Jedediah Purdy untersucht an internationalen Beispielen des neueren "Nature Writings" die möglichen Beweggründe der Literaten für ihre Beschäftigung mit Mensch und Natur. Ist es der Reiz des Dramas, das sich abspielt, wenn die Folgen des Klimawandels als Naturkatastrophen die Menschen erreichen? Oder gibt es eine sinnliche Neuentdeckung der vielbeschworenen Seelenverwandtschaft von Mensch und Tier? Purdy stellt die Frage, ob die Natur als eskapistisches Antidot zur Abstraktheit der digitalen medialen Welt dient.
Sein Essay erschien im Original in der amerikanischen Zeitschrift "n+1", Ausgabe 29.
Jedediah S. Purdy wurde 1974 in Chloe, West Virginia, geboren. Er lehrt Rechtswissenschaften an der Duke University in North Carolina und schreibt Bücher über die amerikanische Gesellschaft des 21. Jahrhunderts. 2015 veröffentlichte er in den USA 'Nach der Natur - Eine Politik für das Anthropozän'.
(Erstsendung 14.01.2018)
Jeder von Menschen bewohnte Erdteil hat einen Kahlschlag von Ökosystemen und Arten erlebt. Die meisten nordamerikanischen Gebiete haben Wölfe, Hirsche, Elche verloren, Braunbären, Panther, Bisons und eine Vielzahl von Fischen und Wildpflanzen, die es vor 400 Jahren noch im Überfluss gab. Bevor diese Arten verdrängt wurden, schlachtete man das Mammut, das Riesenfaultier, das Wildpferd.
Die Eichhörnchen, Kaninchen und Sperlinge, die rund um meine Veranda in North Carolina leben, sind weniger Beweise blühenden Lebens als die Überlebenden einer Apokalypse, ebenso wie die Koyoten, deren Population sich vergrößert hat und die nun Hühner und Welpen auf Neo‑Hippie-Bauernhöfen außerhalb der Stadt reißen.
Vor 40 Jahren bezeichnete John Berger den Zoo als "Denkmal einer Beziehung" zwischen Mensch und Tier. Heute ließen sich diese Worte auf einen Großteil der bürgerlichen Massenkultur anwenden: Sie ist eine Art Gedenkstätte für die nichtmenschliche Welt geworden, die in tausenden Darstellungen wiederbelebt wird, während sie zeitgleich verschwindet.
Die menschliche Abgrenzung von der nichtmenschlichen Natur, von Shanghai über Mumbai bis Phoenix, geht weit über Ausrottung und Abschottung hinaus. Und selbst die wenigen Berührungspunkte, die davon ausgenommen sind, verleihen uns nicht die Kraft, die Hannah Arendt "aktives Handeln" nannte: etwas Neues zu beginnen, die Dinge in Bewegung zu bringen. Die Richtlinien für Haustiere werden streng auf Sicherheit und Hygiene hin kontrolliert - und daraufhin, dass dem Stereotyp entsprochen wird.
Ein Bote kommenden Unheils und Verderbens
Die industrielle Landwirtschaft hat totalitäre Kontrolle über die Tiere erlangt, die sie in Mahlzeiten verwandelt. Kein Raubtier kann da mit uns mithalten.
Im Gefolge dieser globalen Unterwerfung lauert ein erschreckendes Potenzial, das zum Gegenschlag ausholt. Jeder neue Supersturm, jede neue Seuche, jeder neue jährliche Hitzerekord ist ein Bote kommenden Unheils und Verderbens, insbesondere für die Armen dieser Welt, aber letztendlich für fast alle Menschen.
Allen extremen und sich immer weiter zuspitzenden Ungleichheiten zum Trotz; unser Leben ist weniger gefährlich und die Natur eine stabilere und ersetzbarere Kulisse für menschliches Handeln als je zuvor. Und doch scheint die ganze Welt bereit zu sein, uns zu überrollen, gleich einer Phalanx zürnender Götter, die gerade die Seite gewechselt haben.
Für Schriftsteller hat diese befremdliche Welt - zu Tode gezähmt, wild wie ein Wildschwein - eine Fasziniation für nichtmenschliches Verhalten, Wirken und Bewusstsein ausgelöst.
Das gilt für die akademische Hochkultur, in der Literaturwissenschaftler über die Wirkung und die Handlungsmacht von Stürmen und Bäumen ins Schwärmen geraten, wo Politökonomen dafür plädieren, den Kapitalismus als soziale und gleichzeitig ökologische Form zu betrachten und wo Gesellschaftstheoretiker Ethnographien und artenübergreifende Bündnisse skizzieren.
Aber wie so oft sind die akademischen Trends nicht mehr als Eulengewölle der Minerva. Der gewichtigere Beleg für ein Stimmungsbild ist die ehrgeizige, oft hervorragende und manchmal geradezu irrwitzige Literatur, von Essays über Memoiren bis hin zur Populärwissenschaft, die wie besessen die Frage stellt: Was blickt uns durch die Augen anderer Spezies an? Können wir je unseren eigenen Köpfen entkommen und die Perspektive eines Falken einnehmen? Kann es so etwas geben, wie ein Berg zu denken?
Eintagsfliegen des Zeitgeists
Die Bestsellerlisten und Zeitschriften sind gefüllt mit Anspielungen darauf, dass wir Menschen nicht so verschieden oder einzigartig sind, wie wir vielleicht gedacht haben. Einiges davon sind literarische Stunts, Eintagsfliegen des Zeitgeists. Charles Foster, Autor von "Der Geschmack von Laub und Erde": Wie ich versuchte, als Tier zu leben, liegt in provisorischen Höhlen herum, er verharrt in kalten Bächen und stinkenden Hinterhöfen und -gärten und versucht - sozusagen mit Ganzkörpereinsatz - sich vorzustellen, wie es sich anfühlen könnte, als Dachs, Otter oder Fuchs zu leben. Er kriecht auf dem Bauch herum, wühlt sich durch das Reich der Würmer und sucht eifrig seinen Sohn - oder vielmehr sein "Junges" oder auch seinen "Gefährten" - nach Zecken ab. Being a Beast - so der Originaltitel - gesteht auf charmante Weise ein, das Foster nicht die leiseste Ahnung hat oder haben kann, was es bedeutet, ein Tier zu sein.
Andere Bücher versuchen, uns die Tiere auf intellektuelle Weise näher zu bringen. In einer für ein breites Publikum verfassten Studie fragt der Primatenforscher Frans de Waal "Sind wir intelligent genug, um zu verstehen, wie intelligent Tiere sind?". Die Wissenschaftsautorin Jennifer Ackerman preist in "Die Genies der Lüfte - die erstaunlichen Talente der Vögel" - ein Buch, das unter anderem die Frage stellt, ob Laubenvögel einen Sinn für Ästhetik haben - und diese nicht beantworten kann.
Nur die sogenannte "harte" Wissenschaft muss keine Rechenschaft über ihre Fantasien ablegen. Der deutsche Förster Peter Wohlleben, Autor von "Das geheime Leben der Bäume", beginnt seinen Bestseller mit empirischen Überraschungen. Bäume tauschen Nährstoffe über ihre Wurzelsysteme aus, unterstützen kranke oder schwache Nachbarn und halten manchmal Stumpf oder Wurzeln von Bäumen am Leben, die vor mehr als einem Jahrhundert geschlagen wurden.
Überbleibsel einer Vorstellung
Wohllebens Fokussierung auf gegenseitige Abhängigkeit und Hilfe ist Teil einer neueren Tendenz, die Natur auf egalitäre Art und Weise neu zu erfinden - als kooperativ, nicht-individualistisch und - oft genug - buntgemischt und eigensinnig, ein Gegenentwurf zu den Eichen von Generälen und Königen.
Die Natur spiegelt zuverlässig die Normen und Beschränkungen der Vorstellungskraft ihrer Beobachter wieder. Nachdem Wälder jahrhundertelang erst als Königreiche angesehen wurden, dann als Fabriken - und in dieser Zeit auch als Kathedralen im Empfinden der Romantiker - war es unvermeidlich, dass das 21. Jahrhundert unter Laub und Humus ein vernetztes Informationssystem entdecken würde. Ein System, das Wohlleben mit einem beeindruckenden Mangel an Schamgefühl als "Wood Wide Web" bezeichnet.
Die literarische Imagination muss ihre Fantasien zumindest teilweise erklären können und das ist einer der Gründe, aus denen man sie auf politischen Anspruch hin durchleuchten sollte. Die letzten Jahre haben jede Menge Prosa hervorgebracht, die wir selbst im Anthropozän immer noch hartnäckig als "Schreiben über die Natur" bezeichnen. Drei Arbeiten sollen veranschaulichen, wie diese Literatur die Grenzen zwischen menschlichem Verstand und dem Rest der Welt erforscht. Helen Macdonalds "H wie Habicht" verewigt eine kräftezehrende Beziehung, eine leidenschaftliche, wenn auch einseitige, seelische Verbindung mit einem Jagdfalken.
Robert Macfarlanes "Landmarks" - auf deutsch "Wahrzeichen" - dokumentiert die Spuren, die Menschen mit einer intensiven Verbundenheit zu bestimmten Orten in der Natur in der Sprache hinterlassen haben. Und "On Trails" des in Kanada lebenden Robert Moor zeigt auf, wie Bewegungsmuster eine Landschaft gestalten und wie die Landschaft, einmal geformt, einem die Wege vorgibt, auf denen man sie durchstreifen kann. All diese Autoren haben ausschließlich in Zeiten ökologischer Krisen gelebt; Macdonald, die älteste der drei, wurde 1970 geboren, dem Jahr, in dem der erste Earth Day gefeiert wurde. Ihr Schreiben über Natur fällt in eine Zeit langsamer, unumkehrbarer Veränderung, in der jede Ode an eine Kreatur oder an einen Ort sich in eine Elegie verwandeln kann.
Gefahr, ins Sentiment abzugleiten
Alle drei Autoren sind aufrichtig - selbstbewusst, aber nie spöttisch oder herablassend. Das ist schwieriger, als es klingt. Beim Schreiben über die Natur ist die Gefahr, ins Sentiment abzugleiten und einen Hügel oder ein Tiergesicht als Projektionsfläche zu benutzen, so offenkundig, dass üblicherweise auf den Trick zurückgegriffen wird, der Sentimentalität mit einer Flut von gekünstelt-derben Späßen Einhalt zu gebieten, die die ganze Einbildung aufs Korn nehmen.
Sieh mich an, mich, das wohlmeinende Arschloch, das gerade im Begriff ist, den Appalachian Trail zu gehen oder einen Planwagen über die Great Plains zu fahren oder was auch immer. Ich bin auch nicht anders als du! - lautet die Botschaft. Selbst bedeutende Schriftsteller sind sehr bemüht, nicht dabei erwischt zu werden, wie sie sich mit einem Felsen unterhalten.
In "H wie Habicht" haben wir Macdonald, auf Kaninchenjagd mit ihrem riesigen, wilden Vogel:
"Mit dem Habicht zu jagen, brachte mich an den Rand des Menschseins. Dann ließ ich auch diese Grenze hinter mir und fand mich an einem Ort wieder, wo ich überhaupt nicht mehr menschlich war. Ich spürte den rauen Auftrieb des Herbstwindes über der runden Hügelkuppe, und die Notwendigkeit, nach links zu fallen, um auf dem dem Wind abgewandten Hang auf die Kaninchen stürzen zu können. Ich kroch und lief und rannte. Ich kauerte mich nieder. Ich hielt Ausschau. Die Welt versammelte sich um mich. Es machte absolut Sinn. Aber die Welt bestand allein aus Habichtdingen, und was mich antrieb, war auch das, was den Habicht antrieb: Hunger, Verlangen, Faszination, das Bedürfnis zu finden, zu fliegen, zu töten."
Als wirke er auf Flügel ein
Zusammengehalten werden diese Sätze nur durch die strikte Balance von Abstraktion, konkreten Details und Bewegungsbildern, die sich gleichermaßen auf Macdonalds Körper und den des Habichts beziehen können: "der rasche Auftrieb" des Windes, der klingt, als wirke er auf Flügel ein, den aber auch ein Wanderer spüren würde, der Rausch, über "den windabgewandten Hang" zu fallen, ein Gefühl, das ein Läufer kennen könnte, das aber noch präziser auf einen Greifvogel zutrifft, der die Flügel einzieht, um aus dem Gleitflug hinabzustürzen.
Diese Passage, die an der Schwelle zum Mystischen steht, ist deshalb so glaubwürdig, weil es Macdonald durchweg gelingt, zu beschreiben, was vorher und nachher kommt: ihre Trauer und Fassungslosigkeit über den plötzlichen Tod des geliebten Vaters, eines Fotojournalisten. Macdonald, die schon als kleines Mädchen von der Falkenjagd besessen war, reagiert darauf, indem sie den wildesten aller Jagdfalken kauft und mit nach Hause nimmt. Sie reagiert auch darauf, und das ist zu verständlich, indem sie ein bisschen verrückt wird.
Uns werden flüchtige Einblicke gewährt; wir werden Zeuge einer aussichtslosen Affäre, verzweifelten Trinkens und eines panischen Rückzugs von Arbeit und den alltäglichen gesellschaftlichen Verpflichtungen, was in seiner Gesamtheit das Bild eines Gemüts erschafft, das unter unerträglichem Druck steht. Selbst auf der Heide, wo sie nur "Habichtdinge" kennt, sorgt Macdonald dafür, dass ein aufmerksamer Leser sich fragt, ob sie gerade heilt oder ihren Verstand verliert. Auf präzise Weise gibt sie das Gefühl des Zusammenwirkens mit dem Falken wieder, des Eintauchens in eine andere Art des Seins.
Mit diesem Gefühl fordert Macdonald die Frage heraus: Hat sie ihren Geist anderen Daseinsweisen geöffnet oder ihn dem Zerfall überlassen und so einem Zustand des Unbewussten anheim gegeben?
Macdonald kommt ohne Mystik aus.
"Lange Zeit hatte ich geglaubt, ich sei der Habicht - eines dieser mürrischen Geschöpfe hoch oben in den winterlichen Bäumen, die einfach in einer anderen Welt verschwinden konnten. Aber ich war kein Habicht, wie sehr ich mich auch absonderte, wie oft ich mich auch in Blut und Blättern und Feldern verlor."
Entspringt grundlegend verkehrten Affinitäten
Die Alternative, die Macdonald sich wünscht, ist natürlich keine Flucht aus der politisch-kulturellen Projektion auf die Landschaft, sondern eine andere Herangehensweise, der einzigen eigentlich, die sich ein Kosmopolit des 21. Jahrhunderts unbedenklich zu Eigen machen kann. Die Energie, die Macdonald an ihren Habicht und seine Jagden bindet, entspringt zwar grundlegend verkehrten Affinitäten. Aber sie ist der Schlüssel zu allem.
"Ich wünschte, wir würden nicht für Landschaften kämpfen, die uns daran erinnern, wer wir vermeintlich sind. Ich wünschte, wir würden stattdessen für Landschaften kämpfen, in denen das Leben in all seiner Vielfalt, in all seinen Ausprägungs- und Erscheinungsformen freien Lauf hat."
"We cannot say what we cannot see", erläutert Robert Macfarlane in Landmarks und wenn wir das, was wir nicht benennen können, auch nicht sehen können, so werden neue Wörter gebraucht, um die Erfahrung der Natur neu zu gestalten. In Anlehnung an Max Weber und Heidegger sagt er, die Welt sei entzaubert und wir hätten uns angewöhnt, sie als beständigen Ressourcenlieferanten zu betrachten.
Will man Orten wirklich gerecht werden, sie würdigen, so müsste dies mit einer Präzision geschehen, die nicht von "Heidekraut" sprechen würde, sondern von den vielen Farben, die einen mit Heidekraut bewachsenen Hang ausmachen können und von den Quellen dieser Farben:
Blaubeeren, die grün und scharlachrot und blau leuchten, salbeigrüner Gagelstrauch, goldene Blutwurz, blaue Kreuzblümchen, Torfmose, die zwischen Gelb, Grün und Pink changieren.
Menschen, die in engster Verbundenheit mit einer Landschaft lebten, hatten schon immer Wörter für die Nuancen von Form, Struktur und Gebrauch in ihrer Umgebung. Macfarlanes Vorhaben in Landmarks ist es, all diese Wörter zu sammeln: Als Beweis dafür, wie präzise man einen Ort beschreiben und benennen und so zwangsläufig auch kennen kann.
Anhöhen und Abhänge
Das schottische Gälisch der Isle of Lewis hat mehr als 20 Wörter für "Anhöhen und Abhänge, je nach Form des Gipfels und der Beschaffenheit des Hanges". Es gibt viele gälische Begriffe für Torf, die angeben, ob er geschnitten wurde, wie dunkel und schwer er ist und in welcher Form er gestapelt sein kann - und es gibt ein Wort, "maoim", für "eine Stelle auf dem Moor, an der in der Vergangenheit Torfbewegungen stattgefunden haben".
Die Wörter beschreiben also alle Phasen und Aspekte eines Arbeitszyklus, durch den die Landschaft ständig neu gestaltet wird und ihren Namen wechselt - gleich einem Substantiv, das fortlaufend dekliniert wird. Es gibt Wörter für das Gemisch aus feinem Sand und Schlamm, das eine Überflutung auf Wiesenflächen hinterlässt. Und Wörter für eine steile, glitschige Stelle, wo die lockere Erde von der Witterung weggespült wurde oder für eine Lücke zwischen Hügeln, die den Blick auf ein entferntes Objekt freigibt.
Um Wörter in Sehen umzuwandeln
Angesichts dieser Ambitionen scheint Landmarks, das Macfarlane als "Sprachführer gegen Entweihung von Landschaften" bezeichnet, enttäuschend dünn für ein Lexikon. Zu viele der Begriffe sind bloße Dialektvarianten oder gälische Bezeichnungen für Oberbegriffe. Und so scheint es weniger darum zu gehen, darauf hinzuweisen, wie viele Dinge es zu sehen gibt, als aufzulisten, wie viele verschiedene Namen es für das gleiche Ding gibt.
Robert Moors On Trails zeigt, dass es weit mehr als ein Lexikon braucht, um Wörter in Sehen umzuwandeln. On Trails verbindet die fossilen Spuren der Ediacara-Fauna, jener "mund- und anuslosen" Weichkörper‑Kreaturen, die vor rund 540 Millionen Jahren ausgestorben sind, mit den Straßen von Raupen und Ameisen, den Wildpfaden von Zebras und Elefanten der afrikanischen Savanne, dem Cherokee‑Routennetz im Südosten der Vereinigten Staaten und Moors eigenen Wanderungen auf dem Appalachian Trail, eine davon die komplette Route von Georgia nach Maine, die andere ein kleinerer Abstecher mit einem Cherokee-Forscher und Wanderer.
Immer wieder findet sich bei Moor die Vorstellung, dass ein Trail, ein Weg, eine Art externes Gedächtnis ist. Trails machen eine Ansammlung verstreuten Wissens sichtbar, geben ihm Gestalt. Wissen darüber, wie man einen Bergrücken oder einen Sumpf überquert, wo man Wasser oder Nahrung findet oder wie man seine Familie an einem unbekannten Ort antreffen kann. Der Preis für das Erlangen dieses Wissens kann hoch sein: Schafe, die neue Pfade in unbekanntes Terrain treten, ertrinken des Öfteren oder erleiden andere, lehrreiche Missgeschicke, die ihre ihnen folgenden Artgenossen dann vermeiden und so den Pfad durch ungefährlichere Biegungen und Wendungen ergänzen.
Wie die Sprachlehre bei den Menschen ermöglicht ein Trail den Tieren den Zugang zueinander und einen gemeinsamen Zugang zu der Welt, die außerhalb ihrer Köpfe existiert.
Regelmäßige Nutzer eines Trails (so wie einer Sprache) werden es kaum erstaunlich finden. Cherokee-Trails durchquerten Land, dessen Gestalt in ihren Schöpfungsmythen eine Rolle spielte; diese Trails haben auch alle Cherokee‑Siedlungen des Südostens verbunden, so wie es die römischen Straßen für ein Volk von Fußgängern taten. Sie zu beschreiten, könnte die Geschichte eines Ungeheuers heraufbeschwören, dessen Todeskampf eine Gipfelkette entstehen ließ, selbst wenn man nur wegen Handel, Diplomatie oder einfach nur für einen Besuch unterwegs wäre.
Entscheidung für einen Berufsweg
Moor, der nur wenig von der üblichen Getriebenheit des Ewigsuchenden zeigt, auf etwas über sich selbst Hinausreichendes zu stoßen, schreibt auf sehr anschauliche Weise über andere Spezies und vorindustrielle, ortsgebundene Kulturen. Alles, was er für die meisten Menschen unserer Zeit sagen kann, ist, dass die Entscheidung für einen Berufsweg der Entscheidung für einen Trail, einen Weg, entspricht, und dass einen Trail zu gehen bedeutet, sich die Welt zu erklären, ihr einen Sinn zu geben und Trails also universell sind.
Das ist auch völlig in Ordnung, aber weniger befriedigend als der Rest des Buches, denn, seien wir ehrlich, eine berufliche Veränderung vorzunehmen oder noch schnell einen Kaffee im Flughafenbistro zu holen, diese "Wege" haben nicht viel mit den fast magischen Pfaden gemein, die er andernorts beschreibt und deren Verbundenheit auf eine Einheit in der Welt selbst hindeutet. Wenn dem so wäre, würden diese anderen Arten von Trails auf uns nicht eine solche Faszination ausüben.
Macdonald, Macfarlane, Moor: Am Ende gelingt es keinem dieser Autoren, eine echte Verbindung zu der nichtmenschlichen Welt herzustellen. Die Kraft, sich wirklich aus sich selbst heraus begeben zu können, findet sich immer irgendwo anders - in bäuerlichen Gemeinschaften, im Gälischen, in literarischem Wahnsinn. Zumindest für mich sind diese Verlagerungen und Zögerlichkeiten enttäuschend, auch wenn ich nicht sagen will, dass sie verkehrt sind.
Ich hatte mir gewünscht, dass diese Autoren wirklich an etwas dran sind, einer Sache auf der Spur sind, die nicht nur in ihren eigenen Köpfen stattfindet. Wenn es wahr ist, dass das Verlangen, unserem Selbst zu entfliehen, einem unbezwingbaren Streben entspringt, einem Gefühl von Verlust oder dem Schrecken angesichts des Kahlschlags der Welt, dann könnte es der Ursprung einer Quelle radikalen Denkens sein.
Unaufhaltsam, unüberwindlich und weitgehend harmlos
Ich vermute, dass der Wunsch, dies möge wahr sein, besonders in denen von uns schlummert, die in der Epoche aufgewachsen sind, in der neoliberale Hegemonie und ökologische Krise nebeneinander existierten. Wir haben gelernt, den Kapitalismus zu kritisieren, als wir erkannt haben, dass er, obgleich als unaufhaltsam, unüberwindlich und weitgehend harmlos gepriesen, eben auch die Welt zerstörte.
"Es ist einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen, als das Ende des Kapitalismus." Dieser Ausspruch, der in der Regel Fredric Jameson zugeschrieben wird, ist einer der wenigen Theoretiker-Aussprüche geworden, die dem Land der Theorie zu entkommen vermochten. Streng genommen scheint der Aphorismus allerdings nicht so treffend. Die Schwierigkeit, sich das Ende des Kapitalismus vorzustellen, erweist sich teilweise vor allem als eine Frage der Anstrengung und es gab einige produktive Versuche.
Wenn es einem Ernst damit ist, sich das Ende des Kapitalismus vorstellen zu wollen, dann muss man sehr viel vorsichtiger und gründlicher in seiner Definition von "Kapitalismus" sein, als es dessen Verteidiger im Allgemeinen sind.
Ebenso, wie sich herausstellt, mit dem Wort, das wir früher als "natürlich" kannten. Es geht nicht nur darum, wie viel von der Katastrophenforschung statistisch überladene Spekulationen sind wie zum Beispiel die komplizierten Klimamodelle, die die Leugner immer wieder ins Feld führen - als ob in diesem Zusammenhang Einfachheit von Wahrheit zeugen würde! Es geht vor allem darum, wie wenig wir von dem wissen, was mit dem Ende der Welt verschwinden würde.
Das Schreiben über die Natur - in Ermangelung eines besseren Ausdrucks - hat sich nie politisch festnageln lassen, aber das macht es längst nicht politisch irrelevant. Zumindest seit Thoreau erwog, sein Leben mithilfe des Kompasses eines Landvermessers und den Aufzeichnungen eines Buchhalters zu erfassen, ist es teilweise eine Ethik: der Versuch, zu realisieren, an welcher Zerstörung man beteiligt ist, auf welche Dinge man angewiesen ist und welche Freuden und Pflichten sich dadurch ergeben, dass man beides versteht.
Ökologische Bereinigungen und andere Katastrophen
Naturliteratur klopft an die Oberfläche der Welt, wartet lauschend auf die Antwort, wartet darauf, die Klangfarbe dessen zu erfassen, was vielleicht nur unser eigenes Echo ist, wartet darauf, um die Beschaffenheit dessen zu wissen, das dort verborgen liegt und dessen Sicht auf die Dinge zu erraten, sollte es eine haben.
"Walden", fragte Thoreau so verwirrend und wundersam schön seinen Teich, "bist du es?"
Die Welt hat viele Enden gesehen, ein vielfaches Artensterben, ökologische Bereinigungen und andere Katastrophen, die von den Menschen kaum wahrgenommen wurden. Das Tempo beschleunigt sich. Eine Epoche der langsamen, der schleppenden Krise, in der die Grenzen zwischen Leben und Nicht-Leben immer mehr verwischen, wird noch viele weitere Enden haben und diese werden in ihrer Gesamtheit unsere Situation weitaus besser beschreiben können als das eine große Ende der filmreifen Apokalypse. Vieles von dem, was verschwinden wird, haben wir nicht verstanden. Oder wir haben versäumt, auch nur zu versuchen, es zu verstehen. Sich das Ende der Welt vorzustellen und sich vorzustellen, wie das Leben weitergeht, beides sind Bestandteile unseres alltäglichen Daseins geworden.
Denken wie ein Berg - Über Nature Writing
Von Jedediah Purdy
Aus dem Amerikanischen von Anna Panknin
Sprecher: Philipp Schepmann, Rebecca Madita Hundt
Technik: Kathrin Fidorra
Regie und Redaktion: Barbara Schäfer
Von Jedediah Purdy
Aus dem Amerikanischen von Anna Panknin
Sprecher: Philipp Schepmann, Rebecca Madita Hundt
Technik: Kathrin Fidorra
Regie und Redaktion: Barbara Schäfer