Die Welt trägt Maske. Möglich, dass dieses kleine Stück Stoff, das als Schutz und Filter gegen die Invasion unsichtbarer Viren dient, als Symbol für einen Epochenbruch steht, der in die Geschichte eingehen wird. Als die ersten Bilder der Epidemie aus China eintrafen, von den Scharen maskierter Menschen in den Straßen, konnte man sich ein solches Bild bei uns nicht vorstellen.
Wenige Wochen später wurde es auch hier zur Realität und mittlerweile sind Anblick und Tragen der Maske zu einer Gewohnheit geworden. Manche machen sich fast ein Vergnügen daraus, in ihre eigenen Entwürfe etwas Individualität oder modische Differenziertheit hinein zu schmuggeln, um sich damit gegen die Gleichförmigkeit zu behaupten.
Wohingegen die Maskengegner unbelehrbar bleiben. Zugleich aber geben gerade sie auch Fragen an die Hand, denen wir uns alle stellen müssen: Was macht diese Maske mit uns? Wie verändert sie unseren sozialen Verkehr? Welcher Freiheiten beraubt sie uns? Oder was setzt sie vielleicht in uns frei? Wer werden wir sein, wenn wir die Maske wieder abgelegt haben? Mit welchem Gesicht möchten wir uns wieder zeigen? Und wie sollte in diesem maskenlosen Spiegel dann die Welt aussehen? Verwandelt?
Gesicht als Teil der Kommunikation
Metaphorisch wie realiter verweist die Maske stets auf das, was sie verdeckt: unsere Individualität, unsere Persönlichkeit, unsere verifizierbare anschaubare Identität, ausgeprägt im Gesicht. Nichts aber, was uns als menschliche Wesen mehr auszeichnet als das Gesicht.
Im physischen und ebenso im metaphysischen Sinn. 'Gesicht' hat mit 'sehen' zu tun. Mit zwei Augen blicken wir aus ihm heraus, können uns aber selbst nicht sehen, es sei denn im Spiegel, der jedoch nur ein seitenverkehrtes Bild von uns bietet ‒ das Spiegelbild. Nur dem Anderen, dem Gegenüber präsentiert es sich, seiner Wortherkunft entsprechend, als 'Angesicht', das heißt als An-Sicht, als Erscheinung, als Bild für den Anderen.
Zunächst vermittelt also das Gesicht, das sich nicht selber sieht, zwischen unserer Innenwelt und der Außenwelt, zwischen uns und den Anderen. Wir sehen und werden gesehen. Es ist damit wesentlicher Teil unserer Interaktion und Kommunikation mit der Umwelt. In den Gesichtszügen, der Mimik, im Blick des Anderen lese ich die Antwort, die Reaktion auf das, was ich ihm mit meinem Gesicht und seinem Ausdruck darbiete oder vielleicht auch verberge. Immer ist das Gesicht eine Brücke zwischen unserem Inneren und der Außenseite, die als Ansicht und Anblick von uns erscheint.
Dieses Bild, das wir von uns zeigen ‒ oder das wir uns von Anderen machen, begleitet die gesamte Religions-, Kult- und Kulturgeschichte der Menschheit, es formte die Etymologie und die ihr entspringende Metaphorik. In der 'Person' ist noch das lateinische Wort 'persona' für 'Maske' enthalten, das sich wiederum aus 'per-sonarex' herleitet, was 'hindurch-tönen' heißt.
In der römischen Antike waren die Theatermasken mit einer Art Schalltrichter so gestaltet, dass ihre Träger ihre Stimme hindurchschicken konnten: Die Maske als Freisetzung der persona, Verhüllung als Offenbarung. Eine Dialektik, die auf den prinzipiellen Bildcharakter des Menschengesichts verweist ‒ und ebenso auf das Drama seiner Formung, Darstellung und Bemächtigung. Ein Drama, das bis heute andauert und in den digitalen Techniken der Gesichtserkennung, seiner synthetischen Herstellung als cyberface eine Fortsetzung findet, die dieses Menschenbild auf abgründige Weise in Frage stellen.
Physische Präsenz weicht virtuellem Bild
Auch das Sprechen "von Angesicht zu Angesicht", das Einander‑in‑die‑Augen‑Schauen weicht zunehmend den digitalen Kommunikationsformen, die sinnliche, physische Präsenz weicht der allgegenwärtigen Präsentation im virtuellen Bild. Der schier unendlichen künstlichen Bildproduktion entspricht ein schier unermesslicher Bildkonsum, der kollektive Konsum, ja auch Konsumzwang des eigenen ausgestellten und des fremden uns dargebotenen Gesichts. Und dieses Gesicht präsentiert sich seit Beginn der Pandemie sowohl in der Realität wie auch medial weitgehend verhüllt.
Sein dialektischer Bezug auf die Maske wird stofflich sichtbar in einem eigenen Requisit, das es nicht nur in seiner physischen Form, sondern auch als Metapher zu verstehen gilt.
Was aber bestimmt das Gesicht als Gesicht? Auch die meisten Tiere haben Augen, Mimik, Ausdruck, aber wir sprechen bei ihnen nicht von einem Gesicht. Den wesentlichen Unterschied zwischen Mensch und Tier macht die Art des Sehens aus, der Blick und das Blicken selbst. Denn im Blick, mehr noch als in der Sprache, wird menschliches Bewusstsein als Selbstbewusstsein offenbar. Der Moment, in dem das kindliche Individuum sich erstmals im Spiegel erkennt, bezeichnet das Erwachen des Bewusstseins von sich selbst. Erst damit wird auch der bewusste Blickaustausch mit Anderen möglich, der wesentlicher Teil der sozialen Beziehungen ist.
Gesicht als wesentlicher Ausdruck
Nur der Mensch ist also fähig, den Blick zu erwidern, im Guten wie im Schlechten, ihn zu verweigern oder zu verbergen, worin sich das gesamte Drama der zwischenmenschlichen Verhältnisse abspielt. Das Gesicht ist der wesentliche Ort und Ausdruck des Humanum, seiner Würde als Mensch, auch wenn er blind, entstellt oder krank ist, oder gar kriminell. Weshalb jeder Angriff auf das Gesicht, auch die symbolischen Angriffe auf öffentliche Abbildungen unliebsamer Politiker oder die Säureattentate in Museen, als stärkste Verletzung einer Person empfunden werden.
Es ist der Angriff auf den sichtbar-unsichtbaren Ort unserer Identität, auf unsere Menschenwürde, auf unser Dasein und Menschsein als Ganzes. Infolge der Pandemieschutzmaßnahmen erleben wir nun die ethisch gebotene Pflicht zu einer Mund- und Nasenabdeckung, die nur die Augen frei lässt. Für viele eine Provokation, weil sie sich dadurch ihrer Grund- und Freiheits- und Selbstbestimmungsrechte beraubt fühlen ‒ die Maske gewissermaßen als Maulkorb vor dem Gesicht.
Zwar ist immer noch eine Kommunikation Auge in Auge möglich, aber ohne Mimik, die das Augenspiel ergänzt. Wie viel aber vermögen wir daraus noch abzulesen? Oder sollten wir den Anderen gar an seiner Maske erkennen?
Beim Einkaufen, in den Straßen lassen sich derzeit die interessantesten Beobachtungen machen. Da begegnet einem, selbst die Maske tragend, ein kleines vielleicht zweijähriges Kind an der Hand der Mutter und, als könne es hinter der Maske das Mienenspiel erkennen, antwortet es auf das Lächeln mit freudigem Winken. Woran kann es ablesen, dass ihm der fremde Andere so wohlgesonnen ist? Ist es vielleicht ein wärmerer Blick?
Das erinnert in böser Umkehrung an einen jüdischen Witz: Ein SS-Mann pflanzt sich vor einem Juden auf, richtet das Gewehr auf ihn und schreit: Jude, ich habe ein Auge aus Glas und ein echtes. Sag mir, welches das Glasauge ist, und du bleibst am Leben. Wenn du dich irrst, schieße ich. ‒ Ohne Zögern zeigt der Jude auf das Glasauge. ‒ Stimmt, sagt der SS-Mann. Wie hast du das erraten? ‒ Oh ganz einfach: Es hat einen so menschlichen Blick!
Forschung zu Muskelbewegungen des Auges
Der amerikanische Psychologe und Ethnologe Paul Ekman hat in den 1960er‑Jahren insbesondere bei Indigenen in Papua-Neuguinea herausgefunden, dass unsere Mimik mit ihren spezifischen Muskelbewegungen universal sei. Die Ergebnisse seiner heute allerdings umstrittenen Untersuchungen zu den mimischen Affektzuständen, die weitgehend auf den Forschungen Darwins und des Neurologen Duchenne de Boulogne fußen, fanden Eingang in die Arbeit des FBI und der CIA. Sie wurden eingesetzt als Lügendetektoren bei der Emotions- und Gesichtererkennung im kriminellen, terroristischen und Spionagebereich.
Auch Software-Unternehmen bedienen sich seiner Methoden. In der Fülle der Muskeln, die unsere Mimik gestalten, entdeckte Ekman einen Ringmuskel zwischen Augenbraue und Oberlid, dessen kaum wahrnehmbare Aktivierung er für das "echte" Lächeln verantwortlich macht, wohingegen beim "falschen" Lächeln nur der Mund dies anzeigt, jener Augenlidbereich aber unbewegt bleibt, sich nicht verengt und verzieht. Möglich, dass das kleine Mädchen, das in seinem kurzen bisherigen Leben auf eine weitgehend maskierte Umwelt traf, in der Begegnung mit anderen das unwillentliche Muskelspiel um die Augen wahrgenommen und darum so positiv reagiert hat.
Fast könnte man sagen, dass wir durch das Maskentragen zu einer neuen Hermeneutik, einem neuen Verstehen aufgerufen sind, das via Maske uns auch das Lesen im Gesicht des Anderen neu zu lehren vermag. Eine Hermeneutik, die mehr als dem bloß physiognomischen auch dem metaphorischen Verständnis gelten sollte. Ekmans ausschließlich muskel-physiologische Hermeneutik reicht indes über Darwins Forschungen, über Muskel- und Schädelkunde weit zurück bis zu ihren Anfängen im 18. Jahrhundert.
"Wir urteilen stündlich aus dem Gesicht, und wir irren stündlich", stellte der Philosoph, Physiker und Aufklärer Georg Christoph Lichtenberg fest. Der Satz stammt aus seiner 1778 erschienenen Abhandlung über die Physiognomie, die gegen den Theologen Johann Caspar Lavater gerichtet war. Der hatte den Versuch unternommen, menschliche Charaktereigenschaften, Tugenden und Untugenden aus der Form und Bildung des Gesichts und des Schädels abzuleiten. Lichtenberg sprach Lavaters physiognomischen Unternehmungen jeglichen Erkenntniswert ab und übergoss sie allenthalben mit seinem Spott.
Das war ein Jahrzehnt, bevor mit der französischen Revolution, als Kulminationspunkt der Aufklärung, ein neues Zeitalter anbrach, das in gewissem Sinn auch ein anderes Gesicht annahm, ein anderes Aussehen. "In Masken geht die Zeit", konstatierte noch anderthalb Jahrhunderte zuvor in schöner Mehrsinnigkeit Shakespeare.
All das bezeugt, was prinzipiell in jedem, auch im unverhüllten Gesicht angelegt ist: nämlich ein anderes als das "wahre" Gesicht zu zeigen, so wie es die sozialen Rollen, Positionen, Situationen uns unablässig vorschreiben. Jedes Gesicht ist immer auch das Feld solcher Paradoxien, die in der Maske sichtbar zum Ausdruck kommen und durch keine physiognomische Kunst zu tilgen sind.
Der Philosoph und Soziologe Helmuth Plessner hat in den 1920er‑Jahren diese Dialektik im sozialen menschlichen Verkehr aufgezeigt. Sein Buch "Grenzen der Gemeinschaft" stellt eine Art Plädoyer für die Maske dar, welcher er grundlegende Bedeutung beimisst: im Sinne von Takt und Höflichkeit, aber auch als Schutz für das eigene Innere. Das heißt all den ungeschriebenen, oft subtilen Regeln, die unseren Umgang, unsere Rolle in der Gesellschaft bestimmen ‒ im Unterschied zu den allenfalls maskenlosen, vorbehaltlosen Formen familiärer Gemeinschaft und der Liebe.
"Im Indirekten zeigt sich das Unnachahmliche des Menschen", verdichtet Plessner seine Einsicht. Nicht unähnlich der von Nietzsche, der einmal notiert: "Alles was tief ist, liebt die Maske".
Wir brauchen den Schutz der Masken
Wir brauchen die Masken, ihren Schutz, das Spiel mit ihnen, das Rollenspiel, zu dem auch der Humor gehört. Achtung, Takt, Diplomatie, das Gebot, den Anderen nicht zu beschämen ‒ all dies sind von Plessner dargestellte humane Qualitäten.
Der Kunsthistoriker Hans Belting hat 2013 in seinem schönen großangelegten Buch "Faces. Eine Geschichte des Gesichts" die Entwicklung der Darstellung und Deutungsversuche des Gesichts beschrieben: von den Kulten über die Neuzeit bis zur Moderne. Doch schon in der Einleitung stellt er einschränkend und gewissermaßen gegen alle darwinistischen Selbstgewissheiten gewendet fest:
"Alles, was vom Gesicht beschreibbar und erzählbar ist, ist nur Spiegel für das, was nicht direkt da ist, sondern umstellt ist von Kulissen, in welche die Gesellschaften und Kulturen das Gesicht eingeschlossen haben."
Somit beschreibt er mit den immerwährenden Deutungsversuchen auch deren immerwährende Vergeblichkeit – und ebenso die Rebellion gegen diese Vergeblichkeit, aus der gleichwohl die größten Kunstwerke hervorgingen: Von der Ikone über das gemalte Portrait bis zur Fotografie, zum Film und dem gesichtslosen cyberface unserer Zeit.
Mit anderen Worten: Was wir bei all diesen Versuchen einfangen, ist immer nur eine Maske. Es ist die Vergeblichkeit, des Ungreifbaren habhaft zu werden, welches das Gesicht als Bild und Maske uns immer schon darbietet. Denn immer gerät das Gesicht dabei ins Spannungsfeld zwischen dieser Ungreifbarkeit zum einen und seiner möglichen Manipulation zum anderen.
Gesichtsmanipulation in sozialen Medien
Letzterer sind heute dank der sozialen Medien, der digitalen Technik wie auch der fortgeschrittenen chirurgischen und chemischen Lifting-Verfahren kaum Grenzen gesetzt. All diese korrigierten, retuschierten Selbstbilder werden zu jener Maske, hinter der oft nichts mehr "durchtönt" als eine austauschbare, gleichförmige Massenidentität.
Oder mit Beltings Worten: "Der Gesichtskonsum in den Medien nährt sich von Gesichtern, die bereits als Masken entstehen, also 'gemacht' werden, während sich gleichzeitig im Internet ein privater Konsum von Gesichtern breit macht, bei dem man sein eigenes face für andere ins Netz stellt, als würde man sich an einer imaginären Dauerparty beteiligen."
Die Auswirkungen dieses Trends auf unser Menschenbild sind nicht absehbar. Vielmehr scheint, als fände dieser Trend im Zuge der Pandemie vorübergehend sowohl Ausdruck wie Persiflage in einer schlichten medizinischen Maske, die realen Schutz vor dem realen Virus und ebenso metaphorischen Schutz vor der viralen Bilderflut bietet. Als verhüllte Erinnerung, gewissermaßen "Deckerinnerung", wie Sigmund Freud es nannte, an ein anderes, vielleicht wieder zu gewinnendes Selbstbild, mehr noch: an ein kollektiv erst zu erschaffendes Menschenbild ‒ als ein Wunschbild der Zukunft.
Diskussionen um Burka und Vermummungsverbot
Der Philosoph und Schriftsteller Walter Benjamin stellte etwa in diesem Sinn 1929 in seinem Buch Einbahnstraße fest: "Menschen als Spezies stehen zwar seit Jahrtausenden am Ende ihrer Entwicklung; Menschheit als Spezies aber steht an deren Anfang."
Jene Kunst des Deutens, die uns gegenwärtig in der Distanz und verhüllten Lesbarkeit von Maske zu Maske auferlegt ist, könnte uns dies bewusst machen. Und vielleicht eine Brücke sein zu der von Benjamin visierten Entwicklung, zur Annäherung an dieses Wunschbild der Zukunft.
Zunächst sind wir infolge des Ausfallens der Mimik mehr als sonst auf die Augen verwiesen, auf jene geringe Muskelbewegung um sie herum – sowie auf Stimme und Gestik, die anderen Formen der Körpersprache. Da die Augen der wesentlichste Teil des Gesichts sind, ist ihre "Lektüre" nur mithilfe des feinen Muskelspiels die größte Herausforderung.
Bekannt sind die politischen Diskussionen um die Burka, den Ganzkörperschleier, der vor den Augen ein Gitter hat. Für einen im Licht der Aufklärung gebildeten Anspruch auf offenen Blickaustausch wird er weitgehend als Zumutung empfunden. Dabei ist fraglos, dass die Vollverschleierung den Frauen ebenso als Schutz dienen kann, sprich: selbst zu sehen, ohne gesehen zu werden. Worin auch Macht über das Gegenüber, den Anderen liegen und sich ausdrücken kann ‒ und damit noch eine andere Dialektik, als die einseitig westliche Sicht sie erfasst.
Ganz unabhängig davon versuchen Maskengegner in der Pandemie das Vermummungsverbot ins Feld zu führen, das Teilnehmern von Demonstrationen verbietet, ihr Gesicht zu verdecken. Es beruht allerdings gerade auf dem demokratischen Anspruch auf Transparenz, auf gleichseitige offene Begegnungsweisen, zumal im anonymen sozialen Umgang miteinander. Denn, wie der kürzlich verstorbene Staatsrechtler Michael Stolleis in einem Interview betonte, bleibt das Verbot auch in Zeiten der Pandemie als Zeit eines vorübergehenden Ausnahmezustands respektive vorübergehender Notverordnungen unangetastet.
Der italienische Philosoph Giorgio Agamben hat vielfach mit bedenkenswerten Argumenten auf die Gefahren hingewiesen, die der Demokratie auch durch nur vorübergehende Notverordnungen drohen, wenn damit unter der Hand eine neue Rechtslage der Entrechtung, sprich Überwachung und Entmündigung der Bürger geschaffen würde. In der NZZ schrieb er:
"Wie konnte es geschehen, dass von einem Tag auf den anderen jeder auf sich selbst und auf die anderen blickte, als wäre er, als wären sie bloße Agenten der Ansteckung, die ihr Gesicht mit einer Maske zu bedecken und einen Sicherheitsabstand von zwei Metern einzuhalten hätten?" Agambens in Zeitungen veröffentlichte Kommentare sind mittlerweile in einem kleinen Band zusammengefasst, unter dem Titel: An welchem Punkt stehen wir? Die Epidemie als Politik. Resümierend heißt es da:
"Ein Land, das freiwillig auf sein eigenes Gesicht verzichtet, indem es die Gesichter seiner Bürgerinnen und Bürger allerorts mit Masken verhüllt, ist ein Land, das seine politische Dimension ausgelöscht hat. In diesem leeren Raum, Gegenstand einer beständigen, grenzenlosen Überwachung, bewegen sich voneinander isolierte Individuen, die den Anschluss zum unmittelbaren, sinnlichen Fundament ihrer Gemeinschaft verloren haben. Sie können nur noch Botschaften an gesichtslose Namen richten."
Das unverhüllte Gesicht gilt dem renommierten Kulturkritiker als "die wahre Stadt" und damit auch als "politisches Element", das damit einer anderen als der Biosphäre zugehörig sei. Entsprechend bezieht seine emphatische Kritik Frontstellung gegen eine von ihm so behauptete Biopolitik. Diese wende sich gegen die Errungenschaften der Aufklärung, ihre Freiheits- und Grundrechte, indem sie zunehmend das natürliche Leben des Menschen, die sogenannte Biosicherheit, in das Kalkül und die Mechanismen der Macht einbeziehe. Dass dem linksgerichteten Philosophen Agamben gerade Rechte und Verschwörungsanhänger sekundieren, kann ihn indessen nicht anfechten.
Ethische Dimension der Maske
So sind seine mit sensiblem Scharfsinn vorgetragenen Argumente zwar einerseits sehr ernst zu nehmen. Andererseits aber bleibt angesichts der Opfer und Toten höchst fragwürdig, dass seine Argumentation die ethische Seite der Maßnahmen ausblendet, wenn nicht gar ausschließt.
Was wiederum lehrt: So wachsam wir einerseits auf Einhaltung unserer demokratischen Rechte achten sollten, so sorgsam und aufmerksam bleibt uns doch der Umgang mit dem Anderen aufgegeben, der fremden wie der eigenen Gefährdung, die keine erfundene Tatsache ist.
Wenn es denn etwas Positives gerade an der Maske gibt, so die kollektive Lektion: dass sie nicht nur uns selber schützt, sondern vor allem auch den Anderen. Gegen dieses uns alle gleichermaßen verbindende Ethos der Gegenseitigkeit wiegen die von Agamben und jenen "Querdenkern" eingebrachten Vorbehalte im Hinblick auf die vorübergehende Beschneidung unserer Bürgerrechte geringer, nicht aber die Gefahren, die auch damit verbunden sind.
Zu diesen Gefahren gehören nicht zuletzt auch Diskriminierungen, die derzeit anlässlich der Impfkampagnen sich fortzusetzen drohen: denunziatorische Fingerzeige auf Andersdenkende, Verdächtigungen und Schuldzuweisungen, wer das Virus eingeführt habe, neurotische Berührungsängste, die schnell zur Ausgrenzung führen. Somit besteht auch die Gefahr für eine neue Quasi‑Klassentrennung zwischen Geimpften und Nichtgeimpften samt Privilegien und Ausschlussverfahren. Leicht könnte sich so das alte biblische Gebot der Nächstenliebe verkehren in ein: "Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst!"
Diese Pandemie offenbart mit der Distanz, zu der sie uns zwingt, nicht zuletzt den Zustand unseres Miteinanders, den der Gesellschaft wie auch des ganzen Planeten. Sie ist ein vielfacher Spiegel. Damit folgt sie der Dialektik, die der Maske immer schon eigen ist: im Verhüllen Verweis auf das Verhüllte zu sein, also für uns auf die gefährliche Krankheit, und ebenso Offenbarung der Wahrheit unserer selbst und der Welt zu sein.
Zu dieser Dialektik gehört, dass auch das bloße Gesicht selbst, wie in jenem unechten Lächeln, als Maske erscheinen kann. Denn nur als unzertrennliches Doppel spielen Gesicht und Maske in allen Kulten und Kulturen mit dieser Ambivalenz von Verhüllung und Offenbarung, von Verstellung und Entdeckung, von eigentlich/uneigentlich, echt und unecht, wahr und falsch, von Sein und Schein, von Lüge und Wahrheit.
Einer gewaltsamen Enthüllung, sprich Trennung beider Bezugssphären aber, so lehrte es Schiller in seinem Gedicht vom Verschleierten Bildnis zu Sais, droht gar der Tod. Was enthüllt wurde, bleibt eine Leerstelle, nur der Tod zeigt seine Fratze. Der moralische Anspruch auf schonungslose, nackte, gleichsam maskenlose Wahrheit im Umgang miteinander ist, wie Helmuth Plessner es eindrücklich darlegte, daher ebenso fragwürdig wie Verstellung, Betrug und Lüge, ob Fratze oder Pokerface.
Maske als Ausdruck des unmaskierten Menschen
Nicht zuletzt ist es der Theaterregisseur Peter Brook, dem sich die schönsten Ausführungen über die Maske verdanken. In einem Aufsatz erzählt er vom Umgang mit echten balinesischen Masken, den er anlässlich einer Inszenierung mit seinen Schauspielern erprobte. Der anwesende balinesische Beobachter war zunächst schockiert, als die unerfahrenen Mimen die kultischen Masken probierten, im Unklaren darüber, dass diesen eigene Kräfte innewohnen, denen sie sich im Geiste annähern und anpassen müssten, in Atem, Tempo und Rhythmus. Bis nach und nach sich ein Zusammenklang von Schauspieler und Maske entwickelte, so dass ein Spiel möglich wurde, in dem die äußerlich getragene Maske sich als Rolle ihrem eigenen inneren Selbst bildete.
Brook beschreibt auch den Prozess, genauer die Überraschung, die jeder erlebt, der sich eine Maske überstülpt und buchstäblich im Moment das Gesicht verliert: die tiefe Verunsicherung, die im weiteren jedoch frei macht, frei werden lässt für innere, andere, gewandelte Wahrheit ‒ was Sinn eben aller Masken, allen Maskenspiels in Kult, Karneval oder auf der Bühne ist. Oder, wie Brook das grundsätzliche Paradox einmal zusammenfasst: "dass die wahre Maske der Ausdruck eines unmaskierten Menschen" ist.
Das gilt bis hin zu unserer aktuellen Lage: das Gesicht verlieren, um frei zu werden, frei für neue Perspektiven, einen klareren Blick, um im besten Fall ein humaneres Gesicht zu gewinnen. Oder mit den Worten Brooks am Ende seines Essays, als kommentiere er unsere pandemische Gegenwart und die ihr fehlende metaphysische Dimension:
"Wir sind in einem solchen Repertoire gefangen, dass wir selbst dann, wenn ein Teil von uns es möchte, über eine bestimmte Grenze hinaus unsere Augen nicht öffnen, unsere Brauen nicht runzeln und unsere Münder und Wangen nicht bewegen können. Und auf einmal haben wir die Fähigkeit, es zu tun: wir öffnen unsere Augen weiter und heben unsere Brauen höher, als wir das je zuvor getan haben ..."
... und, so können wir ergänzen, als die Herren Ekman, Darwin oder Lavater es je zu beschreiben vermocht hätten.
Chance für eine neue menschengerechtere "Normalität"
Eben diese Chance haben wir auch heute. Die Rückkehr zur sogenannten "Normalität" sollte via Masken und Distanzerfahrung eine andere bewusstere menschengerechtere "Normalität" schaffen, nicht ein Weitermachen wie bisher respektive wie vorher.
Es war der Philosoph Emmanuel Lévinas, der aus dem Anblick des Anderen, seinem 'Antlitz' ‒ französisch 'visage' im Unterschied zu 'face' ‒ auf die ethische Verantwortung schloss, zu der wir Menschenwesen durch die schlichte Tatsache des Anderen aufgerufen sind. Wir selber sehen uns nicht, nur im Spiegel erhalten wir ein seitenverkehrtes Bild von uns selbst und werden uns unserer selbst bewusst.
Dieses Bild ist immer auch Maske. Im Anderen aber, vor allem in seinen Augen, sehen, spiegeln wir uns. Die Ethik, die uns derzeit das Masketragen auferlegt, entspricht genau jener Ethik von Lévinas, die jenseits aller Evolutionstheorie eine Ethik der Verantwortung für den Anderen ist ‒ die sich ergibt allein aus der Tatsache des Anderen, des fremden Gesichts neben uns, das derzeit weitgehend verhüllt ist. Die Augen aber lässt es frei.