Peter Sawicki: Immer mehr Asylverfahren landen in Deutschland vor Gericht. Was bedeutet das aber für die Justiz und möglicherweise für die Politik? Das fragen wir jetzt den Rechtsanwalt und Asylrechtsexperten Thomas Oberhäuser. Guten Abend!
Thomas Oberhäuser: Guten Abend auch.
Sawicki: Stehen einige Gerichte in Deutschland jetzt vor dem Kollaps?
Oberhäuser: Das wird man fast annehmen müssen. Die Zahl der Asylverfahren ist so gewaltig gestiegen, dass das auch ein gut organisiertes Gericht kaum bewältigen kann.
Sawicki: Haben solche Gerichte dann möglicherweise bald keine Kapazitäten mehr für andere Fälle?
Oberhäuser: Das ist in der Tat ein Problem, das aber schon seit einigen Monaten festzustellen ist. Die Gerichte arbeiten teilweise sehr schnell, aber sie müssen natürlich gründlich arbeiten und sie können für ein Verfahren nicht einfach die Hälfte der Zeit, die früher notwendig war, zusammenschneiden, sondern die müssen trotzdem in der Zeit, die die Fälle eben brauchen, arbeiten und dann bleiben andere Fälle eben liegen.
Sawicki: Wenn wir auf solche abgelehnten Asylanträge schauen, die vor Gericht verhandelt werden, wie lange dauert es, um so einen Fall vor Gericht zu verhandeln?
Oberhäuser: Auch das ist sehr unterschiedlich. Es gibt Gerichte, die terminieren nur in bestimmten Fallkonstellationen überhaupt, lassen andere Fälle zunächst mal liegen, weil sie sagen, zum Beispiel Afghanistan, wir wissen gar nicht, was in einem halben Jahr, in einem dreiviertel Jahr sein wird, wie sollen wir da eine Prognose abgeben, die ja auch im Asylverfahren notwendig ist, um eine Gefährdungslage wirklich einschätzen zu können.
Andere Gerichte ziehen dann Verfahren vor, wo Leute straffällig geworden sind, um da eine Entscheidung schnell zu finden. Das machen die Gerichte ganz unterschiedlich, aber es ist klar, dass, wenn bestimmte Fälle nur verhandelt werden, die anderen alle liegen bleiben, und das löst sich nicht von selbst auf.
Sawicki: Aber sprechen wir von Wochen oder von Monaten bei solchen Fällen?
Oberhäuser: Wir sprechen mindestens von Monaten, teilweise auch von Jahren – also nicht Jahren, aber zumindest ein Jahr, eineinhalb Jahre sind momentan in Konstellationen, wo nichts Besonderes vorfällt, durchaus gängig.
"Die Leute müssen alle eingearbeitet werden"
Sawicki: Die Situation, so wie sie jetzt da ist, dürfte sich längere Zeit nicht ändern?
Oberhäuser: Die Justizbehörden tun vieles, um die Gerichte mit weiteren Richterstellen auszustatten und entsprechend die Verfahren dann von mehr Leuten bearbeiten zu lassen. Aber die Leute müssen alle eingearbeitet werden. Ein Asylrichter, der hat ja eine hohe Verantwortung, die er nicht einfach irgendwie innerhalb von wenigen Wochen sich aneignen kann. Da gehört ja viel Erfahrung auch dazu, um einschätzen zu können, wie man Menschen fragen muss, wie man beurteilen kann, ob jemand glaubwürdig ist oder weniger glaubwürdig. Das dauert alles seine Zeit und deswegen werden die Verfahren auch nicht schnell abgearbeitet werden können.
Sawicki: Wer ist denn schuld daran, dass es dazu gekommen ist? Der Bund deutscher Richter hat ja schon vor längerer Zeit davor gewarnt, dass die Kapazitätsgrenzen erreicht sind.
Oberhäuser: Natürlich, wenn viele Flüchtlinge nach Deutschland kommen, die beim Bundesamt dann auch einen gewissen Rückstau bewirkt haben, war klar, das wird irgendwann mal entschieden werden, das wird irgendwann mal die Gerichte erreichen. Und wenn das Bundesamt Entscheidungen fällt wie zum Beispiel in Afghanistan, die mehrheitlich falsch sind, dann muss man sich auch nicht wundern, dass das dann vor Gericht verhandelt wird.
"Ein Armutszeugnis und kein Zeichen für Qualität"
Sawicki: Das Innenministerium sagt, die hohe Zahl der Gerichtsverfahren jetzt ist ein Erfolg der Arbeit des BAMF. Stimmen Sie dem zu?
Oberhäuser: Es ist natürlich ein Erfolg, dass die mehr Verfahren entschieden haben, und logisch, wenn mehr Verfahren entschieden werden, dass die in einer bestimmten Quote zu Gericht gehen, dass auch die Gerichte mehr belastet werden. Das ist schon logisch. Aber es wäre natürlich ein Erfolg, wenn das Bundesamt richtig entscheiden würde. Dass 60 Prozent vom Gericht geregelt werden müssen, weil sie falsch entschieden wurden, ist doch ein Armutszeugnis und kein Zeichen besonderer Qualität.
Sawicki: Die Linken-Abgeordnete Jelpke hat den Vorwurf gemacht, dass politische Vorgaben der Regierung auch schuld daran sind. Wir haben das gerade im Beitrag gehört. Stimmen Sie mit dem überein?
Oberhäuser: Das muss man sicherlich bejahen für den Bereich subsidiärer Schutz für Syrer. Das war vor der Änderung des Gesetzes mit dem temporären Ausschluss vom Familiennachzug ein ganz geringer Anteil der Personen, die bloß subsidiären Schutz bekommen haben, die aus Syrien kamen. Der war im einstelligen Prozentbereich. Der ist dann nach der Gesetzesänderung plötzlich auf über 75 Prozent hochgeschnellt, ohne dass sich in Syrien irgendwas geändert hätte. Das kann nicht anders erklärbar sein als durch politische Vorgaben.
Sawicki: Das heißt, es sind momentan auch zu viele Syrer in Deutschland da, die zu Unrecht mit dem eingeschränkten Schutzstatus ausgestattet sind?
Oberhäuser: Das ist jedenfalls in Süddeutschland, in Baden-Württemberg, Bayern und Hessen haben das alle drei Obergerichte so entschieden, dass jedenfalls für wehrpflichtige Syrer immer der Flüchtlingsschutz rauskommen muss. Das wird weiterhin hier in Süddeutschland dann so sein, dass man als männlicher wehrpflichtiger Syrer den Flüchtlingsschutz bekommt und in anderen Bundesländern eben nicht, und das liegt nun daran, dass es verschiedene Oberverwaltungsgerichte gibt, die entsprechend verschiedene Auffassungen von der Gefahrenlage haben.
Sawicki: Was heißt das dann für die Syrer, die Asylanträge in Deutschland stellen?
Oberhäuser: In Süddeutschland können die männlichen Syrer ihre Familienangehörigen nachholen. In Norddeutschland geht das nicht.
Sawicki: Und bleibt das dabei?
Oberhäuser: Bislang hat sich das Bundesverwaltungsgericht geweigert, die Verfahren quasi als Pilotverfahren irgendwie mal einheitlich zu lösen und zu klären. Die haben gesagt, das ist nichts, was reversibles Recht betrifft, was das Bundesverwaltungsgericht dann beurteilen kann, sondern das ist in der Tat Aufgabe der einzelnen Oberverwaltungsgerichte, das zu regeln, und dann bleibt es wohl dabei.
Afghanen - Entscheidungspraxis des Bundesamts mehr oder weniger willkürlich
Sawicki: Was bedeutet die Situation jetzt für Afghanen?
Oberhäuser: Bei den Afghanen ist es auch so, dass die Entscheidungspraxis des Bundesamts, jedenfalls was Familien betrifft, mehr oder weniger willkürlich ist. Man kann überhaupt keine Unterscheidung treffen, wann das Bundesamt den Personen, wenn es mehrere Familienangehörige sind, Abschiebungsverbote zuspricht und wann sie völlig ablehnen. Das führt dazu, dass natürlich all die Personengruppen, wo es abgelehnt wurde, zu Gericht gehen und dann die Gerichte in aller Regel den Familien auch den nationalen Schutz zusprechen.
Das betrifft Familien. Bezüglich alleinstehenden insbesondere jungen Männern passiert es ja eher, dass, wenn sie entschieden werden, das abgelehnt wird, und das hängt nun damit zusammen, dass es noch immer die Vorstellung gibt, dass man als junger gesunder Mann in Afghanistan irgendwie auch zurechtkommt, dass man nicht überall von Taliban rekrutiert werden will, dass man nicht in ganz Afghanistan Angst haben muss, dass man nichts zu essen bekommt, keine Unterkunft bekommt etc., und das hängt natürlich mit den Lageberichten zusammen, die das Auswärtige Amt erstellt. Da sind die Gerichte unterschiedlich, sagen wir mal, bei der Beurteilung, wie ernst solche Lageberichte zu nehmen sind, oder welche anderen Berichte vielleicht was anderes wiedergeben. Das ist auch eine Entscheidung des Gerichts, was man haben möchte.
Sawicki: Aber kann sich so ein Gericht dann auch über Lageberichte des Auswärtigen Amtes hinwegsetzen, wenn es anderer Auffassung ist, was die politische Lage in Afghanistan anbetrifft?
Oberhäuser: Der Lagebericht des Auswärtigen Amts, das ist ja eine Informationsquelle. Das ist ja mitnichten die allein seligmachende oder alleinige gar, sondern das ist eine von vielen. Es gibt andere Staaten dieser Welt, die haben auch ihre Lageberichte. Die passen manchmal zusammen, manchmal passen sie nicht zusammen. Das Gericht wertet dann auch die Zeitungsberichte aus, wertet andere Informationsquellen aus, auch von Nichtregierungsorganisationen, was die über Afghanistan berichten, und macht sich daraus ein Gesamtbild. Das kann natürlich abweichen von dem, was das Auswärtige Amt gerne hätte.
Sawicki: Was könnte das jetzt heißen für die Abschiebepraxis Richtung Afghanistan?
Oberhäuser: Bei den Familien kann man es ja ganz klar machen. Das Bundesamt sagt teilweise, Familien müssen geschützt werden. Teilweise sagen sie aber nein, die müssen nicht geschützt werden, und dann sagt das Gericht, doch, die müssen geschützt werden. Das liegt daran, dass man sagt, Familien, wenn sie keine weiteren Anknüpfungsmöglichkeiten in Afghanistan haben, die werden sich auf Dauer jedenfalls nicht über Wasser halten können.
Und das führt dann dazu, dass die Personen nicht abgeschoben werden können. Man kann jetzt überlegen, ob das für alleinstehende junge Männer aufgrund der aktuellen Lage in Afghanistan auch einfach so möglich ist, so wie das die Gerichte bisher mehrheitlich entscheiden, weil es gibt ja Millionen Binnenflüchtlinge in Afghanistan. Es gibt quasi keine Wirtschaft, insbesondere keine Wirtschaftsentwicklung, die irgendwas Positives verheißt. Man kann natürlich auch die Frage stellen, ist es denn für den einzelnen auch jungen gesunden Mann menschenwürdig, in Afghanistan zu leben, und wenn die Gerichte irgendwann mal umkippen und sagen, das ist vielleicht doch nicht nur wegen den Anschlägen und wegen der möglichen Rekrutierung durch die Taliban so gefährlich, sondern auch, weil man selber gar nicht sich ernähren könnte, wenn man keine familiären Bindungen hat in Afghanistan, dann wird man wohl sagen müssen, dann kann man die auch nicht abschieben.
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