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"Man muss Literatur von Politik unterscheiden"

Bei Dao gilt laut Brockhaus als "bedeutender Vertreter der 'obskuren Lyrik' in China, die mit ihrer symbolgeladenen Sprache dem Welterleben der chinesischen Jugend der 1970er- und frühen 1980er-Jahre Ausdruck verleihen wollte". Bei Dao lebt seit 1980 im Exil in Deutschland und den USA. China ist Ehrengast der diesjährigen Frankfurter Buchmesse.

    Denis Scheck: "Die Antwort" wurde zu einem sehr populären Gedicht in China, denn viele dachten, das Gedicht spräche Themen an, die in ihrer und der jüngeren Generation in der Demokratiebewegung heiß diskutiert werden. Verstehen Sie sich als eine Art Sprachrohr dieser Generation?

    Bei Dao: Dem liegt ein gewisses Missverständnis zugrunde. Der erste Entwurf dieses Gedichts stammt aus dem Jahr 1973, zuerst veröffentlicht wurde es 1976. Es gab also eine große zeitliche Lücke in der Rezeption, bis dieses Gedicht seine Leser wirklich erreicht hat und verstanden wurde. Ich halte "Die Antwort" weder für mein Meisterwerk noch halte ich mich selbst für ein Sprachrohr meiner Generation.

    Scheck: Ihr berühmter Kollege Gottfried Benn sagte einmal, "sechs bis acht vollendete Gedichte" reichten für Dichterkarriere vollauf. Wie viele vollendete Gedichte muss Bei Dao schreiben?

    Bei Dao: Noch ist mir kein Gedicht gelungen, das ich für vollendet halte.

    Scheck: Womit fangen Sie ein Gedicht an? Mit etwas, das Ihnen sprachlich auffällt, mit einer Beobachtung in der Wirklichkeit, mit einer Idee? Was steht bei Bei Dao am Beginn des kreativen Prozesses?

    Bei Dao: Meine Gedichte haben ganz unterschiedliche und teilweise sehr komplizierte Entstehungsgeschichten, in die viele Faktoren eingeflossen sind. Manchmal ist der Ausgangspunkt tatsächlich ein Wort, manchmal aber auch eine Beobachtung, etwas, das mir in meinem Alltag auffällt. Allgemeine Aussagen über diesen poetischen Schöpfungsakt zu treffen ist sehr schwer.

    Scheck: Verstehen Sie sich denn als eine Art Handwerker, als Wortmetz sozusagen, als jemand, der ein Sprachfeld beackert, oder haben Sie eher ein Selbstbild als Seher, als Visionär, der Zugang zu höheren Einsichten besitzt?

    Bei Dao: Offen gestanden sehe ich mich als Mischung aus beidem: Handwerker und Visionär.

    Scheck: War das schon immer so oder überwog der handwerkliche Aspekt, als Sie mit Schreiben begannen?

    Bei Dao: Für mich ist Schreiben ein lebenslanger Lernprozess – in der Tat müssen wir alle ja unser ganzes Leben lang dazu lernen. Ich habe ja sechs Jahre als Bauschlosser gearbeitet. Und wir Autoren müssen genau wie die Bauschlosser unser Werkzeug ständig schärfen und verbessern.

    Scheck: Ihre Jahre als Schlosser auf dem Bau fielen mit der berühmt-berüchtigten Kulturrevolution zusammen, man hat sie zur Umerziehung dorthin geschickt. Haben Sie das damals als Strafe aufgefasst oder als Maßnahme, dem Volk die Ideale der Revolution nahezubringen?

    Bei Dao: Wir waren damals verwirrt und wussten selbst nicht, ob wir es als eine Strafe oder als die Chance auffassen sollten, die Ideale dem Volk näherzubringen. Aber während wir nicht wussten, was wir denken sollten, schob sich die Erfahrung des Lebens selbst in den Vordergrund: der Wirklichkeit der armen Menschen, des Bodensatzes der Gesellschaft, und mir jedenfalls hat diese Erfahrung eine ganz neue Weltanschauung beschert.

    Scheck: Begegnen Sie seither anderen Menschen mit mehr oder mit weniger Misstrauen?

    Bei Dao: Verändert hat sich nicht nur mein Vertrauen anderen Menschen gegenüber sondern mein gesamtes Weltvertrauen. Während wir aufwuchsen, haben wir ein Misstrauen gegenüber fast allem im Universum entwickelt.

    Scheck: Und dieses Misstrauen war damals ja auch berechtigt. Schlimm ist es während der Kulturrevolution jenen ergangen ohne dieses Misstrauen. Wie erklären sie sich die Grausamkeit, das Böse, das während der Kulturrevolution zutage trat?

    Bei Dao: Man sollte große Vorsicht walten lassen, wenn man heute über die Kulturrevolution spricht, denn es sind viele Klischees und Vereinfachungen im Umlauf. Deshalb sollten wir heute im modernen China dieses Thema besser ruhen lassen. Wenn ich von heute aus zurückschaue, erkenne ich, dass die Kulturrevolution den chinesischen Intellektuellen eine Möglichkeit bot, über die Gesellschaft, die Welt und sich selbst nachzudenken.

    Scheck: Aber war das nicht auch eine Zeit, wo Kinder ihre Eltern denunzierten und Eltern ihre Kinder, und hatten diese Wunden wirklich Zeit zu verheilen?

    Bei Dao: Die Kulturrevolution war tatsächlich ein Sturm, der viele verletzt und traumatisiert hat. Sich davon wirklich zu erholen, dauert vermutlich mehrere Generationen lang. Wenn man sich viele der großen Umwälzungen auf der Welt ansieht, dann stellt man fest, dass alle diese großen Veränderungen mit großen spirituellen Verwerfungen und Traumata einhergingen. Und die einzige Heilung kann wahrscheinlich nur aus der Literatur erwachsen.

    Scheck: Als Sie 1989 als Stipendiat in Berlin die Niederschlagung der Proteste am Platz des Himmlischen Friedens erlebt haben, was ging da in Ihnen vor?
    Bei Dao: Natürlich löste das Verzweiflung in mir aus. Am Abend des 3. Juni verfolgte ich die Ereignisse auf CNN und gab ein Fernsehinterview, in dem ich die chinesische Regierung kritisierte. Aber die Ereignisse damals sind ein komplexes Phänomen mit vielen Facetten. Eins steht fest: 1989 hat diese Generation politisch und kulturell traumatisiert.

    Scheck: Wie ich weiß, gefällt Ihnen eine Bezeichnung gar nicht, nämlich die des "Dissidentendichters". Was haben Sie gegen diesen Begriff?

    Bei Dao: Dichter ist eine reine, heilige und ehrenvolle Bezeichnung. Alle Hinzufügungen oder Einschränkungen beschmutzen diese Bezeichnung. Poesie ist eine Mischung aus vielen Strömungen, sowohl in der asiatischen und westlichen Kultur. In dem Begriff Dissidentendichter schwingt viel von der Mentalität des Kalten Krieges mit. Niemand käme auf die Idee, einen westlichen Dichter einen Dissidentendichter zu nennen, nicht wahr?

    Scheck: Sind nicht alle Dichter Dissidenten? Ist Gedichteschreiben nicht an sich schon eine dissidente Handlung? Sich nicht der offiziellen Sprache unterwefen, sondern dieser Sprache die eigene Privatsprache entgegenstellen?

    Bei Dao: Diese Dissenz, dieser Widerstand ist eine der Rollen des Dichters: eine andere Perspektive einnehmen, die Dinge durch einen anderen Blickwinkel neu erscheinen zu lassen. Darüber hinaus lassen sich so auch persönliche Gefühle zum Ausdruck bringen. Ich persönlich halte Dissidenz für eine sehr zwiespältige Sache und bin kein großer Freund der Idee, die Dichtung zu politisieren.

    Scheck: Warum gehören Sie nicht zur offiziellen chinesischen Autorendelegation auf der Buchmesse in Frankfurt?

    Bei Dao: Ich weiß nicht. Das liegt nicht an mir, das zu entscheiden. Offen gestanden würde ich mich nicht sonderlich geschmeichelt fühlen, wenn man dazu eingeladen hätte. Es ist in meinen Augen keine besondere Ehre, dieser offiziellen chinesischen Autorendelegation anzugehören.

    Scheck: Haben Sie eigentlich mit den politisch Verantwortlichen für Ihr Exil je gesprochen, gab es da einen Austausch, Verhandlungen – oder bekommen Sie nur den Grenzpolizisten zu sehen, der Ihnen die Einreise verweigert?

    Bei Dao: Ich wollte 1994 zum Erntedankfest nach Peking reise, aber man hat mir die Einreise nach China verweigert. Der Zoll hielt mich 12 Stunden fest, danach wurde ich ausgebürgert. Seither ist meine Situation genau so, wie sie Franz Kafka in "Das Schloss" beschreibt: ich weiß nicht, an welche Stellen ich mich wenden soll, mit wem ich darüber reden kann.

    Scheck: Sie können also nicht kommunizieren, verhandeln, einen Kompromiss vorschlagen, erklären, dass Sie eine Äußerung bedauern, einen Irttum eingestehen und sagen: Okay, darf ich nun wieder einreisen?

    Bei Dao: Nein. Da finden Sie eher jemand in Kafkas Schloss, mit dem Sie reden können.

    Scheck: Gehört jemand der offiziellen chinesischen Delegation auf der Frankfurter Buchmesse an, der für Ihr Exil verantwortlich ist?

    Bei Dao: Das macht Franz Kafkas Schloss ja zu so einer guten Metapher für die Verhältnisse im heutigen China: weder in Kafkas Text noch in China wissen wir etwas Genaues über die Organisationsstrukturen oder die Kommunikationswege. Niemand weiß, wer im Schloss herrscht. Ich darf zwar nicht nach China einreisen, aber ich darf Interviews für chinesische Medien geben, ich darf Artikel und Bücher in China veröffentlichen.

    Scheck: Wodurch wächst einem Dichter Macht zu?

    Bei Dao: Die Parteien machen Dichter mächtig.

    Scheck: Letzte Frage: Was wünscht sich Bei Dao von den deutschen Lesern, die in Frankfurt auf der Buchmesse in diesem Jahr die Ausstellung des offiziellen Chinas, die Lesungen und Podiumsdiskussionen mit den Autoren der offiziellen Delegation besuchen? Wie sollen die Deutschen darauf reagieren?

    Bei Dao: Die chinesische Gegenwartsliteratur ist immer noch sehr jung und muss sich in vielen noch ausprobieren. Dennoch enthält sie bei allen Beschränkungen viele gültige Beschreibungen authentischer Erfahrungen. Als Leser sollten wir neugierig sein, uns auf die chinesische Gegenwartsliteratur einlassen – und dann unsere eigenen Urteile fällen.

    Scheck: Können deutsche Leser durch Ihr Verhalten nichts für diejenigen tun, die wegen Ihres Schreibens heute in chinesischen Gefängnissen und Arbeitslagern sitzen?

    Bei Dao: Man muss Literatur von Politik unterscheiden. Auch wenn ein Leser sich für chinesische Literatur interessiert, muss er sich deshalb noch lange nicht für chinesische Politik engagieren.

    Bei Dao im "Büchermarkt": Das Buch der Niederlage. Gedichtband. Hanser.