Der amerikanische Journalist William L. Shirer reiste im Herbst 1945 mit gemischten Gefühlen nach Deutschland: In der öffentlichen Meinung der westlichen Siegermächte war umstritten, ob es juristisch möglich und politisch sinnvoll sei, hochrangige NS-Politiker und Militärs vor ein Gericht zu stellen. Als es dann soweit war, sah Nürnberg ein Medienereignis ersten Ranges: das im Bleistiftschloss der Faber-Castell eingerichtete Pressecamp beherbergte rund zweihundertfünfzig Reporter, in der Mehrzahl aus England und den USA. Ihre Berichte, von den Zeitgenossen damals verschlungen, sind längst in Vergessenheit geraten. Dass es sich lohnt, sie wieder auszugraben, stellt Steffen Radlmaier mit dem vorliegenden Band unter Beweis.
Die Gewölbe schallen wider vom lustigen Klick-Klack der Absätze der amerikanischen Sekretärinnen. Dann gibt es französische Reporterinnen in hochgetürmten Pariser Turbanen. Es gibt Russen und flüsternde Briten. Alle Uniformen der vier Mächte sind hier zu finden. Es gibt eine Poststelle und eine Snackbar und eine Cafeteria im Washingtoner Stil. Die Büros sind nach amerikanischer Art möbliert, aber die dicken Steinmauern der hallenden Korridore dieses alten deutschen Gerichtshauses und Gefängnisses schwitzen etwas undefinierbar Elendes aus, fremd und teutonisch.
Notiert der amerikanische Schriftsteller John Dos Passos in seinem "Nürnberger Tagebuch". Die Atmosphäre des Prozesses, das Leben in der zerstörten einstmaligen "Hauptstadt der Bewegung", die nun in der amerikanischen Besatzungszone lag, die Arbeitsbedingungen der Berichterstatter - all dies beschwören die hier versammelten, mittlerweile selbst Geschichte gewordenen Reportagen herauf: die Wirklichkeit eines Prozesses, der von Historikern und Juristen in jeder nur erdenklichen Hinsicht analysiert wurde, dessen Begleitumstände aber weitgehend unbekannt blieben. Da nur fünf deutsche Journalisten zugelassen waren, ist es vor allem der Blick von außen, mit dem man hier vertraut gemacht wird: Die Reporter hören und staunen, sie schwanken zwischen Entsetzen und Mitleid und bemühen sich jeder auf seine Art, dieses fremde Land und seine rätselhaften Einwohner zu verstehen. Sie gehen mit professioneller Distanz ans Werk, so die Angloamerikaner, oder werfen sich in die Pose des antinazistischen Staatsanwalts, wie das Pathos der wenigen russischen Autoren zeigt. Über den Prozessstoff und die als Kriegsverbrecher Angeklagten wissen die "Starreporter", die teils mit Operngläsern ausgerüstet waren, für heutige Leser nichts Aufregendes zu berichten. Göring mimt die Diva des Prozesses; Streicher, bei dem man eine Sammlung pornographischen Materials beschlagnahmte, kaut fortwährend Kaugummi; Heß liest Schundromane oder döst zusammengekauert vor sich hin, General Keitel sitzt unbeweglich mit verkniffener Miene, Bankier Schacht gibt sich indigniert. Viele Berichte variieren solche Eindrücke, was auf die Dauer ermüdet. Doch hier und da, in den Wahrnehmungen scharfer Beobachter, blitzt jene "Banalität des Bösen" auf, die Hannah Arendt später in ihrem berühmten Buch über den Eichmann-Prozess auf den Begriff brachte.
Wirklich spannend werden diese Berichte, sobald die Autoren über das Pflichtprogramm der Gerichtsreportage hinausgehen. Peter de Mendelssohn zum Beispiel steigt hinab in die elektrisch ausgeleuchtete Trostlosigkeit eines Bunkers, in dem die Besiegten hausen - bleiche, verstörte Kinder, ausgehungerte Greise, erschöpfte Frauen. Oben, in den Ruinen, der Rauch offener Feuerstellen. Das Gericht, das gleich nebenan im stehen gebliebenen Justizpalast tagt, seine adretten Sekretärinnen und weiß-behandschuhten Militärpolizisten, das abendliche Tanz- und Unterhaltungsprogramm in den Sälen des Grand Hotel, das einst "Hotel Reichsparteitag" hieß und in dem nun die Prominenz der Besatzer mit hakenkreuzverziertem Silberbesteck speist, diese illustre alliierte Prozessgesellschaft lebt in einer anderen Welt. Die argentinische Schriftstellerin Victoria Ocampo erzählt, welch peinigende Blicke sie auf sich zog, als sie im maßgeschneiderten Kostüm und Nylonstrümpfen, mit Hut und Handtasche durch die von Trümmern gesäumten Straßen schlenderte. Der Amerikaner John Dos Passos offenbart seinen patriotischen Stolz über die Anklagerede von Robert H. Jackson - und wie sich darin unversehens die Irritation über das Flächenbombardement Dresdens mischt. Widersprüche wie diese, hellsichtig und klar formuliert, zeigen: das Nürnberger Tribunal, wie kein anderer Strafprozess zuvor mit hohen moralischen Ansprüchen beladen, setzte auch für die Sieger einen Lernprozess in Gang. Meldungen aus der Tagespresse geben den chronologisch aneinander gereihten Berichten, die eben doch Streiflichter bleiben, eine Art Rahmen. Wilde Gerüchte über Attentatspläne entflohener SS-Leute zum Beispiel belegen die Furcht der Alliierten, es könnten Gefangene befreit oder Richter getötet werden: Also versah man die hinter Sandsäcken in den Gerichtsfluren postierten Soldaten zeitweise mit Maschinengewehren und ließ zusätzliche Panzer vor dem Gebäude auffahren. Der Alltag sieht freilich anders aus. Ein für Sicherheit zuständiger Leutnant der US-Armee, der in seinem Ausweis das eigene Bild gegen das eines Hundes ausgetauscht hatte, ging wochenlang ungehindert im Gericht ein und aus, bis ihm das Spiel langweilig wurde. Ein polnischer Journalist kommentiert:
Also wirklich! In diesem Nürnberg hätte man mit ein paar gut geschulten Jungs ganz leicht eine tolle Aktion organisieren können: die Mitglieder des Tribunals entführen, die Angeklagten freischießen, die Dokumente verbrennen oder etwas ähnliches Publikumswirksames.
Die hier versammelten Nahaufnahmen bieten Impressionen und Anekdoten, wie sie in dieser Vielfalt und Dichte bisher nicht zu lesen waren. Sie teilen aber auch die Blindheit der Zeitgenossen. So phantasiert die französische Autorin Elsa Triolet "deutsche Wälder, deutsche Ruinen, in denen die SS herumlungert". Und der russische Schriftsteller Ilja Ehrenburg glaubt, unter den Trümmern hausten "Ratten und Werwölfe". Andererseits gehört er neben dem Korrespondenten der BBC, Karl Anders, zu den wenigen, die ausführlicher über den Völkermord an den Juden schreiben.
Nahaufnahmen anderer Art bieten die zahlreichen Fotografien, die das Buch einleiten und beschließen. Sie stammen meist von Ray D' Addario, der den Prozess als Photograph der amerikanischen Armee begleitete. Da ist die Papierflut auf dem Boden des Dokumentenraums, in dem Sekretärinnen gerade die Ausgabe des Urteils an die Presse vorbereiten; das sind die Simultanübersetzer, hochkonzentriert hinter ihren Glasscheiben; da ist der gutmütig wirkende John C. Wood, einen Strick fachmännisch knotend. Am 16. Oktober 1946 trat der Henker in Aktion. Was Joseph Kingsbury Smith über die Vollstreckung des Urteils schrieb, zählt neben den Texten von William L. Shirer und Janet Flanner zu den Perlen dieser Sammlung. Seine unheimliche Reportage aus der Turnhalle neben dem Gefängnis, in der die amerikanischen Wachmannschaften Basketball spielten und wo nun die Galgen aufgebaut sind, liest man nicht ohne Dankbarkeit. Leider konnte der Herausgeber der Versuchung nicht widerstehen, Texte heute bekannter Autoren aufzunehmen, die nicht einmal als Dokumente aussagekräftig sind: von Willy Brandt oder Markus Wolf zum Beispiel. Außerdem wartet der Schutzumschlag mit einer "glänzenden Liste" auf, die blendet: Jedenfalls findet sich in dem Band keine Zeile von Ernest Hemingway, Louis Aragon und John Steinbeck. Dabei waren auch sie nach Nürnberg gereist, wie der Klappentext versichert. Doch solche Kleinigkeiten fallen ebenso wenig ins Gewicht wie das Fehlen von biographischen Daten zu den Autoren John Wheeler-Bennett oder Karl Anders. Mit zahlreichen eigens für diese Ausgabe übersetzten Texten zeigt der Band Ansichten von Nürnberg, die für deutsche Leser eine Entdeckung sind.
Horst Meier besprach: Der Nürnberger Lernprozess; Von Kriegsverbrechern und Starreportern, zusammengestellt und eingeleitet von Stefan Radlmaier. Erschienen als Band 199 in der 'Anderen Bibliothek' des Eichborn Verlages. Das Buch enthält zahlreiche Photographien, hat 368 Seiten und kostet 54 Mark.