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Meşale Tolu freigelassen
"Willkürjustiz von Erdogan höchst persönlich"

Nach der Freilassung von Meşale Tolu sei es völlig abstrus zu glauben, die Türkei befinde sich jetzt auf dem Weg zum Rechtsstaat, sagte Sevim Dagdelen, Die Linke, im Dlf. Die Zahl der noch Inhaftierten sei hoch. Man müsse mehr Druck auf Erdogan ausüben, "die einzige Sprache, die er versteht".

Sevim Dağdelen im Gespräch mit Christiane Kaess |
    Mesale Tolu sitzt an einem Tisch vor Mikrofonen. Im Hintergrund sind Aktenordner zu sehen.
    Mesale Tolu nach ihrer Freilassung in der Kanzlei ihrer Anwältin. Ihre Freilassung könnte Bestandteil eines Deals sein, vermutet Sevim Dağdelen von der Linkspartei (AP)
    Christiane Kaess: Kurz vor der Sendung habe ich mit Sevim Dagdelen gesprochen. Sie ist Bundestagsabgeordnete der Linken. Ich habe sie zuerst gefragt: Gibt es doch noch eine unabhängige Justiz in der Türkei?
    Sevim Dağdelen: Nein. Ich glaube, auch nach der Freilassung der deutschen Geiseln - so würde ich Meşale Tolu und vorher Peter Steudtner auch bezeichnen - ist die Türkei noch lange nicht auf dem Weg in die Demokratie. Und wer dies glauben machen will, der betrügt auch die Öffentlichkeit. Hunderttausende Menschen wurden entlassen aus dem Dienst, 50.000 wurden verhaftet - das ist schon eine deutliche Sprache. Die Oppositionsführer Demirtas, Yüksekda, Dutzende Abgeordnete sitzen weiterhin in den türkischen Gefängnissen. Deniz Yücel, ein deutscher Journalist, sitzt immer noch in Haft. Sharo Garip, ein deutscher Akademiker, sitzt seit längerem in der Türkei fest, erst in Haft, dann mit einem Ausreiseverbot belegt, und morgen ist ja auch sein Prozess in dem Prozess Akademiker für den Frieden. Insofern ist es völlig abstrus zu sagen, die Türkei ist jetzt ein Rechtsstaat. Ganz im Gegenteil! Ich würde eher sagen, dass diese Sachen eigentlich eher zeigen, dass hier eine Willkürjustiz von Erdogan höchst persönlich gemacht wird.
    Freilassung möglicherweise Bestandteil eines Deals
    Kaess: Glauben Sie denn, diese Freilassung heute, die wurde von oben angeordnet?
    Dağdelen: Wir haben ja mitbekommen, dass es Bemühungen gab, dass als Unterhändler, quasi als Sonderbeauftragter der ehemalige deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder von der Bundesregierung beauftragt wurde, sich um die Freilassung der deutschen Gefangenen stark zu machen. Er hat ja Gespräche geführt mit dem Staatspräsidenten Erdogan. So wie ich Erdogan kenne, lässt er sich von einem freundlichen Gespräch allein nicht beeindrucken, sondern möchte dafür was. Das hat er auch immer wieder gesagt. Er hat ja im Austausch sozusagen Deniz Yücel und die anderen immer nur angeboten, als Gefangenenaustausch quasi, und insofern gehe ich eigentlich schon davon aus, dass das mit auch ein Bestandteil eines Deals ist.
    Kaess: Was würde auf der anderen Seite dieses Deals stehen?
    Dağdelen: Das weiß ich nicht. Das werden wir erst viel später wahrscheinlich erfahren. Aber ich fand es schon merkwürdig natürlich, dass in Zusammenhang mit der Freilassung von Peter Steudtner beispielsweise die Ermittlungsverfahren gegen die Ditib-Imame, die ja spioniert haben in Deutschland, oder der festgesetzte Agent, Spion des türkischen Geheimdienstes in Hamburg, dass der Prozess gemacht wurde, aber er auf Bewährung freikam beispielsweise.
    Kaess: Wenn Sie da einen Zusammenhang sehen, Frau Dağdelen, welche Belege haben Sie dafür?
    Dağdelen: Ich habe nicht gesagt, dass ich es in Zusammenhang sehe. Ich habe gesagt, dass das im Zusammenhang mit der Steudtner-Freilassung oder auch jetzt Meşale Tolu, dass das schon bemerkenswert war. Ich habe da keinerlei Beweise. Das ist auch schwierig bei Geheimdiplomatie, bei Deals Beweise zu haben von außen. Aber so wie ich die türkische Regierung und den Staatspräsidenten kenne - das sieht man ja -, es soll ja auf Geheiß sozusagen wirklich höchst persönlich dann Peter Steudtner freigelassen worden sein. Man sieht, es ist kein Rechtsstaat. Das ist der Beweis dafür. Aber ich bin natürlich auch jemand, die sagt, auch mit Diktatoren muss man sprechen und auch eventuell Deals eingehen, um deutsche Geiseln freizubekommen. Aber nur dann, wenn wir natürlich unser demokratisches Selbstverständnis beibehalten. Es geht nicht das, was Erdogan fordert beispielsweise, dass die deutschen Gefangenen freigelassen werden, wenn wir in Deutschland anerkannte Asylbewerber aus der Türkei ihm ausliefern. Das geht nicht. Das verstößt auch gegen die europäische Menschenrechtskonvention.
    Prozess wird vermutlich nur noch abgewickelt
    Kaess: Frau Dağdelen, lassen Sie uns auf diese politischen Maßnahmen und Bemühungen gleich noch mal gucken. Ich habe noch eine Frage zu der Freilassung von Meşale Tolu heute. Gibt es für Sie irgendeinen Hinweis auf das weitere Gerichtsverfahren, das ja bei ihr noch nicht abgeschlossen ist? Glauben Sie, dass sie wirklich freikommen wird, einen Freispruch bekommt, oder nach Deutschland ausreisen dürfen wird?
    Dağdelen: Ich denke, es deutet im Moment alles darauf hin, weil die Staatsanwaltschaft selbst ja die Haftentlassung gefordert hat heute, und ich freue mich wirklich sehr für Mesale Tolu und auch ihre Familie, die ich ja kenne, dass sie endlich frei ist und mit ihrem kleinen Sohn außerhalb der Gefängnismauern jetzt spielen kann. Fakt ist aber auch natürlich, dass sie weiterhin in der Türkei festgehalten wird. Es deutet erst mal zunächst darauf hin, dass die Prozessgeschichte nur noch abgewickelt wird.
    Dialog wurde immer geführt - es fehlte der Druck
    Kaess: Dann schauen wir auf diese politischen Maßnahmen und Bemühungen, die es gegeben hat. Ein paar haben Sie schon angesprochen. Ich nenne noch zwei andere: Auf dem EU-Gipfel haben die EU-Staaten beschlossen, das ist schon eine Weile her, dass die Auszahlung der Vorbeitrittshilfen für die Türkei gekürzt werden, und Ende November hat Kanzlerin Merkel mit dem türkischen Präsidenten Erdogan telefoniert und hat sich bemüht, oder beide Seiten haben sich vielleicht bemüht, die Beziehungen wieder zu verbessern. Diese Mischung aus Druck und Dialog, sind das die richtigen Schritte Ihrer Meinung nach?
    Dağdelen: Selbstverständlich! Ich habe der Bundesregierung schon länger gesagt, dass Druck die einzige Sprache ist, was den türkischen Staatspräsidenten beeindruckt und die er auch versteht.
    Kaess: Aber nicht nur Druck, sondern auch Dialog?
    Dağdelen: Ja, der Dialog wurde ja immer geführt, und mehr als Dialog. Waffenverkäufe, Kreditbürgschaften, Kredite, Finanzhilfen, das läuft ja auch teilweise immer noch in hohem Maße. Das wurde ja immer gemacht und insofern hat die andere Seite gefehlt: der Druck. Man sieht aber, dass sogar der kleinste Druck seit dem Sommer 2017 dazu beigetragen hat, dass da eine Bewegung ins Spiel gebracht wurde, und deshalb muss das auf jeden Fall weiter gemacht werden und die Bundesregierung muss selber auch die Konsequenzen aus ihren eigenen Erkenntnissen ziehen, beispielsweise wenn man weiß, die Türkei ist unter Erdogan zu einer Aktionsplattform für den islamistischen Terror geworden. Dann warne ich davor, weiter Rüstungsgüter in die Türkei zu exportieren.
    Journalisten als politische Geiseln
    Kaess: Frau Dağdelen, nun ist es so, dass die Journalisten in türkischen Gefängnissen meistens in Verbindung gebracht werden von türkischer Seite mit Terrororganisationen. Bei Meşale Tolu ist das die linksextreme marxistisch-leninistische Kommunistische Partei gewesen. In der Türkei gilt die als terroristische Vereinigung und in Deutschland wird sie vom Verfassungsschutz beobachtet. Vielen Leuten sagt diese Organisation nichts. Warum ist für Sie so eindeutig, dass Meşale Tolu rein gar nichts vorgeworfen werden kann, das sie tatsächlich in Richtung Terrorunterstützung schieben könnte, interpretieren könnte?
    Dağdelen: Na ja, das weiß man, wenn man sich die Anklageschrift durchliest. Die Anklageschrift gegen Mesale Tolu ist eine Schrift, die anklagt, dass Meşale Tolu als Journalistin zu nicht verbotenen Veranstaltungen oder Versammlungen gegangen ist, um dort zu berichten. Ihr werden ja nur ihre Berichtstexte angelastet. Das ist so, wie wenn man Ihnen die Interviews, die Sie machen, mit irgendwelchen Interviewpartnern anlasten würde und in die Anklageschrift nimmt. Genau das ist ja auch bei Deniz Yücel der Fall. Insofern denke ich schon, dass diese Vorwürfe hanebüchen sind, und nicht nur ich alleine, auch Reporter ohne Grenzen und die Deutsche Journalistenvereinigung und viele andere auch, die die Prozesse aus nächster Nähe beobachten. Deshalb gehe ich auch davon aus, dass diese Menschen, die dort gefangen gehalten werden, als Faustpfand, als politische Geiseln genommen wurden und nicht, weil sie tatsächlich was verbrochen hätten.
    Kein Zeichen für den Weg der Türkei zur Demokratie
    Kaess: Noch ganz kurz Ihre Einschätzung zum Fall Deniz Yücel. Glauben Sie, auch da könnte es jetzt Bewegung geben?
    Dağdelen: Der Wegfall, die Aufhebung der Isolationshaft war ja schon mal ein sehr, sehr großer Schritt, weil man muss wissen, Isolationshaft ist eine andere Form der Folter. Insofern freut es mich sehr für Deniz Yücel, der ja auch die Gesellschaft braucht. Und ich hoffe, dass jetzt die Türkei endlich nach über 300 Tagen Haft die Anklageschrift mal vorlegt. Ich bin mir sicher, auch in der Anklageschrift gegen Deniz Yücel werden wir sehen, dass er letztendlich deshalb angeklagt wird, weil er seine Arbeit als Journalist gemacht hat. Und deshalb darf man jetzt nicht glauben, wenn Deniz Yücel freikommt, dass die Türkei jetzt auf dem Weg zur Demokratie und zum Rechtsstaat ist.
    Kaess: Sagt Sevim Dağdelen. Sie ist Bundestagsabgeordnete der Linken. Frau Dağdelen, ganz herzlichen Dank für das Gespräch.
    Dağdelen: Sehr gerne, Frau Kaess.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.