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Mein Krieg

Zu den Büchern, die einem den Weg ins Leben weisen, gehören nicht selten die frühen Zufallsfunde auf den Pirschgängen schulfreier Nachmittage. Um 1980 herum fand ich in einer Ramschkiste ein dickes Taschenbuch: Erich Kuby "Mein Krieg – Aufzeichnungen aus 2129 Tagen". Zur vielleicht ersten Generation zählend, die vom Dritten Reich ausführlich im Schulunterricht gehört hatte, stieß das Buch dennoch auf eine empfindliche Lücke, denn alles, was man vom Soldatenleben zwischen 1939 und 45 zu lesen bekam, war entweder bieder-brave Heinrich-Böll-Literatur, oder deren krasses Gegenteil, schlimmste Militaria-Pornographie, mit der sich bis heute trübe Geschäfte machen lassen. Die Wahrheit des Kuby-Feldzugs quer durch Europa, das drohende Todesurteil wegen Wehrkraftzersetzung im Tornister, prägte mich tief. So tief, daß ich über zwanzig Jahre hinweg vergeblich diese Aufzeichnungen weiterempfahl, nur findige Antiquariatsbesucher vermochten sie aufzustöbern. Habent sua fata libelli – Bücher haben ihr Schicksal, und der heute hochbetagte Kuby mag vielleicht im Gefolge des Klemperer-Booms seinen verdienten Platz unter den privaten Chronisten der deutschen Jahrhundert-Katastrophe finden. Einer, der gleich Klemperer unter den widrigsten Umständen zum Bleistift griff, in Schlammlöchern, Gefängnissen, Lazaretten und Kasernen aufschrieb, was er sah, hörte, dachte, dies als "Feldpost-Tagebuch" seiner Frau nach Hause schickte, dazu aber eine lebensgefährliche doppelte Buchführung betrieb, indem er stets einen Durchschlag bei sich behielt. Das Heldentum der Intellektuellen besteht im verbissenen Beharren darauf, daß Schreiben unter keinen Umständen ein Verbrechen sein könne.

Florian Felix Weyh |
    Als Held wurde Erich Kuby nicht geboren. Noch in den ersten Jahren des Dritten Reichs führt er – zunächst in der Schweiz, dann in Schwabing – das Leben eines Bohemien. Als Frau und Kinder dem ein Ende setzen, findet er Arbeit in einem Berliner Verlag, doch im Sommer 1939 kommt die Einberufung. Die große, und bis zur Wehrmachtsausstellung öffentlich aufrechterhaltene Lebenslüge der sogenannt "anständigen Deutschen" lautete, Flucht ins Soldatenleben sei eine saubere Lösung gewesen, man denke nur an den Hauptmann Jünger. Erich Kuby entlarvt diese Lüge als das, was sie ist: ein Vehikel, die eigene Beteiligung am Angriffskrieg zu verharmlosen. Denn so etwas wie er ist im preußisch-nazistischen Militärapparat nicht vorgesehen. Nicht weil er gegen den Krieg ist, wird er verdächtig, sondern weil er gänzlich unbeteiligt bleibt, eine provozierende Neutralität an den Tag legt, ein Desinteresse an Orden und Ehren, das deutlich signalisiert, es gäbe ein Leben nach dem Tausendjährigen Reich.

    Interessanterweise, das ist die große, bei der Erstveröffentlichung ungenügend gewürdigte Leistung dieses Buches, beschreibt Kuby viel weniger die politischen Pressionen einer ideologisch mißbrauchten Armee – so hätte man‘s im Nachkriegsdeutschland gerne gelesen –, sondern wie schmiegsam sich der Militärapparat an die herrschenden Verhältnisse anpaßt, deren Unwertmaßstäbe bruchlos in Dienstvorschriften integriert und aus eigener Tradition genügend Menschenverachtung besitzt, um seinen Soldaten gegenüber Fürsorgepflicht in ein Schreckensregiment umzuwandeln. "R.U." (Rückkehr unerwünscht) findet sich 1943 als Stempel in Kubys Personalakte, nur durch eine halsbrecherische Schweijkiade kann er dieses Todesurteil verschwinden lassen. Ein Staat, der fremde Völker überfällt, verheizt auch Angehörige des eigenen, wenn sie es an Schneidigkeit fehlen lassen. "Schneidig" ist das alte preußische Wort für "gefühllos", und genau das will Kuby nicht sein. In einem von den Vorgesetzten genehmigten Buchprojekt über den Frankreichfeldzug – jenem später revidierten Irrtum, der Hitlersche "Blitzkrieg" sei eine Art Kaffeefahrt mit Champagnerverkostung gewesen –, beschreibt er, wie deutsche Soldaten französischen Gefangenen Lebensmittel schenken; ein Passus mit dem er sich selbst an die Justiz ausliefert. Das Buch wird nie gedruckt, aber es kursiert von nun an bei den Dienststellen des Heeres als Beweis seiner "Wehrkraftzersetzung". Mit zäher Beharrlichkeit – und der Unsterblichkeit eines deutschen Aktenvermerks – wächst sich die Lappalie zur Lebensbedrohung aus. Kuby kommt vors Kriegsgericht, wird degradiert, zu Gefängnis verurteilt, auf Bewährung an die Front entlassen, nach Monaten plötzlich wieder gefangengesetzt, soll – sein sicheres Ende – in eine Strafkompanie überstellt werden, landet überraschenderweise in der Etappe, dann wieder an der Front, um zum Schluß zu den Eingeschlossenen der Festung Brest zu gehören. Nicht zuletzt ist "Mein Krieg" eine Studie über die Macht heimtückischer, böswilliger Vermerke. In schlechten Zeiten kann gekränkte Eitelkeit eines Vorgesetzten töten.

    "Warum muß ich in ein Volk hineingeboren sein, daß aus Wagneropern Geschichte macht" fragt sich der frisch degradierte Infantrist, um in einem russischen Erdloch zu antworten: "Ich habe auch meine Kriegsziele, zum Beispiel die Ironie nicht zu verlieren." Er büßt sie bis zum Ende nicht ein. Sein bewundernswerter Stoizismus ist einem anderen Weltkriegs-Chronisten ebenbürtig, freilich aus entgegengesetztem Holz geschnitzt: Kuby haßt den Edelsoldaten Ernst Jünger, dessen distanzierte Aufzeichnungen aus den Chefetagen der Wehrmacht nicht einen Gran des Schützengrabenlebens an der Front widerspiegeln. Als Jünger im Ersten Weltkrieg selbst noch im Schützengraben lag, schrieb er blutige Schwärmereien. Dennoch ergänzen sich die Kriegstagebücher Jüngers mit Kubys Aufzeichnungen ideal; zusammen zeigen sie zwei Seiten derselben Medaille. Nur ihre Rezeptionsgeschichte verlief verkehrtherum. Während Jünger zur Traditionsliteratur der jungen Bundeswehr wurde (soldatisch edel wie Winnetou bei Karl May), überzogen die Veteranenverbände Kuby mit Prozessen. Verkehrte Welt; denn was der tapfere Kriegsteilnahmslose schrieb, gibt die Lebensverhältnisse der Truppe viel präziser wider als die stilisierten Reflektionen des Hauptmann Jünger. An der Schwelle zu einer erschreckenden neuen deutschen Militärdoktrin gehört "Mein Krieg" ins Marschgepäck jedes künftigen Auslandsabenteuers. Damit keiner sage, er habe nicht gewußt, worauf er sich einläßt.