Jasper Barenberg: Vier Jahre Haft und 400.000 Euro Strafe, das fordert die italienische Staatsanwaltschaft im Prozess gegen Elias Bierdel, den früheren Chef der Hilfsorganisation "Cap Anamur" und den Kapitän des gleichnamigen Schiffes Stefan Schmidt. Im Sommer vor fünf Jahren hatten sie 37 Afrikaner von einem überfüllten Schlauchboot gerettet, das mit Motorschaden zwischen Libyen, Italien und Malta trieb. Nach dreiwöchigen Verhandlungen ließen die Behörden das Schiff im Hafen von Porto Empedocle an die Pier. Die Flüchtlinge wurden später abgeschoben, Bierdel und Schmidt verhaftet. Die Anklage: Begünstigung illegaler Einwanderung. Heute nun wollen die Richter in Italien ihr Urteil fällen. Rechnet Elias Bierdel mit einem Freispruch? Das habe ich den früheren Deutschlandfunk-Kollegen vor dieser Sendung gefragt.
Elias Bierdel: Wenn es darum ginge, was sich im Gerichtssaal in den letzten drei Jahren erwiesen hat, dass natürlich keiner der gegen uns erhobenen Vorwürfe in der Sache sich bestätigen ließ, dass die meisten Zeugen einfach vergessen hatten, was sie an Verleumdungen vorher in die Welt gesetzt hatten, wenn es darum ginge, dann freilich bliebe nur eine Möglichkeit: ein rauschender Freispruch und eine anschließende persönliche Entschuldigung durch den Staatspräsidenten Italiens. Ich vermute aber, dass es so weit nicht kommen wird, sondern dass deshalb, weil ja in diesem politisch aufgeladenen Verfahren der Staatsanwalt gegen uns eine extrem harte Strafe gefordert hat, nämlich vier Jahre Haft ohne Bewährung, Entschuldigung, gegen unbescholtene Menschen, die 37 Schiffbrüchige gerettet haben, und 400.000 Euro Geldstrafe auch noch, damit sich die Sache lohnt, weil er so eine harte Strafe gefordert hat, kann er ja jetzt, selbst wenn wir freigesprochen würden, das nicht auf sich beruhen lassen. Deshalb nehme ich an, dass es eine Verurteilung geben wird und wir dann unsererseits in Revision gehen müssen.
Barenberg: Illegale Einwanderung sollen Sie begünstigt haben. Sie sollen eine Notlage vorgetäuscht haben. Kritiker haben damals auch von einem Medienspektakel gesprochen, das Sie mit dieser Aktion inszeniert haben. Alles an den Haaren herbeigezogen?
Bierdel: Es ist ja so eine Erfahrung, die man macht, dass natürlich die Journalisten zum Beispiel, die ja böse Sachen am Anfang berichtet haben, die übrigens alle nicht dabei gewesen waren, jetzt ja auch im Laufe des Verfahrens nicht anwesend sind. Das liegt ja in der Natur der Sache, das nehme ich nicht persönlich. Es kann ja niemand an so einem wahnwitzigen Verfahren über drei Jahre jedes Mal da drinsitzen. Und weil das nicht so ist, haben sie nicht erlebt, wie alles zerplatzt ist. Ich kann das ja hier nur so sagen, ich war dabei. Deshalb können sie jetzt dann immer noch sagen, aber man wirft ihnen doch das und das vor. Nein, das wirft man uns alles nicht mehr vor, sondern am Ende hat sich der Staatsanwalt extrem bewegt gezeigt, steht die Lebensrettung nicht mehr infrage. Das ist völlig klar. Es steht nicht infrage, dass wir hier, so hat es der Staatsanwalt formuliert, in mustergültiger Weise uns für Europa engagiert haben. Das sind sehr erstaunliche Dinge. Aber da, wo es um die Medienberichterstattung geht, da blieb mir immer so ein bisschen hängen, dass man mir vorgeworfen hat, ich hätte Journalisten erlaubt, an Bord zu kommen und das heißt doch wohl, ich wollte da irgendwie Wirbel machen, und ich habe immer schon gesagt, wie würde denn der Vorwurf gegen mich wohl lauten, wenn ich seinerzeit Journalisten nicht erlaubt hätte, an Bord zu kommen, denn ich habe keinen einzigen eingeladen oder geholt, sondern sie kamen, weil sie schauen wollten, und ich bin bis heute der Meinung, dass wir das gar nicht anders machen konnten.
Barenberg: Was bleibt in der Erinnerung ist unter anderem das Bild von Ihnen in Siegerpose am Hafen und von afrikanischen Flüchtlingen, die sehr schnell danach in ihre Heimat abgeschoben worden sind. Würden Sie auch im Rückblick selber sagen, dass insofern diese ganze Aktion ein Debakel war? Sie haben damals ja auch schon in der Diskussion danach eigene Fehler eingeräumt.
Bierdel: Ja. Erst mal: Selbstverständlich machen wir auch Fehler und wir haben da vieles, gerade weil es nicht vorbereitet war, gerade weil wir nicht im Augenblick uns Gedanken gemacht hatten, wie wir jetzt da weiter vorgehen können, weil ja zunächst mal die Rettung von Menschen für uns völlig außer Frage stand, darum ist einiges schief gegangen. Wir selber haben zu viel Zeit gebraucht, bis wir einen geeigneten Hafen gefunden haben. All das ist ja nun mittlerweile rauf und runter berichtet und längst abgeklärt. Ich fand es damals schon und im Rückblick erst recht obszön, dass man sich angesichts dessen, was nun dort draußen einfach schrecklicherweise passiert, dass da Menschen in großer Zahl an unseren Außengrenzen verschwinden, ertrinken, verdursten, abgewehrt werden von europäischen Grenztruppen, dass man angesichts dieser Verhältnisse, die ja nicht alleine mir bekannt wurden, sondern ja auch vielen Journalisten und so, dass man tatsächlich eine Berichterstattung darauf konzentriert, wer wann welche T-Shirts anhat, oder ob jemand auf einem Schiff, einfach weil er froh war, dass nun irgendein Quatsch zu Ende geht, die Arme hochreißt. Wenn ich dieses Foto sehe, was ja in vielen Zeitungen auch an diesen Tagen jetzt wieder erscheint, dann wünschte ich mir, es würde nicht existieren, und gleichzeitig denke ich, was ist eigentlich mit euch los, dass ihr das so superinteressant findet und so vieles andere, was ich wichtiger fände, eigentlich weitgehend immer noch unerwähnt bleibt.
Barenberg: Deutschland beteiligt sich mit Geld, mit Personal und auch mit Hubschraubern an der europäischen Grenzagentur FRONTEX. Dieser Tage werden Vorwürfe erneuert, die schon eine Weile auf dem Tisch liegen, der Vorwurf nämlich, diese Agentur würde gezielt und in großer Zahl Flüchtlinge zurückschicken in ihre afrikanischen Herkunftsländer, ohne das Recht zu prüfen, ob sie Asylstatus genießen sollten. Halten Sie diese Vorwürfe für stichhaltig? Entspricht das auch dem, was Sie recherchieren, was Sie in Erfahrung bringen?
Bierdel: Ja, das ist für uns überhaupt gar keine Frage mehr. Das ist seit Jahren dokumentiert und es ist auch sozusagen durch ziemlich hochkarätige Rechtsgutachten bis hin auf die Ebene der Vereinten Nationen nachgewiesen, dass hier nicht nur die nationalen Einheiten der Küstenwache und wer da alles beteiligt ist, der jeweiligen Marine auch in den Mittelmeerstaaten und anderen an völkerrechtswidrigen Aktionen beteiligt sind oder die sogar offen betreiben wie jetzt in Italien, sondern dass eben auch diese neue ominöse Grenzarmee in Aufbau, FRONTEX mit Sitz in Warschau, eine EU-Agentur, koordinierend hier reinwirkt. Das wirklich Beängstigende ist nicht etwa, dass hier europäische Beamte tatsächlich unmittelbar Boote abdrängen und anderes täten – das sind eher die nationalen Einheiten -, das Beängstigende für mich ist es, dass die einzelnen Aktivitäten dieser wichtigen und wachsenden Agentur niemandem bekannt sind. Die Strategie von FRONTEX ist weder den Parlamentariern auf nationaler, noch auf EU-Ebene im Detail bekannt und wenn man sich nun vorstellt, dass im Rahmen dieser Aktionen immer wieder Menschen zu Tode kommen, oder dass uns Überlebende berichten, wir sind von einem Kriegsschiff frontal gerammt worden, und wenn man die Nachfragen, die es dann ja geben muss, abwimmelt mit dem Hinweis, nein, nein, unsere Strategie ist geheim, weil ja sonst die Gegenseite – wer immer das ist: Schleppermafia oder was – Rückschlüsse ziehen könnte auf unsere Operationen, und das ist aber das, was durchgeht, und das finde ich demokratiepolitisch unfassbar, dass in diesem Gebiet tatsächlich weder Journalisten mit ihren privilegierten Zugängen zu Informationen, noch Politiker im Detail erfahren, was die da überhaupt treiben. Das finde ich namenlos.
Barenberg: Wie also umgehen mit einer Stellungnahme wie etwa von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, der Verantwortung trägt für diese Einsätze, der sagt, er kenne die Zahlen nicht, und im Übrigen verweist er auf die Genfer Flüchtlingskonvention und kein Flüchtling auf See würde zurückgewiesen?
Bierdel: Es gibt ja ganz einfache Methoden, wie man die Zahlen nicht kennt, indem man sie nämlich nicht erhebt. Ich nenne Ihnen jetzt mal eine dramatische Zahl, nämlich die Zahl der Opfer, die Zahl der Toten, die da draußen zu beklagen sind, die von Jahr zu Jahr steigen. Wir haben nur Schätzungen bis auf die eine Zahl von den Toten, die eben dokumentiert sind, und das ist nicht etwa eine Behörde, die diese Zahl erhebt, sondern das sind NGOs in Holland und in Italien, die das zählen. Wir stehen jetzt im Augenblick bei offiziell ungefähr 15.000 dokumentierten Opfern an unseren Außengrenzen. Das ist aber natürlich nur die Spitze des Eisberges. Die Schätzungen sind weit höher. Und wer angesichts von solchen dramatischen Verhältnissen sich auf diese Weise herauszureden versucht, wie Sie es eben zitiert haben, den darf man damit nicht davonkommen lassen. Das ist meine Meinung. Es ist ganz klar: wir haben die Innengrenzen abgeschafft, das ist wunderbar, ich bin ein glühender Europäer, ich freue mich darüber, heißt wir haben eine gemeinsame Außengrenze, heißt wir haben eine gemeinsame Verantwortung für das, was dort geschieht, und wir können nicht mit dem Finger auf Malteser, Griechen oder sonst jemanden weisen, denn es ist nicht von der Hand zu weisen, dass auch gerade die deutsche Bundesregierung an der Errichtung dieses Konstrukts, das jetzt zur Flüchtlingsabwehr führt, maßgeblich beteiligt war und ist.
Barenberg: Stiehlt sich also mit anderen Worten die Bundesregierung aus ihrer Verantwortung? Ich will noch hinzufügen, dass ja auch auf europäischer Ebene an eine gemeinsame Asyl- und Flüchtlingspolitik im Moment derzeit überhaupt gar nicht zu denken ist, obwohl das auf der Agenda steht.
Bierdel: Na ja, wer ist denn Europa? Das sind ja die Mitgliedsstaaten und da gibt es natürlich wie immer größere und wichtigere und nicht so große und vielleicht weniger wichtige und deshalb hat Berlin hier eben eine doppelte Verantwortung. Es gibt einen Weg, der ist jetzt zunächst mal unausweichlich: die Länder, die von diesem Problem besonders betroffen sind, dass nämlich dort Menschen landen, die versorgt werden müssen – das sind oft kleine Länder, die überfordert sind, so wie Griechenland und Malta -, die sagen seit Jahren und das ist völlig vernünftig, Leute, das ist eine gemeinsame europäische Grenze. Die Leute, die hier ankommen, das sind Menschen, die wollen nicht nach Malta oder Griechenland, die wollen nach Europa. Lasst uns die aufteilen über die Mitgliedsländer und dort kann man eben ihr Asylansuchen prüfen, man kann sie und so weiter zunächst mal aufnehmen und dann eben auch meinetwegen, wenn das so sein soll und muss, in einem geordneten Verfahren zurückführen. Wenn man aber die Menschen dort, die Länder an den Frontlinien sozusagen im Stich lässt, so wie das jetzt passiert, dann kommt es zu diesen schrecklichen Vorfällen, wie wir sie in Griechenland, in Malta und vor Lampedusa zu beklagen haben.
Barenberg: Deutschland sieht keinen Anlass, sich auf eine solche Regelung einzulassen und Flüchtlinge kontingentiert sozusagen aufzunehmen.
Bierdel: Man fragt sich, warum eigentlich nicht. Wir haben doch hier eine hervorragende Infrastruktur. Wir haben sehr gute Einrichtungen, die jetzt überwiegend beginnen, leer zu stehen. Wir entlassen jetzt Sozialarbeiter oder Spezialisten in der Flüchtlingsarbeit. Warum sollten wir nicht geradezu mustergültig für Europa zeigen, wie man menschenwürdig und professionell umgeht mit denen, die bei uns Schutz und Hilfe suchen. Aber das ist ganz offensichtlich nicht erwünscht und das macht mich ein bisschen traurig, denn die Möglichkeiten hätten wir ohne Weiteres. Kleine Versuche gibt es im Rahmen der "safe me"-Kampagne und anderem, aber das ist mehr symbolisch. Die große Politik und der Geist, der dahinter steht, ist einer, den ich so nicht verstehen kann, der immer noch überwiegend auf Abwehr von Menschen von außen ausgerichtet ist und nicht so sehr darauf, ihnen hier Schutz und Hilfe anzubieten und auch – ja warum denn nicht? – Menschen hier zu uns hereinzulassen, die wir ja vielleicht ganz dringend gebrauchen könnten. Aber so weit sind wir wohl noch nicht.
Barenberg: Die Einschätzungen von Elias Bierdel, dem ehemaligen Vorsitzenden der Hilfsorganisation "Cap Anamur". Heute arbeitet er für den gemeinnützigen Verein "Borderline Europe", der sich nach eigenem Verständnis gegen die Abschottung der EU wendet und die tödlichen Folgen.
Elias Bierdel: Wenn es darum ginge, was sich im Gerichtssaal in den letzten drei Jahren erwiesen hat, dass natürlich keiner der gegen uns erhobenen Vorwürfe in der Sache sich bestätigen ließ, dass die meisten Zeugen einfach vergessen hatten, was sie an Verleumdungen vorher in die Welt gesetzt hatten, wenn es darum ginge, dann freilich bliebe nur eine Möglichkeit: ein rauschender Freispruch und eine anschließende persönliche Entschuldigung durch den Staatspräsidenten Italiens. Ich vermute aber, dass es so weit nicht kommen wird, sondern dass deshalb, weil ja in diesem politisch aufgeladenen Verfahren der Staatsanwalt gegen uns eine extrem harte Strafe gefordert hat, nämlich vier Jahre Haft ohne Bewährung, Entschuldigung, gegen unbescholtene Menschen, die 37 Schiffbrüchige gerettet haben, und 400.000 Euro Geldstrafe auch noch, damit sich die Sache lohnt, weil er so eine harte Strafe gefordert hat, kann er ja jetzt, selbst wenn wir freigesprochen würden, das nicht auf sich beruhen lassen. Deshalb nehme ich an, dass es eine Verurteilung geben wird und wir dann unsererseits in Revision gehen müssen.
Barenberg: Illegale Einwanderung sollen Sie begünstigt haben. Sie sollen eine Notlage vorgetäuscht haben. Kritiker haben damals auch von einem Medienspektakel gesprochen, das Sie mit dieser Aktion inszeniert haben. Alles an den Haaren herbeigezogen?
Bierdel: Es ist ja so eine Erfahrung, die man macht, dass natürlich die Journalisten zum Beispiel, die ja böse Sachen am Anfang berichtet haben, die übrigens alle nicht dabei gewesen waren, jetzt ja auch im Laufe des Verfahrens nicht anwesend sind. Das liegt ja in der Natur der Sache, das nehme ich nicht persönlich. Es kann ja niemand an so einem wahnwitzigen Verfahren über drei Jahre jedes Mal da drinsitzen. Und weil das nicht so ist, haben sie nicht erlebt, wie alles zerplatzt ist. Ich kann das ja hier nur so sagen, ich war dabei. Deshalb können sie jetzt dann immer noch sagen, aber man wirft ihnen doch das und das vor. Nein, das wirft man uns alles nicht mehr vor, sondern am Ende hat sich der Staatsanwalt extrem bewegt gezeigt, steht die Lebensrettung nicht mehr infrage. Das ist völlig klar. Es steht nicht infrage, dass wir hier, so hat es der Staatsanwalt formuliert, in mustergültiger Weise uns für Europa engagiert haben. Das sind sehr erstaunliche Dinge. Aber da, wo es um die Medienberichterstattung geht, da blieb mir immer so ein bisschen hängen, dass man mir vorgeworfen hat, ich hätte Journalisten erlaubt, an Bord zu kommen und das heißt doch wohl, ich wollte da irgendwie Wirbel machen, und ich habe immer schon gesagt, wie würde denn der Vorwurf gegen mich wohl lauten, wenn ich seinerzeit Journalisten nicht erlaubt hätte, an Bord zu kommen, denn ich habe keinen einzigen eingeladen oder geholt, sondern sie kamen, weil sie schauen wollten, und ich bin bis heute der Meinung, dass wir das gar nicht anders machen konnten.
Barenberg: Was bleibt in der Erinnerung ist unter anderem das Bild von Ihnen in Siegerpose am Hafen und von afrikanischen Flüchtlingen, die sehr schnell danach in ihre Heimat abgeschoben worden sind. Würden Sie auch im Rückblick selber sagen, dass insofern diese ganze Aktion ein Debakel war? Sie haben damals ja auch schon in der Diskussion danach eigene Fehler eingeräumt.
Bierdel: Ja. Erst mal: Selbstverständlich machen wir auch Fehler und wir haben da vieles, gerade weil es nicht vorbereitet war, gerade weil wir nicht im Augenblick uns Gedanken gemacht hatten, wie wir jetzt da weiter vorgehen können, weil ja zunächst mal die Rettung von Menschen für uns völlig außer Frage stand, darum ist einiges schief gegangen. Wir selber haben zu viel Zeit gebraucht, bis wir einen geeigneten Hafen gefunden haben. All das ist ja nun mittlerweile rauf und runter berichtet und längst abgeklärt. Ich fand es damals schon und im Rückblick erst recht obszön, dass man sich angesichts dessen, was nun dort draußen einfach schrecklicherweise passiert, dass da Menschen in großer Zahl an unseren Außengrenzen verschwinden, ertrinken, verdursten, abgewehrt werden von europäischen Grenztruppen, dass man angesichts dieser Verhältnisse, die ja nicht alleine mir bekannt wurden, sondern ja auch vielen Journalisten und so, dass man tatsächlich eine Berichterstattung darauf konzentriert, wer wann welche T-Shirts anhat, oder ob jemand auf einem Schiff, einfach weil er froh war, dass nun irgendein Quatsch zu Ende geht, die Arme hochreißt. Wenn ich dieses Foto sehe, was ja in vielen Zeitungen auch an diesen Tagen jetzt wieder erscheint, dann wünschte ich mir, es würde nicht existieren, und gleichzeitig denke ich, was ist eigentlich mit euch los, dass ihr das so superinteressant findet und so vieles andere, was ich wichtiger fände, eigentlich weitgehend immer noch unerwähnt bleibt.
Barenberg: Deutschland beteiligt sich mit Geld, mit Personal und auch mit Hubschraubern an der europäischen Grenzagentur FRONTEX. Dieser Tage werden Vorwürfe erneuert, die schon eine Weile auf dem Tisch liegen, der Vorwurf nämlich, diese Agentur würde gezielt und in großer Zahl Flüchtlinge zurückschicken in ihre afrikanischen Herkunftsländer, ohne das Recht zu prüfen, ob sie Asylstatus genießen sollten. Halten Sie diese Vorwürfe für stichhaltig? Entspricht das auch dem, was Sie recherchieren, was Sie in Erfahrung bringen?
Bierdel: Ja, das ist für uns überhaupt gar keine Frage mehr. Das ist seit Jahren dokumentiert und es ist auch sozusagen durch ziemlich hochkarätige Rechtsgutachten bis hin auf die Ebene der Vereinten Nationen nachgewiesen, dass hier nicht nur die nationalen Einheiten der Küstenwache und wer da alles beteiligt ist, der jeweiligen Marine auch in den Mittelmeerstaaten und anderen an völkerrechtswidrigen Aktionen beteiligt sind oder die sogar offen betreiben wie jetzt in Italien, sondern dass eben auch diese neue ominöse Grenzarmee in Aufbau, FRONTEX mit Sitz in Warschau, eine EU-Agentur, koordinierend hier reinwirkt. Das wirklich Beängstigende ist nicht etwa, dass hier europäische Beamte tatsächlich unmittelbar Boote abdrängen und anderes täten – das sind eher die nationalen Einheiten -, das Beängstigende für mich ist es, dass die einzelnen Aktivitäten dieser wichtigen und wachsenden Agentur niemandem bekannt sind. Die Strategie von FRONTEX ist weder den Parlamentariern auf nationaler, noch auf EU-Ebene im Detail bekannt und wenn man sich nun vorstellt, dass im Rahmen dieser Aktionen immer wieder Menschen zu Tode kommen, oder dass uns Überlebende berichten, wir sind von einem Kriegsschiff frontal gerammt worden, und wenn man die Nachfragen, die es dann ja geben muss, abwimmelt mit dem Hinweis, nein, nein, unsere Strategie ist geheim, weil ja sonst die Gegenseite – wer immer das ist: Schleppermafia oder was – Rückschlüsse ziehen könnte auf unsere Operationen, und das ist aber das, was durchgeht, und das finde ich demokratiepolitisch unfassbar, dass in diesem Gebiet tatsächlich weder Journalisten mit ihren privilegierten Zugängen zu Informationen, noch Politiker im Detail erfahren, was die da überhaupt treiben. Das finde ich namenlos.
Barenberg: Wie also umgehen mit einer Stellungnahme wie etwa von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, der Verantwortung trägt für diese Einsätze, der sagt, er kenne die Zahlen nicht, und im Übrigen verweist er auf die Genfer Flüchtlingskonvention und kein Flüchtling auf See würde zurückgewiesen?
Bierdel: Es gibt ja ganz einfache Methoden, wie man die Zahlen nicht kennt, indem man sie nämlich nicht erhebt. Ich nenne Ihnen jetzt mal eine dramatische Zahl, nämlich die Zahl der Opfer, die Zahl der Toten, die da draußen zu beklagen sind, die von Jahr zu Jahr steigen. Wir haben nur Schätzungen bis auf die eine Zahl von den Toten, die eben dokumentiert sind, und das ist nicht etwa eine Behörde, die diese Zahl erhebt, sondern das sind NGOs in Holland und in Italien, die das zählen. Wir stehen jetzt im Augenblick bei offiziell ungefähr 15.000 dokumentierten Opfern an unseren Außengrenzen. Das ist aber natürlich nur die Spitze des Eisberges. Die Schätzungen sind weit höher. Und wer angesichts von solchen dramatischen Verhältnissen sich auf diese Weise herauszureden versucht, wie Sie es eben zitiert haben, den darf man damit nicht davonkommen lassen. Das ist meine Meinung. Es ist ganz klar: wir haben die Innengrenzen abgeschafft, das ist wunderbar, ich bin ein glühender Europäer, ich freue mich darüber, heißt wir haben eine gemeinsame Außengrenze, heißt wir haben eine gemeinsame Verantwortung für das, was dort geschieht, und wir können nicht mit dem Finger auf Malteser, Griechen oder sonst jemanden weisen, denn es ist nicht von der Hand zu weisen, dass auch gerade die deutsche Bundesregierung an der Errichtung dieses Konstrukts, das jetzt zur Flüchtlingsabwehr führt, maßgeblich beteiligt war und ist.
Barenberg: Stiehlt sich also mit anderen Worten die Bundesregierung aus ihrer Verantwortung? Ich will noch hinzufügen, dass ja auch auf europäischer Ebene an eine gemeinsame Asyl- und Flüchtlingspolitik im Moment derzeit überhaupt gar nicht zu denken ist, obwohl das auf der Agenda steht.
Bierdel: Na ja, wer ist denn Europa? Das sind ja die Mitgliedsstaaten und da gibt es natürlich wie immer größere und wichtigere und nicht so große und vielleicht weniger wichtige und deshalb hat Berlin hier eben eine doppelte Verantwortung. Es gibt einen Weg, der ist jetzt zunächst mal unausweichlich: die Länder, die von diesem Problem besonders betroffen sind, dass nämlich dort Menschen landen, die versorgt werden müssen – das sind oft kleine Länder, die überfordert sind, so wie Griechenland und Malta -, die sagen seit Jahren und das ist völlig vernünftig, Leute, das ist eine gemeinsame europäische Grenze. Die Leute, die hier ankommen, das sind Menschen, die wollen nicht nach Malta oder Griechenland, die wollen nach Europa. Lasst uns die aufteilen über die Mitgliedsländer und dort kann man eben ihr Asylansuchen prüfen, man kann sie und so weiter zunächst mal aufnehmen und dann eben auch meinetwegen, wenn das so sein soll und muss, in einem geordneten Verfahren zurückführen. Wenn man aber die Menschen dort, die Länder an den Frontlinien sozusagen im Stich lässt, so wie das jetzt passiert, dann kommt es zu diesen schrecklichen Vorfällen, wie wir sie in Griechenland, in Malta und vor Lampedusa zu beklagen haben.
Barenberg: Deutschland sieht keinen Anlass, sich auf eine solche Regelung einzulassen und Flüchtlinge kontingentiert sozusagen aufzunehmen.
Bierdel: Man fragt sich, warum eigentlich nicht. Wir haben doch hier eine hervorragende Infrastruktur. Wir haben sehr gute Einrichtungen, die jetzt überwiegend beginnen, leer zu stehen. Wir entlassen jetzt Sozialarbeiter oder Spezialisten in der Flüchtlingsarbeit. Warum sollten wir nicht geradezu mustergültig für Europa zeigen, wie man menschenwürdig und professionell umgeht mit denen, die bei uns Schutz und Hilfe suchen. Aber das ist ganz offensichtlich nicht erwünscht und das macht mich ein bisschen traurig, denn die Möglichkeiten hätten wir ohne Weiteres. Kleine Versuche gibt es im Rahmen der "safe me"-Kampagne und anderem, aber das ist mehr symbolisch. Die große Politik und der Geist, der dahinter steht, ist einer, den ich so nicht verstehen kann, der immer noch überwiegend auf Abwehr von Menschen von außen ausgerichtet ist und nicht so sehr darauf, ihnen hier Schutz und Hilfe anzubieten und auch – ja warum denn nicht? – Menschen hier zu uns hereinzulassen, die wir ja vielleicht ganz dringend gebrauchen könnten. Aber so weit sind wir wohl noch nicht.
Barenberg: Die Einschätzungen von Elias Bierdel, dem ehemaligen Vorsitzenden der Hilfsorganisation "Cap Anamur". Heute arbeitet er für den gemeinnützigen Verein "Borderline Europe", der sich nach eigenem Verständnis gegen die Abschottung der EU wendet und die tödlichen Folgen.