980ern mit Studien zu Spätfolgen. Sie erinnert sich noch gut, wie ein befreundeter Onkologe zu ihr kam, und ihr berichtete, dass unter den Hodgkin-Patienten, die er behandelt hatte, erschreckend viele an Leukämie erkrankten. Beide waren sich einig: da musste man etwas tun, musste herausfinden, wie oft das vorkommt und warum. Das war ihr persönlicher Startschuss, seitdem hat sie Studien zu Spätfolgen nach Brustkrebs, Hodenkrebs und vor allem Morbus Hodgkin veröffentlicht. Zur selben Zeit wie sie in den 1980ern begannen auch US-Amerikaner mit der Arbeit, aber es dauerte gut 20 Jahre, bis die erste umfassende Studie, die Childhood Cancer Survivor Study, fertig war, sie erschien 2006. 10.000 Überlebende von Krebs im Kindes- und Jugendalter und ihre Geschwister waren befragt worden. Kevin Oeffinger vom Memorial Sloan Kettering Hospital in New York war einer der Autoren.
"72 Prozent dieser Patienten hatten 30 Jahre nach ihrer ersten Krebserkrankung mindestens eine ernste, chronische Erkrankung. 42 Prozent hatten eine Erkrankung, die sie spürbar einschränkte, oder die sogar lebensbedrohlich für sie war."
Die Ergebnisse wirkten für viele Fachleute wie ein Weckruf. Sie lieferten die ersten Zahlen, die erste Grundlage überhaupt für eine evidenz-basierte Versorgung. Seit 2006 haben weitere Studien das Bild verfeinert, vollständig ist es aber längst noch nicht. Die neueste Untersuchung stammt vom Children‘s Research Hospital St. Jude in Memphis, Tennessee. Lesley Robison und seine Kollegen holten 1700 ehemalige Patienten zurück in die Klinik und checkten sie intensiv durch. Herzfunktion, Lungenfunktion, Knochendichte, dazu kognitive Tests und Leistungsprüfungen. Im Gegensatz zur Studie von 2006 verließen sie sich also nicht auf Selbstauskünfte der Patienten. Das habe sich gelohnt, sagt Robison. Denn ihr Screening habe Gesundheitsschäden aufspüren können, die sonst unentdeckt geblieben wären. Und das nutze nicht nur seiner Forschung, es habe auch Konsequenzen für die Versorgung.
"Das heißt, es ist gut, nicht zu warten bis ein Patient Beschwerden oder Symptome entwickelt. Es lohnt sich, bei jedem Patienten das abzuprüfen, von dem wir wissen, dass es durch die Therapie ein höheres Risiko trägt."
Der Bedarf an einer guten Versorgung ist also gezeigt. Und der Effekt, den eine gute Versorgung haben könnte, sei groß, sagt Kevin Oeffinger.
"Es geht oft um gesundheitliche Probleme, die man vermeiden kann, wenn man sie gut beobachtet und behandelt, so dass die Patienten gut damit leben können."
Rückschlüsse darauf, wie eine gute Versorgung aussehen muss, sind nicht das einzige, was man lernen kann. Das Wissen um mögliche Spätfolgen hat auch die Therapien selbst verändert. Lesley Robison.
"Kinder mit akuter lymphoblastischer Leukämie behandelte man in den 1970er-Jahren mit einer kombinierten Therapie: Chemotherapie natürlich, und dazu Bestrahlung des Kopfes und der Wirbelsäule. Damit konnten wir Leukämiezellen daran hindern, sich im Nervensystem festzusetzen. Die Überlebenschancen stiegen so von 20 auf 50 Prozent. Das war beachtlich. Wir merkten aber bald, dass die Kinder, die wir so behandelt hatten, ernsthafte kognitive Störungen entwickelten."
Drei Jahrzehnte später, nach einigen großen klinischen Studien ist klar: man kann auf die Bestrahlung der Kopfregion verzichten, wenn man Chemotherapeutika anders kombiniert und zum Teil direkt in den Liquorraum des Gehirns injiziert. Es gibt viele ähnliche Beispiele: Bei einer bestimmten Klasse von Chemotherapeutika, den Topoisomerase-Inhibitoren, stellte sich heraus, dass sie kaum noch sekundäre Leukämien auslösten, wenn die Ärzte sie seltener und dafür jeweils höher dosiert verabreichten. Und bei der Behandlung von Morbus Hodgkin ist die Strahlendosis, mit der die Brustregion wenn nötig behandelt wird, inzwischen deutlich geringer, nicht zuletzt, um das Risiko für Schäden am Herzen und das Brustkrebsrisiko bei Frauen zu senken.
In Europa hat sich inzwischen ein Netzwerk namens Pancare etabliert. Forscher, Ärzte aus der Kinderonkologie und Patienten haben sich darin zusammengetan, unter anderem um gemeinsam EU-Fördergelder für ihre Vorhaben zu beantragen. Mit Erfolg: Ihr erstes großes Forschungsprojekt PancareSurfup sammelt Daten aus ganz Europa zu Herzschäden, Zweittumoren und früher Mortalität. Unter anderem sollen daraus europäische Therapieleitlinien abgeleitet werden. In Forschungsprojekt Nr. 2, ENCCA, wird unter anderem ein Survivor-Pass entwickelt, der jedem Patienten ausgehändigt werden und Therapiedetails und Nachsorgeempfehlungen enthalten soll. Und in diesen Wochen startet PanCareLife. Die Forschung in Europa nehme endlich an Fahrt auf, sagt Peter Kaatsch, der in Mainz das deutsche Kinderkrebsregister leitet, und PanCareLife koordinieren wird.
"Was wissenschaftlich am interessantesten ist: Wir versuchen genetische Untersuchungen zu machen, um festzustellen, welche krebskranken Kinder sind möglicherweise prädisponiert, um dem dann entgegenwirken zu können, und den Eltern oder den betroffenen Patienten dann entsprechende Ratschläge zu geben."
Das heißt, das Projekt wird europaweit nicht nur Daten, sondern auch Gewebeproben sammeln und auswerten. Die Ergebnisse könnten zukünftige Therapieentscheidungen prägen. Zunächst wollen sich die Forscher auf Schwerhörigkeit und Infertilität konzentrieren, doch das Prinzip gelte für viele Spätschäden.
Bleiben die Menschen, die heute schon mit den Spätfolgen ihrer Krebstherapie zurechtkommen müssen. Einige Kliniken versuchen wie die Freiburger, das Problem auf eigene Faust zu lösen. Die Kinderonkologie der Uniklinik Erlangen bietet ihren Patienten an, nach dem offiziellen Ende der Nachsorge einfach weiter zu kommen. An der Uniklinik Mainz hat der Kinderonkologe Peter Gutjahr 2010 eine Spätfolgensprechstunde begründet. Für Überlebende im Erwachsenenalter hat das Uniklinikum Eppendorf in Hamburg eine Sprechstunde eingerichtet.
Noch bleibt es ein Flickenteppich. Bisher fehlt der politische Wille für eine flächendeckende Lösung, nicht zuletzt fehlt der Wille der Krankenkassen, die Kosten zu übernehmen. Gabriele Calaminus und einige Kollegen wollen ab Januar 2014 10.000 Patienten aus dem Kinderkrebsregister anschreiben, befragen, und aus den Zahlen, die sie dann erhalten, endlich die nötigen Argumente gewinnen.
Philipp Volkerts hat inzwischen die Ergebnisse aus der Reproduktionsmedizin bekommen. Seine Spermien sind fit, er kann Kinder zeugen. Auch sein Hormonhaushalt ist zurzeit in Ordnung, seine Testosteronwerte stimmen. Die Unsicherheit, dass sich daran immer etwas ändern kann, wird ihm bleiben.