Ein Parkplatz in Tultitlan, einem nördlichen Vorort von Mexico City. Hier befindet sich einer der größten Santa-Muerte-Schreine Mexikos. Direkt an einer Ausfallstraße steht die 22 Meter hohe schwarze Figur und breitet ihre Arme aus. Auf dem Gelände befinden sich mehrere Schreine mit teils lebensgroßen Figuren der "Knochendame", wie sie im Volksmund genannt wird. Die Santa-Muerte-Figuren sehen aus wie ein weiblicher Schnitter Tod, mit Sense und langem Gewand. Die Menschen bringen Bier und Tequila, Zigaretten, Speiseöl, Äpfel und Süßigkeiten als Opfergaben dar.
An diesem Sonntag sind knapp 150 Gläubige auf den Parkplatz gekommen, überwiegend junge Männer und Frauen mit ihren Kindern, sie beten und essen gemeinsam. Enriqueta Vargas ist die Vorsteherin der Gemeinde. Sie wird liebevoll "Madrina", Patentante, genannt. Santa Muerte hat für sie eine ganz besondere Bedeutung:
"Der Tod ist eine Realität für alle Menschen. Wir werden geboren und wir sterben. Viele Menschen stempeln den Santa-Muerte-Glauben als diabolisch ab, weil sie ihm gegenüber ignorant sind. Dieser Glaube ist Jahrtausende alt, er ist von unseren Vorfahren und es gibt jede Menge Anhänger des Engels des Todes in Mexiko. Wir kehren zu unseren Wurzeln zurück."
Eine dieser Wurzeln liegt in der reichen Tradition des aztekischen Totenkultes, bei dem die Gläubigen die Todesgöttin Mictlancihuatl mit Opfergaben um Hilfe im Diesseits baten. Als die spanischen Eroberer Mexico im frühen 16. Jahrhundert unterwarfen, brachten sie die Darstellung des Schnitter Tod mit. Dass der Tod alle gleich behandelt, macht den Kult heute besonders attraktiv für jene, die sich von der katholischen Kirche an den Rand gedrängt fühlen.
Andrew Chesnut ist Professor für Religionsgeschichte an der Virginia Commonwealth University. Das Versprechen, alle gleich zu behandeln, ist für ihn einer der wichtigsten Gründe für die rasant wachsende Popularität der Santa Muerte.
"Sie ist die Heilige, die nicht diskriminiert. Das stößt in der mexikanischen Gesellschaft auf große Zustimmung, da die Diskrepanz zwischen Arm und Reich in Mexiko wie in ganz Lateinamerika enorm groß ist. Diese unglaubliche Kluft, die es hier gibt, macht die nivellierende Sense, die Santa Muerte schwingt, äußerst reizvoll für alle, die jede Menge Ungerechtigkeit in der Gesellschaft sehen."
Ein weiterer Grund sei, dass viele sich in der zunehmend durch Drogenkrieg und Gewalt beherrschten Gesellschaft Mexikos ohne Schutz fühlten.
"Schätzungsweise 70.000 Tote hat es in den letzten sechs, sieben Jahren des Drogenkrieges gegeben. Die Tatsache, dass viele Gläubige, die besonders in Mexiko so viel Tod und Sterben gesehen haben, sich der Santa Muerte zuwenden und sie bitten, ein paar Körner im Stundenglas des Lebens hinzuzufügen, ist faszinierend: Sie bitten den Tod, ihr Leben zu verlängern."
Der Vatikan hingegen zeigt sich weiter ablehnend gegenüber dem Santa Muerte-Kult. So verurteilte der Präsident der päpstlichen Kulturakademie, Kardinal Gianfranco Ravasi, den Kult bei einem Besuch in Mexico ungewöhnlich scharf. Er spricht von einem "satanischen Drogenkult". Für den Sprecher der mexikanischen Bischofskonferenz Pablo Padrazzi hat die Popularität der Santa Muerte vor allem zwei Ursachen: die Nähe einzelner Mexikaner zu kriminellen Organisationen und die fehlende Bildung.
"Es hat immer eine Anbetung der Santa Muerte gegeben, spätesten seit dem 18. Jahrhundert, besonders unter einigen Ureinwohnern, die nicht gründlich genug evangelisiert wurden. Diese Leute vermischen katholische Glaubensinhalte mit dem Santa-Muerte-Geschäft, weil sie den Unterschied nicht erkennen können. Sie sind nicht gebildet, das macht der katholischen Kirche die meisten Sorgen."
Anders sieht es Religionshistoriker Andrew Chesnut. Er vermutet hinter der Ablehnung Roms die Angst, die Gläubigen könnten ganz zu Santa Muerte abwandern:
"Es gibt einen wachsenden religiösen Pluralismus in Mexiko und ganz Lateinamerika. Und die Tatsache, dass diese angeblich häretische Todesheilige nun schon um die 10 Millionen Anhänger hat, macht der römisch-katholischen Kirche richtige Sorgen, zumal sie in den letzten 40-50 Jahren viele Mitglieder besonders an die amerikanische Pfingstkirchen verloren hat."
Enriqueta Vargas, die Patronin des Santa Muerte Schreines in Tultitlan, lächelt über den Streit. Die katholische Kirche müsse erst noch begreifen, dass in Mexiko Religionsfreiheit herrsche, sagt sie. Außerdem gebe es ebenso viele Drogendealer mit dem tätowierten Abbild der Jungfrau von Guadelupe wie der Santa Muerte. Die Drogenkriminalität sei ein großes Problem für ganz Mexiko.
"Es wurde viel über Priester, die Kinder missbrauchen, berichtet. Das ist auch nicht richtig. Es gibt schlechte Priester und es gibt gute Priester. In Gottes Weinberg kann man alles finden. Bei der Santa Muerte gibt es keinen, der behauptet, etwas zu sein, was er nicht ist. Wie viele Menschen gehen in die Kirche, bekreuzigen sich, schlagen sich auf die Brust und behaupten gut zu sein?"